Antonius lässt sich nicht unterkriegen
Eine schmucklose Kapelle auf einem Berg voller Geröll, die zu jeder Tageszeit Pilger anzieht: das Heiligtum des heiligen Antonius in Laç, ein Geheimnis des Glaubens und der Tradition im Norden Albaniens.
Kerzen. Qirinj. Sie werden von Kindern verkauft, die wie Heuschrecken um die Autos springen, die den Weg zum Heiligtum hochfahren. Alte Frauen in ihren schwarzen Kleidern bieten sie auf den Bänken am Rand der Straße sitzend an, die sich zum heiligen Berg von Laç hochschlängelt. Fliegende Händler, die ohne Genehmigung und aufdringlich bis in die späten Abendstunden an improvisierten Ständen auf dem großen Parkplatz an dem heiligsten Ort von ganz Albanien – einem katholischen Ort in einem Land mit muslimischer Mehrheit – ihre Ware anpreisen.
Antonius-Verehrung in schroffer Umgebung
„Geh nach Laç!“ hat mir Abnora, eine 26-jährige Kunsthistorikerin aus dem Kosovo, geraten. „Dort gibt es etwas Übernatürliches.“ Dort ist shën Ndou, der heilige Antonius, der Heilige der Wunder. Das kleine Heiligtum – eigentlich mehr eine schmucklose Kapelle im typischen Balkan-Stil als eine richtige Kirche – erhebt sich auf einem steinigen Berg über dem Meer und der Ebene an der Küste. „Im Winter ist der Wind hier wie ein Tornado: Manchmal habe ich sogar Angst, dass er die Kirche umbläst“ – mit diesen Worten empfängt mich Pater Mirash, 40 Jahre alt, der Rektor des Heiligtums. Das hier ist ein abgelegener und doch überlaufener Ort. Die Berge sind wild und schön, schroff und felsig. Die Landschaft ist geprägt von Nadelbäumen. Es gibt keine Häuser hier oben, das Städtchen, heruntergekommen und ungepflegt (die Fabrik, die Phosphate produzierte, ist schon seit Jahren geschlossen), liegt unten im Tal. Aber der Strom der Pilger hat nicht nachgelassen. Jeden Tag und zu jeder Stunde kommen Familien, Paare, einzelne Männer, Alte und Junge hier hoch. Elegante Menschen und Bauern in Arbeitskleidung, abgespannte Frauen und Jugendliche in modisch zerrissenen Jeans und Lederröcken. Viele kommen zu Fuß, auf einem steinigen Weg zwischen Geröll und Büschen. Einige schlafen unter freiem Himmel, breiten ihr Lager auf dem großen Kirchplatz aus. Dienstags, dem Tag des Heiligen, sind es Massen, die kommen. An den dreizehn Dienstagen vor dem 13. Juni kommen jedes Mal mehr als 50.000 Männer und Frauen nach Laç. Kollektive Verehrung in Albanien. Eine Verehrung seitens der Katholiken, aber auch der Atheisten, Moslems und, in etwas geringerer Zahl, Orthodoxe.
Ort des Gebets und der Magie
Laç hat noch einen anderen Namen, Sebaste, der an eine legendenhafte (nie wirklich wissenschaftlich nachgewiesene) römische Siedlung und dann an eine mittelalterliche Burg erinnert. Ein mythologischer Name: Eine phantasievolle Geschichte erzählt, dass hier im 4. Jahrhundert der heilige Blasius, shën Vlasht, ein Arzt, Bischof und Märtyrer, gelebt habe. Vielleicht als Eremit in dieser Abgeschiedenheit? – Jedenfalls ein Heiliger sowohl der katholischen als auch der orthodoxen Kirche. Es gibt eine Grotte in Laç, geschwärzt vom Ruß der vielen Kerzen, wo die Pilger ihren Kopf in eine Öffnung stecken, um darum zu bitten, dass ein Schmerz, ein Leiden nachlasse. Hier, da sind sich alle sicher, lebte der heilige Blasius mit seinem Mysterium. Ein magischer Ort, dieser Berg.
