Angst essen Seele auf

28. Februar 2006 | von

Ängste sind uns wohlvertraut. Schon immer gehören sie zum Menschen, früher wie heute. Machtvoll können sie daherkommen. Im Positiven wie im Negativen beeinflussen sie unser Leben. Jesus selbst hat Angst erfahren und sie überwunden: Hoffnungszeichen für angstbesetzte Zeiten.

1974 flimmerte einer der bekanntesten Fassbinder-Filme über die deutsche Kinoleinwand. „Angst essen Seele auf“ erzählt die Geschichte eines auf den ersten Blick ungleichen Liebespaares, des jungen marokkanischen Gastarbeiters Ali und der älteren deutschen Putzfrau Emmi. Der gemeinsame „Kampf“ gegen die Widerstände ihrer Mitmenschen schweißt sie zusammen und so heiraten sie schließlich. Zurückgekehrt von einer Reise, scheinen sich die Probleme mit den sie umgebenden Menschen zu lösen, sie akzeptieren nun aus recht pragmatischen und egoistischen Motiven die Beziehung der beiden. Emmi und Ali jedoch stehen jetzt vor der schwierigen Aufgabe, ihre Beziehung zu gestalten und die eigenen Herausforderungen zu bestehen. Das Scheitern scheint zum Greifen nahe. Doch der Film endet offen: Ein Neuanfang zwischen beiden könnte möglich sein - ohne Garantie auf ein glückliches Ende und ohne dass Fassbinder damit ein rührseliges Happy-End inszeniert hätte.

Soweit die Film-Geschichte – eine Geschichte zwischen Ausgrenzung und Anpassung, über Angst und Mut. „Angst essen Seele auf“ ist mittlerweile fast ein geflügeltes Wort geworden, das auf tröstende und warnende Worte Alis für Emmi im Film zurückgeht: „Nix weinen. Nix Angst. Angst essen Seele auf.”

Uralte Muster, überlebenswichtig. Die Angst kann in der Tat den Menschen so sehr beherrschen, so sehr in Beschlag nehmen, dass er nicht mehr er selbst ist. Seine Seele wird „aufgefressen“ durch diese dunkle Macht, die blockiert, lähmt und zerstört. Dennoch ist Angst sehr menschlich und geradezu überlebenswichtig. Die Menschheit hätte sich kaum bis heute „erhalten“, gäbe es die Angst nicht. Oder genauer gesagt, die Furcht. Beide sind enge Verwandte und im konkreten Erleben werden sie selten bewusst unterschieden. Körperliche Reaktionen wie Schweißausbruch und ein erhöhter Puls, Zittern oder das Atem-Anhalten sind wohl jedem Menschen aus der einen oder anderen Lebenssituation bekannt. Aber ebenso die in Bruchteilen von Sekunden hochgefahrene Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit bei Gefahr, wie auch andererseits das Erstarren und die Bewegungsunfähigkeit, die uns wie das sprichwörtliche „Kaninchen auf die Schlange“ starren lassen. Das „flaue“ Gefühl im Magen, wenn Unangenehmes uns erwartet und das vegetative Nervensystem verrückt spielt und uns alle Augenblicke zum Gang auf die Toilette nötigt.
Verhaltensforscher sehen darin uralte Muster, ererbt von unseren Urahnen, die sich vielerlei Gefahren ausgesetzt sahen und angewiesen waren auf ein ausgeklügeltes inneres Warnsystem mit entsprechenden guten Reaktionsmechanismen. Langes und kluges Nachdenken – sonst durchaus eine Fähigkeit, die dem „Mängelwesen“ Mensch einen respektablen Vorteil gegenüber seinen tierischen Mitgeschöpfen gab -  konnte angesichts drohender Gefahr eher tödlich enden, automatisierte Reaktionen waren da durchaus hilfreicher.

Neue Formen für alte Muster. Gehalten haben sich solche Reaktionsweisen über Jahrmillionen bis heute, auch wenn die gefährlichen Situationen völlig andere sind. Selten nur wird man sich unvermutet einem gefährlichen Raubtier gegenübersehen und blitzschnell entscheiden müssen, ob Flucht oder Angriff die lebensrettende Maßnahme ist. Doch die Wissenschaftler bemerken zutreffend und manchmal ein wenig spöttisch, dass die Menschen diese archaischen Verhaltensweisen bis heute schlicht übertragen. Der wütende Chef wird so unversehens und unbewusst zum „alten Raubtier“, und die Reaktion ist entsprechend: Tatsächliches Wegrennen oder tätliche Attacken sind allerdings keine gesellschaftlich anerkannten Mittel mehr, dieser Art von Gefahr zu begegnen, so dass sich neue Formen für alte Muster entwickeln mussten. Verbale Attacken nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung oder Flucht in die körperliche Erstarrung, damit der wildgewordene Chef einen (am besten) genauso übersieht wie einst das gefährliche Raubtier.

