200 Jahre Hänneschen-Theater
Welches Stadttheater in Deutschland ist das finanziell erfolgreichste? Wer jetzt auf ein hehres Staatstheater tippt oder auf eine Boulevardbühne mit berühmten Komödianten, liegt falsch. Es sind die Kölner Puppenspiele am Eisenmarkt. Und obwohl ihre Helden ein Herz aus Holz haben, ist ihre Anziehungskraft so groß, dass man Karten für die Abendvorstellungen im Hänneschen-Theater lange voraus bestellen muss.
Märchenhafter Beginn. Begonnen hat die Erfolgsgeschichte der Kölner Stockpuppen wie im Märchen. Es war einmal ein armer Schneidergeselle aus Bonn, den sein Handwerk nicht ernähren konnte. Er verdingte sich als Anstreicher, doch die waren nur im Sommer gefragt. Was also tun in der kalten Jahreszeit? In seinen Wanderjahren hatte er mit Puppentheatern Bekanntschaft gemacht, und so suchte er sich nun im Winter mit Krippenspielen in der nahen Domstadt über Wasser zu halten. Man schrieb das Jahr 1802.
Überlieferte Dokumente belegen, wie der Puppenspieler Christoph Winters immer wieder beim Kölner Magistrat um Erlaubnis für seine Aufführungen ersuchte: Unterzeichneter, wohnhaft auf Gereonsstraß N. 3620, schrieb er an den Bürgermeister, Tagelöhner seiner Professions, hat die Ehre, Sie hiermit zu ersuchen, ihm die Erlaubnis zu erteilen, in der Ritterzunft ein so genanntes Krippenspiel für kleine Kinder anzustellen. Die Erlaubnis wurde ihm jeweils nur befristet ausgestellt, so dass Christoph Winters sich stets befleißigte, auf die gesittete Art seiner Aufführungen hinzuweisen, in der die Jugend gar keine Anfechtung zur Liederlichkeit bekäme. Vielmehr ginge es bei ihm im Theater so still zu, als wäre man in einer Kirche.
Fromm oder frech. Solche Versicherungen waren nicht grundlos, denn die damals bekannten Kölner Puppenbühnen waren für ihre frechen Mundartsprüche bekannt, mit der sie aktuelles Geschehen persiflierten, gemäß dem Motto, dass sich auch Winters Puppentheater zu Eigen machen sollte: Wat morjens passeet, kütt ovends op de Tapeet. Fromm oder frech, die Wintersche Puppenbühne etablierte sich, und ihre Hauptfigur, das Hännesche, durfte auch beim ersten offiziellen Kölner Karnevalszug im Jahr 1823 nicht fehlen.
1862 starb der Hänneschen-Gründer. Peter Josef Klotz, der Ehemann einer Enkelin, übernahm das Puppentheater. Doch noch im selben Jahr starb auch er, und seine Witwe, eine geborene Königsfeld, führte fortan an wechselnden Spielorten in der Stadt die Puppenspiele weiter.
Ungewisses Schicksal. Bis 1919 leiteten Nachkommen der Familien Königsfeld und Klotz das Hänneschen-Theater, bis die letzte Repräsentantin der Winterschen Familientradition verschied und Hänneschen einem ungewissen Schicksal entgegen ging. Rettung nahte vom Kölnischen Geschichtsverein und vom Heimatverein Alt Köln, die sich für eine Übernahme der Puppenbühne durch die Stadt Köln einsetzten. Am 9. Oktober 1926 war es dann so weit: Die Puppenspiele der Stadt Köln öffneten ihre Pforten, Hänneschen war wieder da. Bis 1936 wurde jeden Tag im Jahr – ausgenommen die hohen kirchlichen Feiertage – gespielt, erst dann wurde für die Puppenspieler die Sechs-Tage-Woche eingeführt. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Mitarbeiter des Hänneschen-Theaters zerstreut, doch allmählich fanden Figurenschnitzer, Spielleiter, Musiker und Akteure wieder zusammen. Am 7. September 1948 nahm das Hänneschen-Theater übergangsweise im Hörsaal 1 der Universität den Spielbetrieb wieder auf. 1951 konnte das Hänneschen an seinen angestammten Platz am Eisenmarkt in der Kölner Altstadt zurück, wo es heute noch zuhause ist und nahezu rund ums Jahr von mittwochs bis sonntags zweimal täglich sein Publikum erfreut. Seit 15 Jahren Abend für Abend vor einem ausverkauftem Haus.
