75 Jahre Grundgesetz: Neuanfang nach der NS-Diktatur

27. Mai 2024 | von

Im Mai feiert das deutsche Grundgesetz Geburtstag: Es wird 75 Jahre alt. Der ursprünglich provisorische Charakter ist längt verschwunden. Das Grundgesetz hat sich als Verfassung der Bundesrepublik bewährt.

Am 23. Mai 1949 ist es endlich so weit. Konrad Adenauer leitet mit folgenden Worten die Unterzeichnung des Grundgesetzes ein: „Wer die Jahre seit 1933 bewusst erlebt hat, wer den völligen Zusammenbruch im Jahre 1945 mitgemacht hat, wer erlebt hat, wie die ganze staatliche Gewalt seit 1945 von den Alliierten übernommen worden ist, der denkt bewegten Herzens daran, dass heute, mit dem Ablauf dieses Tages, das neue Deutschland entsteht.“ 61 Vertreter und 4 Vertreterinnen des Parlamentarischen Rats dürfen ihre Unterschrift unter einen Text setzen, den sie selber in den vergangenen Monaten erarbeitet und debattiert hatten und der den Titel „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ trägt.

Auf dem Weg zum Grundgesetz
Die Initiative für die Erarbeitung einer Verfassung war von den drei westlichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich ausgegangen. Im Frühjahr 1948 hatten die drei westlichen Besatzungsmächte in London eine Konferenz abgehalten, zu denen sie die drei direkten Nachbarn Deutschlands im Westen – Niederlande, Belgien und Luxemburg – eingeladen hatten. Thema war die politische Neuordnung im besetzten Deutschland. Wegen des begonnenen Kalten Krieges war die Sowjetunion nicht eingeladen worden.
Die drei Militärgouverneure überreichten am 1. Juli 1948 den Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder die „Frankfurter Dokumente“. Mit diesen wurden sie aufgefordert, eine Versammlung einzuberufen, die eine Verfassung ausarbeiten sollte. Inhaltliche Vorgaben wurden nur wenige gemacht: Garantie der Grundrechte, ein demokratischer und föderaler Staatsaufbau. Die Ministerpräsidenten reagierten zurückhaltend, denn sie wollten nichts unternehmen, was auf eine deutsche Teilung hinauslaufen würde. Die westdeutschen Landtage wählten dann einen Parlamentarischen Rat, der ab dem 1. September 1948 das neue Grundgesetz erarbeiten sollte.
Zur Vorbereitung wurde im August 1948 auf Herrenchiemsee ein Verfassungskonvent organisiert. Dort trafen sich Verfassungsexperten aus den verschiedenen deutschen Ländern und leisteten mit dem „Chiemseer Entwurf“ Vorarbeiten für die beginnenden Debatten im Parlamentarischen Rat. Die SPD und CDU/CSU entsandten dorthin jeweils 27 Mitglieder, die FDP fünf, Zentrum, Deutsche Partei (DP) und KPD jeweils zwei Abgeordnete. Neben 61 Herren sind es vier Frauen: Helene Wessel (Zentrum), Helene Weber (CDU), Friederike Nadig und Elisabeth Selbert (beide SPD). Vor allem Elisabeth Selbert ist es zu verdanken, dass in Artikel 3, Absatz 2 der schlichte, aber damals geradezu revolutionäre Satz steht: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“

Aus der Geschichte lernen
Das Grundgesetz beginnt mit einem monumentalen Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Art. 1) Der Satz greift zurück auf eine Formulierung der Frankfurter Paulskirchen-Verfassung von 1849: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“, ist jedoch ebenso ein moralischer Appell des „Nie wieder!“ gegen die millionenfache Verletzung menschlicher Würde durch die Nationalsozialisten. Durch Art. 79, Absatz 3, die sogenannte „Ewigkeitsklausel“, wird festgelegt, dass die Grundrechte (Art. 1-19) nicht verändert werden dürfen.
Durch die alliierten Westmächte war festgelegt worden, dass ein föderaler Bundesstaat entstehen sollte. Die Artikel 20 bis 37 versuchen, das Verhältnis von Bund und Ländern auszutarieren. Neben dem Bundestag wird der Bundesrat, die Vertretung der Länderregierungen, als zweites gesetzgebendes Organ etabliert.
Aufgrund der Erfahrungen der Weimarer Zeit wird vor allem die Stellung des Bundespräsidenten auf repräsentative Aufgaben reduziert. Er wird nicht mehr vom Volk, sondern von der Bundesversammlung gewählt. Während also die politische Stellung des Bundespräsidenten zurückgesetzt wird, gewinnt das Amt des Bundeskanzlers an Gewicht. Seine Stellung wird gestützt durch die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums: Eine Abwahl durch den Bundestag ist nur dann zulässig, wenn zugleich ein neuer Kanzler gewählt wird. Abgeschafft werden gegenüber der Weimarer Verfassung auch Elemente der direkten Demokratie wie Volksbegehren.
Das Verhältnis des neuen Staates zu den Religionsgemeinschaften war kein großes Thema in den Beratungen des Parlamentarischen Rates. In Artikel 140 des Grundgesetzes werden die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Verfassung von 1919 schlicht übernommen.

Entwicklungen im Lauf der Zeit
Durch eine Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat kann das Grundgesetz geändert werden. In 67 Gesetzen haben Bundestag und Bundesrat seit 1949 das Grundgesetz modifiziert und ergänzt. Die gewichtigsten Eingriffe waren die Einschränkungen des Grundrechts auf Asyl (Art. 16a) von 1993 und die Einschränkung der Unverletzlichkeit der Wohnung mit dem sogenannten großen Lauschangriff (Art. 13 Abs. 3 bis 6) von 1998. Auch die Grundrechtseinschränkungen während der Corona-Pandemie werden rückblickend kritisch gesehen.
Seit der deutschen Einigung am 3. Oktober 1990 ist der Wunsch der Mütter und Väter des Grundgesetzes Wirklichkeit geworden: „Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“ (Neufassung der Präambel des Grundgesetzes)

Zuletzt aktualisiert: 27. Mai 2024
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