Alles war Gnade
Seit 40 Jahren schreibt Pater Anselm Kraus für den Sendboten und er gehört zu dem Mitarbeiterkern, der die eigenständige deutsche Ausgabe des „Messaggero di sant’Antonio" aus der Taufe gehoben hat. Vor wenigen Monaten, am 22. Mai, feierte er seinen 70. Geburtstag und hielt eine bewegende Dankansprache. Wir veröffentlichen davon den Teil, in dem er ein beeindruckendes Bild seiner Familie entwirft.
Heute, an meinem Geburtstag, möchte ich unserem Herrn und Gott ein großes „Deo gratias" sagen. Ja, ich habe viel Grund, Gott und Menschen zu danken. Ist nicht unser ganzes Leben verdankt? Ich sehe Gottes Führung hinter dem Leben meiner Vorfahren und meinem eigenen. Es ist wirklich eine Heilsgeschichte
Mein Opa
Ich denke zuerst an meinen Großvater väterlicherseits in Hendungen (Ortschaft in Unterfranken, an der Grenze zu Thüringen gelegen, Anm. d. Red.), der in meiner Kindheit eine ganz wichtige Rolle gespielt hat. Ich schlief mit ihm in einem Zimmer, am Abend ließ er mich an seinem Nachtgebet teilnehmen und am Nachmittag nach der Schule nahm er mich immer mit aufs Feld und in den Wald. Ursprünglich war er Bauer. Offensichtlich wurde sein Hof immer mehr bei einem jüdischen Viehhändler verschuldet, und eines Tages nahm man ihm Haus und Hof ab. Ein fürchterliches Schicksal für ihn. Er hatte im Jahr 1895 in Hendungen geheiratet. Mit seiner Frau hatte er zehn Kinder. Mein Vater war der Jüngste.
Als er zwei Jahre alt war, starb 1911 seine Mutter im Alter von 38 Jahren und Opa stand mit seinen zehn Kindern alleine da. Opa erzählte öfter, wie der Pfarrer von Hendungen ihn zu trösten suchte mit dem Hinweis auf seine älteste, 15-jährige, tüchtige Tochter. Nach etwa einem halben Jahr trat die in einen rostigen Nagel und starb an Blutvergiftung. Nach dem Verlust von Haus und Hof musste Opa in eine Fabrik nach Schweinfurt, um zu arbeiten. Er hatte immerhin fast 60 Kilometer Weg. Nur von Samstag auf Sonntag kam er nach Hause zu seinen Kindern. Obwohl die Kinder alleine waren und, wie Papa oft erzählte, manchmal nichts zu essen hatten, sind alle tüchtige Männer und Frauen geworden, die Familien gründeten und Häuser bauten. Als Opa aus Altersgründen seine Arbeit in Schweinfurt abgeschlossen hatte, wurde er in Hendungen Waldaufseher und Flurschütz. Obwohl er ein so hartes Leben hatte und manchen schweren Schicksalsschlag hinnehmen musste, war er nicht verbittert, sondern vorwärtsschauend, anpackend und fromm.
Mein Papa
Kaum war Papa in der Volksschule, entdeckte man, dass er fast blind war. Das wirft ein Licht auf die katastrophalen Verhältnisse, in denen diese Kinder aufwuchsen. Er kam dann in die Blindenanstalt nach Würzburg, wo er die Schule besuchte und später Korb- und Bürstenmacher lernte. Nach seiner Lehre und Gesellenprüfung kehrte er nach Hendungen zurück und machte sich selbständig.
Mama und Papa heirateten 1934. Meine Mutter hat also einen blinden Mann geheiratet. Das war sicher große Liebe. Zuerst kamen meine Schwestern Ida und Margot zur Welt, und 1939 kam ich als drittes Kind und erster Sohn, auf den Namen Manfred getauft. Später folgten noch Ferdinand, Alois und Ursel.
Papa war sehr kommunikativ, ein gern gesuchter Gesprächspartner, Zuhörer und Unterhalter. Er spielte vorzüglich Gitarre und hatte eine gute Stimme. Immer wieder kamen Leute und setzten sich zu ihm in die Werkstatt. Dabei flocht er seine Körbe. Später habe ich oft gedacht: Er ist wie ein Beichtvater und geistlicher Begleiter. Gelegentlich hörte er auch Bücher aus der Blindenbibliothek. Papa ging 1992 nach nur wenigen Tagen Krankheit heim zum Herrn. Ich war damals in Südafrika. Er wartete geradezu auf meine Rückkehr und starb zwei Tage, nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten.
Meine mama
Mama stammt aus dem Dorf Wolfmannshausen in Südthüringen. Sie ging nach der Schule in Stellung bei einer Lehrerfamilie. Sie hat dort viel gelernt. Sie war eine gute Köchin, Bäckerin und Hausfrau mit Stil. Mama konnte zwar auch skeptisch sein, aber im Letzten prägte sie ein tiefes Gottvertrauen.
Mir ist einer ihrer Sätze ins Herz gefallen, und er prägt mich bis heute: „Der liebe Gott wird schon wieder sorgen." Mama war trotz der vielen Arbeit, die sie hatte (im Haus, mit uns Kindern, in der Landwirtschaft, mit Papa in der Werkstatt) sehr zufrieden, geduldig und angesichts ihrer schwachen Gesundheit über Jahrzehnte von Gott gehalten und getragen. Sie starb 1998, nachdem sie mich einige Minuten vorher noch sehr bewusst umarmt und herzlich gedrückt hatte.
Kleine Leute, große Herzen
Meine Eltern bauten sich wieder eine kleine Landwirtschaft auf, die Opa, Mama und wir älteren Geschwister bewirtschafteten. Wir waren kleine Leute, aber unsere Eltern hatten große Herzen, waren klug und hatten eine ungeheure Schaffenskraft.
Schön waren die Abende, an denen Papa Gitarre spielte und wir mit ihm Volkslieder sangen. Mama hörte gerne zu und war stolz. Sie selber konnte nicht singen. Was mich auch prägte, war das häufige Lob und das Vertrauen, das wir Kinder erfuhren. Papa und Mama sagten öfter: Das kannst Du schon. Sie ließen zum Beispiel Margot als 18-Jährige und mich als 16-Jährigen mit dem Fahrrad nach Italien fahren. Da Papa aufgrund seiner Blindheit nicht in den Krieg musste, hatten wir ihn immer zu Hause. Das schuf viel Sicherheit. Wir Kinder waren eingebunden in ein Geflecht von Beziehungen, gehalten und getragen, aber ohne Abhängigkeiten. Ich brauche nicht eigens zu erwähnen, dass das regelmäßige Gebet in der Familie und der Gottesdienstbesuch für uns einfach dazugehörten. Das war uns kein Problem, weil die Eltern uns mit gutem Beispiel vorangingen. Über die Oberzeller Schwestern und meinen Heimatpfarrer Ägid Först fand ich den Weg zu den Minoriten. Ich entdeckte Franziskus, unseren Ordensvater, und war von Herzen froh, Franziskaner zu sein und zu werden. Alles war Gnade!
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