800 Jahre Franziskaner in Deutschland
Seit acht Jahrhunderten gibt es franziskanisches Leben in Deutschland. Das Jubiläumsjahr begleiten wir mit einer Artikelserie. Den Anfang macht Bernd Schmies, Geschäftsführer der „Fachstelle Franziskanische Forschung“ in Münster. Er stellt sich der Frage, warum wir überhaupt Jubiläen feiern sollten.
Schon wieder ein Jubiläum! Kein Jahr, ja nicht einmal ein Monat vergeht, ohne dass wir ein Jubiläum oder einen Gedenktag begehen. Einige Radiosender bringen sogar täglich Sendungen, in denen sie an mehr oder weniger wichtige Ereignisse unserer Geschichte erinnern, die sich heute vor genau 10, 50, 100 oder gar 1.000 Jahren ereignet haben. Die Erinnerung an Personen und Ereignisse der Vergangenheit unserer nationalen, immer häufiger auch internationalen Geschichte begleitet uns mit öffentlichen Gedenkveranstaltungen und Sonderausstellungen, vor allem aber via Internet, Fernsehen, Zeitschriften, Büchern und nicht zuletzt auf Briefmarken. Da stehen auch die Kirchen nicht abseits: 50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil (2012/15) oder 500 Jahre Reformation (2017) wurden beispielsweise noch jüngst groß gefeiert. Ja, auch die Franziskanische Ordensfamilie nimmt sich dabei nicht aus. Um nur die Highlights aufzuzählen: 800 Jahre Franziskanerorden (2009), 800 Jahre Klarissenorden (2011), 800 Jahre Begegnung des heiligen Franziskus mit dem Sultan von Ägypten (2019), 800 Jahre seit des Eintritts des heiligen Antonius in den Franziskanerorden (2020). Und nun also 2021: 800 Jahre Franziskaner in Deutschland. Gleichzeitig erinnern weltweit Franziskaner, Franziskaner-Minoriten und Kapuziner an ihre erste schriftlich überlieferte Ordensregel, die als „Nicht-bullierte-Regel“ vor ebenfalls 800 Jahren verfasst wurde.
Aufmerksamkeit und Erinnerung
Fraglos haben Jahrestage Konjunktur. Doch welche Absichten verfolgen die so verschiedenen Institutionen und Initiativen, wenn sie uns auf ein geschichtliches Ereignis, meist verbunden mit viel Aufwand an Zeit und Geld, aufmerksam machen wollen? Genau darum geht es zunächst einmal. Jubiläen sollen Aufmerksamkeit erzeugen. Das ist in unserer mediendominierten und konsumgeprägten Welt kein leichtes Unterfangen. Zumal, wenn etwas präsentiert werden soll, das selbst nicht mehr verfügbar ist, weil es in der Vergangenheit liegt.
Und doch funktioniert es und darum lohnt es sich, auch für Kirchen und Orden, die wie keine anderen Einrichtungen unserer Gesellschaft über eine immense Erfahrung in diesen Dingen verfügen. Schließlich findet sich die Idee, Jubiläen zu feiern und Gedenktage zu begehen, in den biblischen Religionen seit frühester Zeit. Aus dem „Jobeljahr“ im 3. Buch Mose (Lev 25, 12) leitet sich unser Wort „Jubiläum“ ab, und in der Eucharistiefeier werden wir aufgefordert: „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ (Lk 22,19) In den Klöstern ist es noch heute üblich, täglich in der Gemeinschaft an die verstorbenen Mitbrüder oder Mitschwestern zu erinnern. Kurz gesagt, das Erinnern ist ein wesentliches Element christlichen Lebens. Über das wiederkehrende gemeinschaftliche Erinnern findet der Einzelne, aber auch die Gemeinschaft Selbstvergewisserung, kann Erinnerung zur identitätsstiftenden Kraft werden. Dieser Anspruch bezieht sich keineswegs nur auf rituelle und liturgische Formen des Erinnerns, sondern eben auch durch offene Formen wie Jubiläums- und Gedenktage, allerdings nicht voraussetzungslos. Denn Erinnerung bedarf eines Geschichtsbewusstseins des Einzelnen sowie einer Geschichtskultur der Gemeinschaft. Ansonsten gilt der Satz: Woran wir uns nicht erinnern, das hat nicht stattgefunden. Insofern braucht es unbedingt ein Wissen um die Vergangenheit, schon allein deswegen, um die eigene Gegenwart zu verstehen und schließlich auch, um Zukunftsperspektiven zu gewinnen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind verschränkt und stehen in einem wechselseitigen Verhältnis, das immer wieder neu austariert werden muss. Jede Generation stellt ihre eigenen Fragen an die Geschichte, da sie eigene Orientierungsprobleme in der Gegenwart und andere Erwartungen an die Zukunft hat. So ist das historische Zusammentreffen von Franziskus mit dem muslimischen Sultan vor 800 Jahren, an das die franziskanischen Orden, insbesondere aber auch Papst Franziskus 2019 erinnerten, ein Jubiläum, das noch 50 Jahre vorher kaum in dieser Art und Weise begangen worden wäre. Die Episode aus dem Leben des Franziskus war den Ordensbrüdern durchaus bekannt. Sie wurde in Bildern über die Jahrhunderte immer wieder festgehalten. Dennoch war es den franziskanischen Orden bislang kein Anliegen, die Geschichte einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Vergewisserung der Anfänge
Jubiläen sind an Zahlen geknüpft: Wir zählen 800 Jahre Franziskaner in Deutschland. Ein für unser aller Erinnerungsvermögen unvorstellbarer Zeitraum. Doch ist es kein Zufall, dass in dem Verb „zählen“ auch das Verb „erzählen“ steckt. Jedenfalls forderten die Brüder, die 1262 zu ihrem Provinzkapitel in Halberstadt versammelt waren, Jordan von Giano, der zu den ersten Brüdern gehörte, die 1221 über die Alpen gezogen waren, auf, über die Anfänge der Gemeinschaft zu erzählen. Und Bruder Balduin schrieb Jordans Bericht auf. Seitdem sind die Brüder stets in der Lage, sich selbst ihrer Anfänge zu vergewissern und gleichzeitig den Menschen ihre Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die sich auch heute fortschreibt mit einer Botschaft, die sich vorbehaltlos an alle Menschen richtet. 2021 nehmen sich die Brüder die Zeit dazu, denn „Jahrestage sind Denkmäler in der Zeit“ (Aleida Assmann).