Am Fundament des Lebens bauen
Was aussehen könnte wie eine Flucht – von Lissabon nach Coimbra – ist letztlich vielleicht genau der richtige Schritt, um Grundlagen für das weitere Leben zu legen. Der junge Augustiner-Chorherr nutzt die Zeit in Coimbra, um sich umfassend dem Studium zu widmen.
Die Zwischenüberschrift in der Antonius-Biografie Assidua titelt „Wie er in Coimbra an Tugend und Weisheit zunahm“ – gemeint ist der Protagonist, damals noch auf den Namen Fernando hörend, der eben mit Erlaubnis des Oberen des Augustiner-Chorherren-Klosters von Lissabon nach Coimbra gewechselt ist. Hier sind die Verwandten und Freunde auf Abstand. Der junge Klosterbruder kann sich endlich mit voller Aufmerksamkeit seiner Berufung widmen. Nicht mehr von häufigen Besuchen aus seinem „alten Leben“ gestört, kann er in die Tiefe der klösterlichen Existenz eintauchen.
Flucht – oder Notbremse?
Von außen betrachtet mag der Wechsel von Lissabon nach Coimbra wie ein allzu früher Bruch in einer noch jungen Biografie aussehen. Kaum begonnen, schon gescheitert. Und überhaupt: Ist das nicht alles eine Flucht, um vielleicht unbequemen Fragen aus dem Weg zu gehen? Eine Flucht, sobald sich die ersten Schwierigkeiten zeigen?
Wer immer im Leben Entscheidungen trifft, wird damit leben müssen, dass Wege hinterfragt und Motive angezweifelt werden – und merkt vielleicht auch selbst, dass es eine letzte Sicherheit selten gibt. Der junge Fernando hat eine wichtige Entscheidung getroffen. Vielleicht war sie so eine Art „Notbremse“. Er hat wohl gespürt, dass er in der abgelenkten Atmosphäre von Lissabon nicht die Ruhe finden wird, die es braucht, um ein tragfähiges geistliches Fundament für seine Berufung zum Ordensleben zu bauen. Nun wählt er einen Weg, der ihm mehr äußere – und dann auch innere – Ruhe bietet.
Wer ein, zwei Wochen Urlaub macht und den gewohnten Alltag hinter sich lässt oder wer eine Exerzitienwoche verbringt und keine E-Mails beantwortet, Telefonanrufe entgegennimmt und Nachrichten konsumiert, der merkt: Der Geist wird frei. Und er wird nicht nur frei von allen möglichen und unmöglichen alltäglichen Beschäftigungen, er wird auch frei für… Es können sich in solchen Zeiten neue Welten auftun, ganz andere Gedanken melden sich. Umso wichtiger, dass sich Fernando zu dieser Entscheidung durchgerungen hat, als er noch am Anfang seines geistlichen Weges stand.
Weg der Vollkommenheit
Der Biograf berichtet dann nach dem Klosterwechsel auch schnell: „In seinem Verhalten machte Fernando jedem deutlich, dass er einen passenderen Ort gesucht hatte, um eine höhere Vollkommenheit zu erreichen.“ Es wird deutlich, dass es dem jungen Augustiner-Chorherrn wirklich um ein edles Motiv ging, nämlich seine „höhere Vollkommenheit“. Danach strebt er.
Im Hintergrund ist sicherlich sein großes Vorbild: Jesus. In der Bergpredigt macht dieser deutlich, worum es ihm geht. Es genügt nicht, mal hier und da ein bisschen seinen Glauben zu leben. Jesus fordert radikale Entschiedenheit. Das eigene Licht soll vor den Menschen leuchten, „damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Mt 5,16) Es genügt nicht, niemanden zu töten. Jesus warnt schon davor, dem Bruder nur zu zürnen oder ihn einen Dummkopf zu nennen. Das Böse muss radikal aus dem eigenen Leben verbannt werden: „Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird.“ (Mt 5,29) Und schließlich fordert Jesus sogar: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt 5,44f.) Und zusammenfassend: „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5,48)
Sicher im Himmel?
