500 Jahre evangelisches Gesangbuch
Vor 500 Jahren, in einer Zeit der religiösen Umwälzungen und gesellschaftlichen Umbrüche, begann eine musikalische Revolution, die das Christentum nachhaltig prägen sollte: die Entstehung des evangelischen Gesangbuchs.
Die Entstehung des evangelischen Gesangbuchs ist untrennbar mit der Reformation und Martin Luther verbunden. Luther, selbst ein begabter Musiker, erkannte die Bedeutung der Musik für die Verkündigung des Evangeliums. Er wollte, dass die Gläubigen nicht nur passive Zuhörer in der Kirche bleiben, sondern aktiv am Gottesdienst teilnehmen. Durch das Singen sollen die Menschen die Glaubensinhalte nicht nur intellektuell, sondern auch emotional und spirituell erfassen können.
Luthers „Achtliederbuch“, erschienen im Jahr 1524, das als eines der ersten evangelischen Gesangbücher gilt und den 500. Geburtstag des evangelischen Gesangbuchs markiert, enthielt acht Lieder. Vier davon wurden von Luther selbst verfasst, darunter die Nachdichtung des 130. Psalms „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“.
Luther machte die Melodien einfach und eingängig, damit die Gläubigen – auch ohne musikalische Ausbildung – mitsingen konnten. Dies stellte einen revolutionären Bruch mit der katholischen Tradition dar, wo die Musik hauptsächlich von ausgebildeten Chören gesungen wurde.
Begleiter im Alltag und Glauben
Das evangelische Gesangbuch war aber nicht nur ein Hilfsmittel für den Gottesdienst, sondern auch ein geistliches Begleitwerk für den Alltag. Über die Jahrhunderte hinweg wurde das Singen von Chorälen zu einem wichtigen Bestandteil des evangelischen Gemeindelebens. In den protestantischen Haushalten fanden sich oft Gesangbücher, die nicht nur in der Kirche, sondern auch zuhause genutzt wurden – zum Beispiel bei Andachten oder Familienfeiern.
Gesangbücher boten eine Vielfalt an theologischen Themen, die in den Liedern verarbeitet wurden. Neben Lobpreis und Dank spielten Themen wie Leiden, Trost und Hoffnung eine wichtige Rolle. Besonders in Zeiten von Krieg, Not und Krisen boten die Lieder den Menschen Halt und Orientierung. Das gemeinsame Singen stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl und war Ausdruck des Glaubens, der die Gemeinschaft miteinander verband.
Mit der Zeit wurden die Gesangbücher immer umfassender und enthielten neben Liedern auch Gebete und Texte für verschiedene Anlässe des Kirchenjahres. Sie wurden ein integraler Bestandteil der Liturgie und des persönlichen Glaubenslebens. Die Einführung von Noten in späteren Ausgaben erleichterte es den Gemeinden zusätzlich, die Lieder harmonisch zu singen.
Im Wandel der Zeit
Im Laufe der Jahrhunderte wurde das evangelische Gesangbuch mehrmals überarbeitet und den sich wandelnden Bedürfnissen der Gemeinden angepasst. Der Kieler Theologieprofessor Johannes Schilling spricht von zwischen 7.000 bis 8.000 evangelischen Gesangbuch-Ausgaben. Diese große Zahl hat ihren Grund dabei allerdings nicht nur in der musiklischen Kreativität, sondern auch in der jahrhundertelangen deutschen Kleinstaaterei.
Vor allem im 19. und 20. Jahrhundert fand eine intensive Diskussion über die Liedauswahl und die Funktion des Gesangbuchs statt. Der Wunsch nach einer größeren Vielfalt und der Integration von modernen Liedern führte dazu, dass neue Ausgaben mit einer größeren Bandbreite an Texten und Melodien herausgegeben wurden. Besonders in der Nachkriegszeit und mit der kirchlichen Erneuerungsbewegung in den 1960er Jahren entstanden viele neue geistliche Lieder, die den Zeitgeist widerspiegelten. Der evangelische Kirchentag und andere kirchliche Großveranstaltungen trugen dazu bei, diese Lieder populär zu machen. Gleichzeitig wurden traditionelle Choräle immer wieder neu interpretiert und auch musikalisch modernisiert. Das Gesangbuch wurde so zu einem lebendigen Ausdruck der zeitgenössischen Spiritualität, das alte und neue Lieder in sich vereinte.
Die aktuelle Ausgabe des Evangelischen Gesangbuchs (EG), das ab 1993 in Deutschland, Österreich und der Schweiz eingeführt wurde, enthält rund 500 Lieder (zuzüglich unterschiedlicher Regionalteile), von denen etwa die Hälfte aus der Zeit der Reformation stammt. Dazu kommen moderne Lieder und Texte, die besonders nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Diese Mischung aus Tradition und Moderne spiegelt die Vielfalt der evangelischen Kirchenlandschaft wider.
Mit App in die Zukunft
500 Jahre nach seiner Entstehung ist das Evangelische Gesangbuch mehr als ein bloßes Relikt aus vergangenen Zeiten. Es ist ein lebendiges Zeugnis für die Kraft des gemeinsamen Singens und ein wichtiger Bestandteil der evangelischen Glaubenspraxis.
Die Zukunft des evangelischen Gesangbuchs wird sich weiterentwickeln: 2017 wurde eine Neuausgabe beschlossen, die voraussichtlich im Jahr 2028 erscheinen wird. Eine Gesangbuchkommission sammelte in den letzten Jahren rund 10.000 Lieder, die in die engere Wahl kamen. Auch das neue Gesangbuch wird wieder etwa 500 Lieder umfassen, wobei die einzelnen Landeskirchen den Stammteil um Anhänge erweitern. Eine erste Erprobung soll ab Herbst 2025 bis Ostern 2026 stattfinden. Neu wird sein, dass die Gesangbuchkommission in einer Internetdatenbank weitere 2.000 Lieder zur Verfügung stellt, die für Liedblätter genutzt oder mittels Projektors an die Wand projiziert werden können. Eine Gesangbuch-App wird das Angebot komplettieren. Diese wird die Lieder auf Wunsch vorspielen oder in andere Tonarten transponieren. Die lebendige Geschichte des Singens geht weiter!