Überall Kerzen
Die Kerzen sind die Wegweiser zum Heiligtum. Überall werden sie angezündet: kleine rote oder milchig-weiße, elfenbeinfarbige. Sie hinterlassen Wachsspuren, schwärzen die Steine, die Mauern, die Felsen und jegliche auch noch so kleine Stelle rund um die Kirche. Sie werden zu dutzenden, hunderten, tausenden angezündet. Man steckt Geld in die Ritzen zwischen den Steinen, Zettel mit den Namen lieber Menschen.
Fotos für den Heiligen
Wichtig sind Fotos. Mit diesen streichen die Pilger über die Wände, die Geländer, über die kleine Antoniusstatue mitten auf dem Vorplatz. Die Pilger haben das Bedürfnis, das Heilige zu berühren. Ein „handgreiflicher“ Glaube: Hier muss man anfassen, weinen, küssen. Aber auch ein moderner, technik-unterstützer Glaube: Ich habe Jugendliche gesehen, die ihre großen Smartphones an die Steine gehalten haben. Das hat mir die Sprache verschlagen, ich konnte es nicht glauben: Mit der typischen Wischbewegung der Finger wählten sie Fotos aus (von der Freundin, der Mama, den Großeltern …). Und für jedes Foto, da bin ich mir sicher, erbaten sie den Schutz des Heiligen.
Die alten Frauen kommen hier hoch mit drei, vier vom Fotograf des Ortes ausgedruckten Fotos, mit Passbildern von nach Italien oder Amerika ausgewanderten Kindern: Sie streichen sie über den bronzenen Habit des heiligen Antonius und schauen ihm dabei direkt in die Augen. Ich habe Männer gesehen, die aufgelöst und mit verlorenem Blick vor der Statue knieten und beteten. Fröhliche Familien, die Selfies von sich und dem Heiligen machen. Man erzählt mir von jungen Männern, die hier hoch gekommen sind, um für eine gute Marihuana-Ernte (ein einträglicher Business-Zweig der albanischen Kriminalität) zu beten. Ich habe Jugendliche gesehen, die mit ihrem Pass über die Hände des heiligen Antonius gefahren sind: Vielleicht bereiten sie sich auf ihre Auswanderung vor?
Was ist Laç? Was ist diese beeindruckende Verehrung in einem Land, das bis vor 25 Jahren vom Gesetz her (einzigartig auf der Welt) strikt atheistisch war? Was bedeutet diese Vielfalt an Menschen, die sich hierher bemühen, den Berg hinaufkraxeln, bei jedem Wetter, um den heiligen Antonius zu berühren?
Der Ursprung der Verehrung
„Wir wissen nicht viel über den Anfang dieser Verehrung,“ gesteht Pater Mirash, „der heilige Blasius gehört zur Legende. Die erste Kirche war wahrscheinlich Maria geweiht. Vielleicht lebten hier Benediktiner. Dann kamen die Türken…“
Nach dem Tod des Nationalhelden Skanderberg, Anführer des Widerstandes der Menschen in den Bergen, war das Land schon geschwächt und wurde dann 1478 zu einer Provinz des Osmanischen Reiches. Muslimisches Land. Nur die Franziskaner sind immer hiergeblieben. Mutig, zäh, erfüllt von ihrer Mission. Auch sie stiegen hoch nach Laç. P. Mirash übersetzt mir aus einem Buch, dass sie im Jahr 1557 eine kleine Antoniusstatue hier hoch gebracht haben, 90 cm hoch. Hier beginnt die Geschichte der Verehrung, die nun schon fast fünf Jahrhunderte andauert.