Ritual der hölzernen Helden. Rund 330 Vorstellungen gibt das Puppentheater im Jahr und jede beginnt mit dem gleichen Ritual, das nur bedingt dem des Kasperle-Theaters ähnelt. Hänneschen erscheint vor dem Vorhang: Tag zesamme; sid ehr all do? Dann künne mer jo anfange. Hänneschen kündigt das aktuelle Programm - zum Weinen und Lachen, mit Gesang und Klopperei – an, danach folgt ein Wechselspiel zwischen dem hölzernen Helden und dem Publikum, bei dem Ortsfremde nicht mithalten können. Am Engk vun der Vörstellung, fährt Hänneschen fort, dürft Ehr nit verjesse, öntlich en de Häng zo klätsche. Denn der Applaus eß dem Hännesche su vill wie et Salz en d’r ...? Wer jetzt an Suppe denkt und laut Zupp! ruft, hat sich als Gelegenheitsbesucher enttarnt. Die Sauce ist gemeint, schon korrigiert Hänneschen: Nä. Zaus! Das Ganze wird noch mal geübt, und wenn das Publikum jetzt lautstark reagiert, bekommt es Lob. Jo, die Zaus wor jot. Ohne Salz schmeckt kein Zupp. Dröm dun mer noch jet Salz dobei, domet et däm Hännesche immer jot...? – flupp, wissen die Zuschauer. Un jetzt noch eine Augenbleck Jedold; mer jevven der Katz noch e beßje....? – Heu, ruft das Publikum. Hänneschen ist zufrieden: Un jetz fange mer an. Holeeeh! Warum die Katze ausgerechnet Heu braucht, wird wohl so lange ein Geheimnis bleiben, bis ein Volkskundler sich dieses Themas rheinisch-wissenschaftlich annimmt...
Kölscher Romeo. Jedenfalls bewirken diese Präliminarien stets, dass die Zuschauer wachgerüttelt und in das Spiel hineingezogen werden. Und dann tritt sie auf, die merkwürdige und urkomische Familie Knoll aus dem fiktiven rheinischen Nest Knollendorf, das unverkennbar im Schatten der Domtürme liegt. Hans Knoll, genannt Hänneschen, ist der positive Held: Mal pfiffiger Knabe und Bruder der weiblichen Hauptfigur Bärbelchen, mal ein kölscher Romeo für die blondbezopfte Maid, je nachdem ob es sich um ein Stück für Kinder oder für Erwachsene handelt. Hans ist ebenso begabt mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit wie für Jux und Dollerei. Seine schwarze Kniebundhose und seine rotweiße Zipfelmütze kennzeichnen seine bäuerliche Herkunft.
Die bewegliche Kopfbedeckung hat – da den aus Lindenholz geschnitzten Puppengesichtern die Mimik fehlt und Stockpuppen nur eine begrenzte Gestik haben – den Effekt, den quirligen Charakter der Hauptfigur zu unterstreichen. Ganz ähnlich ist die Wirkung von Bärbelchens lustigen Zöpfen. Ihr kesses Mundwerk charakterisiert sie überdies als aufgeweckte, emanzipierte Rheinländerin, die nur eine Schwäche hat: das Hänneschen.
Derb und weichherzig. Zum zwölfköpfigen Stammpersonal der Puppenschar gehören auch die Großeltern: Nikolaus Knoll, Besteva genannt, ein gutmütiger Pantoffelheld, und seine Frau, die Bestemo, vom Typ raue Schale, weicher Kern. Und natürlich die Kölner Witzfiguren Tünnes und Schäl. Der Erste bäurisch-derb, mit roten Haaren und geröteter Nase, die seine Vorliebe für alkoholische Getränke verrät, der Zweite städtisch herausgeputzt, mit seiner Halbbildung prahlend und ständig beim Versuch, seine Mitmenschen übers 0hr zu hauen. Dann sind da unter anderem noch der Polizist Schnäuzerkowski, der Kneipier Mählwurms Pitter und der Nachbar Hermann, wegen seiner feuchten Aussprache Speimanes genannt.