Konkrete Furcht, unbestimmte Angst. Angst hat also eine uralte sinnvolle Funktion, doch ein angsterfülltes Leben ist kaum erstrebenswert. Hier hilft die Unterscheidung, die manche Wissenschaftler heute treffen, um dem Phänomen der Angst besser begegnen zu können: Furcht bezeichnet für sie die „Angst vor konkreten Gefahren“. Die Angst selbst ist eher ein grundsätzliches Gefühl, das sich auf merkwürdig unbestimmbare und unfassbare Gegebenheiten richtet. Das Mittelalter wird aus moderner Sicht häufig als ein dunkles Zeitalter angesehen, in dem die Menschen angsterfüllt lebten. Aberglaube, magische Praktiken und ein nicht aufgeklärtes Weltbild, das die Naturgesetze kaum kannte, steinerne Zeugnisse von Dämonenglauben, die sich bis heute in und an alten Kirchen erhalten haben, scheinen der Beleg für solch finstere Zeiten zu sein. Doch die mittelalterlichen Menschen waren da eher von Furcht geprägt: der Furcht, das ewige Leben nicht erlangen zu können.
Der Mensch des 21. Jahrhunderts wird kaum noch von dieser Art Furcht geplagt, dagegen besetzen ihn nun die Ängste. Abgesehen von krankhaften Phobien, die es vielleicht zu allen Zeiten gegeben haben mag, ist die Furcht infolge der Wissenschaften vielleicht sogar ein wenig geschwunden, dafür die Angst ins Unermessliche gewachsen. Manche behaupten gar, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Angst schlechthin gewesen sei. Im Mittelalter wusste der Mensch, wovor er sich – im letzten – fürchtete, und er konnte immerhin aus seiner Sicht eine Menge tun, um dem Strafgericht Gottes zu entgehen, wobei manche Praktiken theologisch durchaus zweifelhaft zu beurteilen sein mögen.
Der moderne Mensch jedoch ist alleingelassen mit seiner Angst, die er nirgendwo mehr verankern kann. Angst, zu versagen, das Lebensglück nicht zu finden; Angst alleingelassen zu sein; Angst, nicht mithalten zu können; Angst vor Krankheit, Sterben und Tod. Ängste, die zwar inhaltlich zu bestimmen sind, die aber deshalb so diffus sind, weil sie im letzten eine einzige große Lebensangst widerspiegeln.

Sorgen unserer Zeit. Wenn Gott nicht mehr der Bezugspunkt für das Leben ist, sondern der Mensch selbst die Bezugsgröße wird, dann wird die Angst zu einem ständigen Begleiter. Denn sicher sein kann sich der Mensch über sich selbst nie – und schon gar nicht im Entscheidenden, im Wesentlichen des Lebens. Der Versicherungsboom, die Gesundheitsgläubigkeit und der Fitnesswahn sind nur einige wenige Beispiele für moderne kollektive Angstreaktionen. Die Angst, nicht geliebt zu werden, führt zu so mancher Schönheitsoperation und zeigt beispielhaft, wie sehr der Mensch sich seinen Wert scheinbar selbst erschaffen muss. Ein Ziel, das er nie erreicht, denn an der nächsten Ecke seines Lebens wird er neu getrieben sein von Angst – die Moden ändern sich halt.
Zukunftsängste haben Hochkonjunktur gerade in Deutschland. Angst vor Arbeitslosigkeit; Angst, weniger zu verdienen; Angst vor sozialem Abstieg; ja eine grundsätzliche Angst vor einer bedrohlichen, schlechteren Zukunft verleiten Menschen dazu, keine Kinder mehr zu bekommen, ihre Rechte als Arbeitnehmer nicht mehr wahrzunehmen, bis dahin, dass der „Krankenstand“ auf ein historisches Tiefstmaß gefallen ist. Will man nicht unterstellen, dass die Deutschen unerwartet sehr viel gesünder geworden sind oder früher häufig blau gemacht haben, spricht das eine deutliche Angstsprache. Wer krank ist, ist schneller „draußen“, wer öfter krank ist, für den ist die Karriere schnell zu Ende.

Was für das einzelne Leben gilt, das ist auch abzulesen an dem Verhalten ganzer Völker und Kulturen. Waffenstarrende Nationen und zwei Weltkriege, nebst vielen kleineren kriegerischen Konflikten (das Wort mag fast zynisch klingen angesichts der großen Kriegsschauplätze in Vietnam, Afghanistan, Irak...), angstbesetzte diktatorische Regimes verteilt über die ganze Welt, sind nicht gerade Aushängeschilder für eine angstfreiere Welt im Vergleich zu früheren Zeiten. Wer nur einmal mit dem Flugzeug verreist, kann die Angst der Menschen vor Terror mit Händen greifen – wenn schon angesichts einer vergessenen Nagelschere im Handgepäck ein ganzer Sicherheitsapparat in Gang gesetzt wird.