In Laç, in dem schönen Konvent neben der Kirche, leben vier Brüder. Unter ihnen Leonardo, ein großer, dicker, fröhlicher Pole: „Der heilige Antonius hat ein großes Wunder gewirkt: Er hat die Albaner vereint!“ Achtung: Die Geschichte von Laç ist nicht nur religiöser Art, es ist eine Geschichte der Politik, der Rebellion, der Hartnäckigkeit und der stillen Revolution, oft tragisch, unnachgiebig. Im Jahr 1967 verbietet Albanien alle Religionen: Katholiken, Moslems, Orthodoxe werden zu Illegalen. Es beginnt eine erbarmungslose Verfolgung. Die Minarette der Moscheen werden abgerissen, Kirchen werden zu Lagerhallen, Ställen, sogar Sporthallen umfunktioniert. Laç ist ein gefährlicher Ort, denn hier ist die volksfromme Verehrung besonders stark: Das Heiligtum wird in die Luft gesprengt, der Schutt von Baggern weggebracht. Aber das hilft nichts: Die Menschen pilgern weiterhin auf den Berg. Auch heute noch sieht man die geheimen Wege der unbekehrbaren Gläubigen. Soldaten aus dem Süden, Moslems, werden geschickt, um jeglichen Zugang zu dem Berg abzuriegeln. „Man erzählt, dass sie nach wenigen Monaten krank wurden und weggehen mussten“, sagt P. Mirash. Noch nicht einmal die bittere Strenge des albanischen Kommunismus hat es geschafft, Antonius in Vergessenheit geraten zu lassen.
Der Glaube siegt
Die albanische Tyrannei wird nicht durch eine Revolution oder ein Aufbegehren bezwungen. Das Regime war angeschlagen und wurde durch ein Gebet, eine Messe und John Lennon aufgelöst. Aber das erste Anzeichen für den Fall war eine riesige Volksprozession. Natürlich nach Laç. Ein weiteres Wunder des heiligen Antonius. All das geschah 1990: Im November hatte ein mutiger Priester, Simon Jubani (er hatte ein Vierteljahrhundert im Gefängnis verbracht), eine Messe für die Verstorbenen auf dem Friedhof von Scutari, einer Stadt des Katholizismus in Albanien, gefeiert. Niemand hatte es ihm verboten. Ein paar Dutzend Menschen knien voller Angst zwischen den alten Grabsteinen nieder, vor einem Tisch, der zum Altar umfunktioniert worden war. In der Woche darauf zeigen Tausende Mut und beten gemeinsam mit Pfarrer Jubani. Wenige Tage später eröffnen auch die Moslems der Stadt ihre Moschee wieder. In Tirana wollten drei Wochen später die Studenten an den zehnten Todestag von John Lennon erinnern. Sie gingen alle auf die Straße, sangen und tanzten zu seinen Liedern, die in Albanien verboten waren. Da war es wirklich vorbei mit dem Kommunismus.
Zurück zum heiligen Antonius
Aber sechs Monate vorher war die Regierung bereits von mehr als 60.000 Frauen und Männern überrascht, eingeschüchtert und besiegt worden. Eine Masse von Katholiken, Moslems und Orthodoxen haben sich am Festtag des Heiligen, am 13. Juni 1990, auf den Weg nach Laç gemacht. Die Soldaten haben sie nicht aufgehalten. Sie stammelten ein paar Drohungen, mussten aber aufgeben. Nach mehr als 30 Jahren kehrten die Albaner zum heiligen Antonius zurück. Sie waren frei.
Bei Radio Tirana konnte man das nicht verschweigen: Man berichtete, dass es ein großes „Picknick des Volkes“ gegeben habe. Und das war noch nicht einmal eine Lüge. Ich glaube, der heilige Antonius hat sich ins Fäustchen gelacht, als er das gehört hat.
Kirche als Baustelle
1992 begann dank der Franziskaner aus Bologna der Wiederaufbau des Heiligtums. P. Mirash zeigt mir zwei Reihen von Steinen in der Außenwand der Kirche. Es sind die einzigen, die vom ursprünglichen Heiligtum übrig geblieben sind. Ein seltsamer Ort, der Berg von Laç. Der Vorplatz ist abschüssig und in schlechtem Zustand. Es gibt eine verlassene Baustelle. Ein riesiges Kreuz wird nachts von LED-Strahlern beleuchtet. Ich habe gehört, dass es unzählige Projekte zum Bau einer großen Basilika gegeben hat. Aber P. Mirash sagt: „Unsere Menschen wollen diese Kirche hier, klein und schmucklos. So wie wir.“ Es herrscht eine Atmosphäre wie auf einer verlassenen Baustelle. Den Brüdern ist schon klar, dass etwas getan werden muss. Aber es scheint eine Art Furcht zu geben, das wundersame Gleichgewicht von Laç durcheinander zu bringen.