Aus dieser biblischen Forderung ist die Rede vom „Stand der Vollkommenheit“ erwachsen. Damit wurde, wie Papst Johannes Paul II. in seinem nachsynodalen Schreiben „Vita Consecrata“ im Jahr 1996 dann schon sehr vorsichtig schreibt, „in der christlichen Überlieferung“ (VC 18) das geweihte Leben beschrieben. Über Jahrhunderte galt es als „besser“, sein Leben im Kloster zu verbringen – gewissermaßen einhergehend mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, einmal in den Himmel zu kommen. Der Reformator Philip Melanchthon kritisiert denn auch heftig in seiner Augsburgischen Konfession im XXVII. Artikel zu den Klostergelübden: „Itzt geben sie vor, das Klosterleben sei ein solch Wesen, daß man Gottes Gnade und Frommkeit vor Gott damit verdiene, ja es sei ein Stand der Vollkommenheit; und setzens den anderen Ständen, so von Gott eingesetzt, weit vor.“
Mittlerweile ist die Kirche skeptischer. Der Status der Vollkommenheit ist auf Erden und Zeit des Lebens nicht erreichbar. Auch ein Ordenschrist ist allenfalls ein Mensch auf dem Weg zur Vollkommenheit. Diesen Weg soll er aber mit aller Entschiedenheit beschreiten. Papst Johannes Paul II. erinnert ihn daran, dass er „wie jeder Getaufte und sogar aus noch zwingenderen Gründen dazu verpflichtet (ist), mit allen seinen Kräften nach der Vollkommenheit der Liebe zu streben.“ (VC 93)
Leidenschaft und Eifer
Diese päpstlichen Zeilen kennt Fernando im 13. Jahrhundert freilich noch lange nicht. Aber man wird wohl davon ausgehen dürfen, dass er mit aller Leidenschaft und größtmöglichem Eifer versucht, seiner Berufung gerecht zu werden.
Der Verfasser der Assidua jedenfalls berichtet: „Er bildete seinen Geist durch eine große Hingabe zum Studium und übte die Seele durch die Meditation. Tag und Nacht, je nach Möglichkeit: Nie unterbrach er die Lektüre der Heiligen Schrift. Beim Lesen der biblischen Texte – er beachtete dabei die historische Wahrheit! – festigte er den Glauben mit allegorischen Vergleichen. Und indem er die Worte der Schrift auf sich selbst bezog, stärkte er seine Verbundenheit durch ein tugendhaftes Leben.
Mit unbeschwerter Wissbegierde vertiefte er das Verständnis für den verborgenen Sinn der göttlichen Worte. Durch das Zeugnis der Schrift bewahrte er den Geist vor den Fallen des Irrtums. Und zu diesem Zweck vertiefte er auch das Wissen über die Heiligen durch fleißige Nachforschungen. Und alles, was er las, bewahrte er in seinem Gedächtnis, welches so stark war, dass er nach kurzer Zeit eine derartige Kenntnis der Bibel an den Tag legte, wie es niemand je zu hoffen gewagt hätte.“
Grundlage für die Zukunft
Es begegnet uns also ein junger Ordensbruder, dem man nicht den Vorwurf machen kann, den bequemen Weg ausgesucht zu haben, um sich irgendwie durchzumogeln. Fernando ist noch weit von seiner späteren Berühmtheit entfernt. Sein Predigttalent ist noch lange nicht entdeckt. Und doch wird wohl in dieser Zeit der Ausbildung die Grundlage gelegt. Was er jetzt lernt, davon wird er ein Leben lang zehren. Er wird vertraut mit der Heiligen Schrift und der kirchlichen Tradition. Und die Teilnahme am klösterlichen Lebensrhythmus bietet ihm ein verlässliches Gerüst, das ihm hilft, sein straffes Pensum zu absolvieren.
Für Fernandos Zeit in Coimbra dürfen wir wohl sagen: Er ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Er hat den Platz gefunden, wo er jetzt wachsen und reifen kann. Er hat die nötigen Freiräume, um weiter an einem guten Fundament fürs Leben zu bauen.