Kunst des Puppenspiels. Das Faszinierende an diesem nach 200 Jahren immer noch springlebendigen Theater ist, wie die Puppenspieler es schaffen, trotz der begrenzten Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten der Stockpuppen die Zuschauer in ihren Bann zu ziehen. Das ist nicht nur eine schauspielerische, sondern auch eine körperliche Leistung. Bis zu vier Kilogramm schwer sind die Figuren, die aus einem hölzernen Körper mit beweglichen Armen und Beinen bestehen und auf einer Führungsstange stecken; mit einer zweiten Stange wird der Arm bewegt. Die Puppenspieler hinter der Britz, der 1,80 Meter hohen Trennwand, haben es in der Hand, den Figuren Leben einzuhauchen, dass man sogar glaubt, sie lachen oder weinen zu sehen. Springt Hänneschen durch Knollendorf, tut das versteckt hinter der Wand auch der Puppenspieler, und wenn sich zwei Figuren rangeln und raufen, stehen auch die Spieler nicht still. Kein Wunder, dass es rund fünf Jahre dauert, bis einer die Kunst der Puppenführung beherrscht. Und wenn zum Beispiel im Stück um Jacques Offenbach der hölzerne Dirigent auf der Bühne auftritt – selbstverständlich mit zwei beweglichen Armen ausstaffiert – dann verlangt das höchste Kunstfertigkeit von den Puppenspielern.
Allround-Talente. Doch nicht nur munteres Agieren, kraftvolle Geschicklichkeit, Musikalität und eine tragende Stimme zur tragenden Rolle sind gefragt, sondern auch Schlagfertigkeit im Dialog mit dem Publikum. Daneben nutzen die Puppenspieler am Hänneschen-Theater noch ihre anderen Begabungen – schneidern Kostüme, schminken die hölzernen Helden, bügeln Puppenwäsche, entwerfen Bühnenbilder, setzen die Akteure ins rechte Licht und machen Musik. Insgesamt sind mit Spielleiter Heribert Malchers rund 30 Mitarbeiter im Einsatz: hinter der Bühne, in Technik und Verwaltung, an der Kasse und im Foyer.
Was Köln bewegt. Von den vielen heimatlosen Kasperle-Theatern unterscheidet sich die heitere Kölner Puppenbühne vor allem durch die Tatsache, dass man in Knollendorf lupenreines Kölsch spricht. Anders als die Kasperle-Theater ist das Hänneschen ja auch keine reine Kinderbühne. Unter den 250 Stücken, die seit den 20-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden sind, wurden viele für Erwachsene geschrieben. Sie beschäftigen sich mit Ereignissen und Problemen der Zeit: Da kann es etwa um die Oberbürgermeisterwahl oder den Abstieg des 1. FC Köln gehen, und Wiederaufführungen sind dementsprechend selten. Auch die Tatsache, dass die stets innerhalb weniger Stunden ausverkauften Puppen-Karnevalssitzungen, die humorvoll die Mentalität der Bürger und die aktuellen Ereignisse spiegeln, so fest im Kölner Veranstaltungsreigen verankert sind, zeigt die enge Bindung der Bühne an das Leben der Domstadt.
Das Hänneschen-Theater ist fürwahr ein Phänomen. Es begleitet die Kölner durch ihr ganzes Leben, vom Kindergartenalter bis zum Lebensabend im Seniorenheim. Seit 200 Jahren erfreuen sich seine Helden ungebrochener Beliebtheit. Ihr Herz aus Holz - dem Publikum scheint es aus Gold.
Informationen: Kölner Hänneschen-Theater, Eisenmarkt 2-4, 50667 Köln, Tel. 0221/2581202. Internet: www.haennesche.de .
Aktuelles Programm: Für Kinder wird bis 3. November das Stück 1802 - Wie et Poppespiel noh Kölle kom Mittwoch bis Samstag um 16 Uhr, sonntags um 14.30 Uhr gespielt, für Erwachsene Sidder all do? Eja zick 200 Johr Mittwoch bis Samstag um 19.30 und Sonntag um 17 Uhr.
Literatur: Hinger d’r Britz – Das Kölner Hänneschen Theater von Stefan Volberg und Hansherbert Wirtz, herausgegeben vom Förderverein der Freunde des Kölner Hänneschen-Theater e.V., Vertrieb Buchhaus Gonski, Köln. Mieh Hätz wie Holz von Frauke Kemmerling und Monika Salchert, Emons Verlag Köln.