Ein multi-konfessionelles Heiligtum
An einem Sonntagabend war nur ein einziger Bruder im Konvent. Die anderen sind in anderen Gemeinden unterwegs. Wir sind alleine. Rundherum Stille. Wir kochen. Bruder Kolë, 28 Jahre alt, hat gerade die feierliche Profess abgelegt, besucht aber noch das Seminar. Er ist erst vor drei Tagen hierhergekommen. „Ich bin wohl der einzige Albaner, der den heiligen Antonius kaum kennt. Mussten sie ausgerechnet mich hierher schicken?“ fragt er sich. Er ist noch total erstaunt über das, was er jeden Tag sieht. Er lächelt: „Das hier ist ein multi-konfessionelles Heiligtum.“ An seinem ersten Tag baten ihn einige Moslems, sie zu segnen. Kolë darf die Stola noch nicht tragen, er ist noch kein Priester. Aber jegliche Erklärung ist umsonst: Sie wollten gesegnet werden, und der Bruder sollte ein Priestergewand tragen. Ein seltsamer Ort, Laç. Westliche Modernität (die vielen Selfies, die Smartphones, die wie Heiligenbilder an die Steine gelegt werden) und die antiken orientalischen Rituale (drei Runden um die Kirche, dreimal das Kreuzzeichen mit ausgebreiteten Armen).
„Hierher kommen diejenigen zum Beichten, die wirklich große Schuld auf sich geladen haben. Woanders würden sie das nie tun,“ sagt P. Mirash. 1997 kam eine Reliquie aus Padua, aber niemand hier weiß heute, um was es sich handelt. Männer und Frauen legen ihre Hände darauf und heben die Kinder hoch, damit sie sie küssen können. Es gibt einen großen Behälter mit Weihwasser: die Gläubigen füllen es in Wasserflaschen ab. Auf dem Parkplatz verkaufen die fliegenden Händler Antoniusstatuen, Fatima-Hände, Augen des Propheten und Hufeisen.
Aberglaube – und Wunder
Bruder Kolë hat Forstwirtschaft studiert und erschrickt hier in Laç: „Einige Pilger reißen Zweige von den Bäumen ab, um sie zu Zauberern und Magiern zu bringen. Wenn wir hier jemals Oliven anpflanzen sollten, müssen wir sie schützen.“ Andere sammeln Steine auf. Sie werden sie zu Amuletten und Talismanen machen. „Hexentum“, sagen die resignierten Brüder, aber dann schauen wir gemeinsam eine Familie an, die ganz gerührt vor der Antonisstatue steht. Wir sehen, wie sie weggehen und sich dabei an den Händen halten.
In Scutari sagt mir Majran, 35 Jahre alt und Gründer von Arka (eine Art Cafè-Club voller Jugendlicher und Musik): „Der heilige Antonius wirkt Wunder und jeder, der einmal in Laç war, muss mindestens noch dreimal zurückkommen.“ Hana ist knapp über 40, hat studiert und einen guten Job: „Antonius ist ein guter Mann. Er ist njeri i mirë. Wir vertrauen ihm. Niemand anderem würden wir das anvertrauen, was wir ihm anvertrauen.“
Nachts kommt ein Gewitter über Laç. Der Platz ist menschenleer. Es schüttet. Die Fenster klappern. Wir schließen sie. Bruder Kolë kocht Kaffee. Und ich weiß, dass in Albanien gemeinsames Kaffeetrinken Freundschaft bedeutet. Das ist alles. Draußen bleibt trotz des Unwetters die Kirchentür offen.