Biblischer Relativismus. Solcherart Ängste „essen dann wirklich die Seele auf“ – die Seele von Menschen und die Seele ganzer Völker. Sie vernichten die Persönlichkeit, die Möglichkeit von Wachstum und Entwicklung. Dann doch lieber zurück zur Furcht des Mittelalters? Nein, gehen wir besser noch einen Schritt weiter in der Geschichte zurück und schauen in die Bibel. Denn wenn unsere Zeit auch gerne als „relativistisch“ beargwöhnt wird, eines gilt in ihr doch absolut: die Heilssehnsucht muss in einem doch recht kurzen Leben durch (verzweifelte) eigene Anstrengungen befriedigt werden. Ein klassischer Nährboden für Ängste aller Art.
In bestimmter Hinsicht täte ihr daher ein biblischer Relativismus sehr gut. Die Angelegenheiten und Sorgen dieser Welt zu relativieren, das heißt, sie in Beziehung zu setzen zum Absoluten, zum Entscheidenden, zu Gott. „Fürchte dich nicht“, in der Bibel kann man es kaum überlesen, so häufig kommt es vor. „Ängstige dich nicht“, so würden wir heute vielleicht treffender sagen, denn dein Gott ist ein Rettender. So wie er im Alten Testament immer wieder sein Volk errettete, sich barmherzig zeigte, so bezeugt Jesus durch sein Wort und Tun, durch sein Leben und Sterben, Gott als den, der zum Leben Mut macht und gerade keine durch Angst geknechteten Menschen will.

Angst überwinden – Leben gelingt. Der Mensch, der sein Vertrauen auf Gott setzt, kann seine Angst loslassen. Unzählige Geschichten erzählt Jesus seinen Zuhörern davon: Hab keine Angst um dein Geld und deinen Reichtum, keine Angst um dein Ansehen, keine Angst, Schuld einzugestehen, keine Angst, du kämest zu kurz, keine Angst vor dem morgigen Tag.
Dabei ist die Bibel keineswegs unmenschlich und würde etwa verlangen, dass Menschen das Gefühl der Angst nicht kennen sollten. Jesus selbst hat sie durchlitten – am eindrucksvollsten geschildert kurz vor seinem Tode. Angst überfällt ihn, Todesangst und wer würde – menschlich gesprochen – es ihm verdenken. Wohlwissend, was ihn in Jerusalem an Folter und Tod erwarten wird, betet er im Garten Getsemani darum, dass der Kelch an ihm vorbei gehen möge. Dieser alte Ölgarten liegt bezeichnenderweise an der alten Fluchtstraße aus Jerusalem hinaus in die Wüste. Vielleicht hat Jesus auch damit gerungen: zu fliehen vor dem schmachvollen und elenden Tod am Kreuz. Doch Jesus hielt seiner Angst stand und begab sich ganz in den Willen des Vaters.
Ein Zweifaches könnte sich daraus ablesen lassen und für unsere menschlichen Ängste von Bedeutung sein. Zum einen: Gott selbst hat die Angst bis zum Ende durchlebt. Und wir Menschen sind nie wieder, mag es noch so den Anschein haben, in unseren Ängsten alleingelassen. Gott selbst ist auch dort nicht fern. Zum anderen: Gelungenes Leben gibt es nicht jenseits der Angst, sondern in ihrem Überwinden. Wahrhaft mutige Menschen sind nicht angstfrei, sondern haben die Angst im Vertrauen besiegt. Das „Fürchte Dich nicht“ der Bibel fordert also keineswegs eine naive Tollkühnheit, die Gefahren und Angst ignoriert. 

Vertrauen lernen. Der Gegenpol zur Angst ist also zunächst einmal nicht der Mut, sondern das Vertrauen. Und so lautet die Herausforderung angesichts der vielen Gegenwartsängste nicht: „Augen zu und durch“, sondern: Wie kann mein Vertrauen wachsen? Glaubt man den Psychologen, dann haben Menschen, die am Anfang ihres Lebens die Erfahrung machen durften, geliebt und angenommen zu sein, eindeutige Vorteile auf diesem Wege. Sie haben „Urvertrauen“ gewinnen können, das es ihnen als Erwachsene leichter macht, mit ihren Ängsten umzugehen und vertrauensvoll zu leben.
Doch was ist mit all denen, deren Biographie dies nicht vorzuweisen hat? Es mag sein, dass sie sich zeitlebens etwas schwerer damit tun. Dennoch gilt es auch hier, die eigene Lebensgeschichte zu relativieren. Wenn der letzte Grund meines Lebens nicht die Eltern – und deren manchmal eingeschränkte Liebesfähigkeit – sind, sondern Gott, der die uneingeschränkte Liebe ist, dann kann bei jedem Menschen Vertrauen wachsen. Die Alltagsängste werden sicher trotzdem bleiben. Aber sie haben keine Chance auf grenzenlose Herrschaft über den Menschen.

 


 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016