Aspichhof als Modell für Peru

26. Januar 2015 | von

Als weitgereister, doch lernwilliger Minorit verbrachte der Autor ein Jahr als Praktikant auf dem Aspichhof bei Bühl in Baden. Seine Erfahrungen in sozialer und therapeutischer Landwirtschaft sollen ihm helfen, ein ähnliches Projekt in seiner Wahlheimat Peru umzusetzen. Da geht es um die Entfesselung und die Selbsterstarkung versklavter junger Frauen. Ordensleute helfen ihnen dabei.



Autarkie, also Selbstversorgung, ist ein Wort mit tiefen Wurzeln in der christlichen Spiritualität, das vor allem in monastischen Traditionen vorkommt. Heutzutage assoziiert man es eher mit alternativen Lebensstilen und dem Ruf nach einer anderen, für Menschen und Umwelt verträglicheren Landwirtschaft. So erklären sich die überraschten Gesichter unter den Besuchern – geladene Prominenz und „Normalsterbliche“ – zu Beginn des Eröffnungsgottesdienstes beim diesjährigen Hoffest des Aspichhofes, wie jedes Mal am letzten Sonntag im August. Der Leiter der Einrichtung, Dr. Ewald Glaser, kündigte neben der langen Liste selbergemachter Produkte nämlich an, der Hof sei mittlerweile auch in geistlichen Dingen ein Selbstversorger. Von den Bewohnern und den Helfern an den Verkaufsständen und beim Tischdienst wurde die Anspielung gleich verstanden und mit einem herzlichen Lachen belohnt: Der Zelebrant am Altar vorne, der Schreiber dieser Zeilen, ist nämlich im „richtigen Leben“ nichts anderes als Praktikant auf dem Hof, also ein Kollege, der nach der Messe auch gleich wieder die Arbeitsschürze anziehen wird – aber lieber der Reihe nach…



THERAPEUTISCHE LANDWIRTSCHAFT

Wer zum ersten Mal am Aspichhof vorbeikommt, bestaunt die Aussicht. Ist der Blick nach unten anziehender, also ins Rheintal nach Ottersweier und Bühl – bei guter Sicht gar bis Straßburg –,

oder späht man lieber Richtung Schwarzwald, wo oben die Hornisgrinde auszumachen ist? Danach nehmen Besucher sicher die großzügige Anlage selber in Augenschein. Der Hof kann auf 700 Jahre Geschichte zurückblicken. Die eleganten Erker an den Gebäuden weisen ihn als ehemaligen Besitz eines Adeligen der Region aus, der das Landgut im 18. Jahrhundert als Wohnort für seinen psychisch erkrankten Sohn ausgebaut hatte.

Interessanterweise gibt es eine Linie, natürlich etwas verschlungen, zur heutigen Mission der Einrichtung, denn als „Wohnbereich 10“ gehört der Aspichhof zum Kreispflegeheim Hub für psychisch erkrankte Menschen und damit zum „Klinikum Mittelbaden“. Doch abgesehen von diesem „besonderen Profil“, ist der Aspichhof zunächst mal ein richtiger Bauernhof. Beim Besuch von Schulklassen aus der Umgebung rennen die Kinder begeistert vom Kuhstall zu den Pferden, von den Gänsen – vorbei an den Schweinen – zu den Hühnern, und von da nochmal zu den Kälbern. Dagegen machen „ältere Semester“ lieber einen Spazierweg durch die Weinberge, wo Reben für verschiedene Sorten des Aspichhof-Weins reifen. Und dass im direkten Einzugsbereich der Bühler Zwetschgen auch viel Obstbau betrieben wird, ist wohl selbstverständlich. Auf dem Aspichhof ist die „Multifunktionalität“ des klassischen Bauernhofes zusätzlich in der Dynamik von „sozialer“ oder „therapeutischer“ Landwirtschaft angesiedelt.

Dieses Konzept, ursprünglich in den Niederlanden entwickelt, geht davon aus, dass der Umgang mit Pflanzen und Tieren den Menschen mit Grenzen und verschiedenen seelischen Verletzungen guttut. Die vielen Arbeitsmöglichkeiten erlauben es den Bewohnern, sich in abwechslungsreichen Tätigkeiten sinnvoll einzubringen, Selbstwertgefühl und Autonomie zu erleben oder nach akuten Krisen auch wieder auf die Beine zu kommen. Zur „Aspichhof GmbH“ gehören für diesen Zweck darum neben Molkerei, Metzgerei und Bäckerei auch eine große Gärtnerei. Neben den „Profis“ in der Landwirtschaft sind Begleiter mit einer arbeitstherapeutischen Zusatzausbildung also Teil des Hofes. Nicht zuletzt schätzen die Kunden, die sich im Hofladen des Aspichhofes dreimal die Woche mit verschiedenen Lebensmitteln eindecken, nicht nur die Qualität des „Hausgemachten“, sondern setzen auch auf die Sozialkomponente des Betriebes.



NEUE LÄNDLICHKEIT

Im Aspichhof ist man nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, und auf Überraschungen wird mit Gelassenheit reagiert. Ich selber habe davon profitiert, als ich Dr. Glaser mein Interesse schilderte: Ich bin seit über 30 Jahren Franziskaner-Minorit und lebe davon 23 Jahre in Peru. Ein wichtiger Teil meines Dienstes dort hatte mit dem Themenfeld Landwirtschaft und Landentwicklung zu tun. Ich erzählte, in Peru werde der größte Teil der akademischen Anstrengungen in die Entwicklung „moderner“ Landwirtschaft gesteckt, die exportorientiert und kostenintensiv ist. Über Alternativen werde freilich nachgedacht, zum Beispiel am Institut für kleinbäuerliche nachhaltige Landwirtschaft der Agraruniversität „La Molina“ und natürlich in der katholischen Kirche. Es gebe auch schon Anzeichen, dass das Konzept der „Nueva Ruralidad“ (Neue Ländlichkeit) eine größere Inklusion der Bauern erlaube. Dagegen könne man mit dem Ausdruck „soziale“ oder „therapeutische“ Landwirtschaft in Peru nichts anfangen. Wann immer ich jedoch das Konzept erwähnt habe, sei es an der Uni oder in „Kirchenkreisen“, habe es interessierte Gesichter gegeben und dazu wiederholt den Kommentar: „Geh nach Europa und mach dich dazu schlau!“

Ohne größere Umschweife kam ich also zur Sache: Ich bitte um Erlaubnis, für ein Jahr auf dem Hof mitarbeiten zu dürfen und zu lernen! Dr. Glasers spontane Offenheit verdankte sich wohl auch seinen Erfahrungen in Indien, wo er ländliche Entwicklungsprojekte mit einem einheimischen Priester begleitet. Und so schreibe ich heute diese Zeilen in der „Zielgeraden“ eines intensiven Jahres meines Lebens. Das Heimweh nach Peru ist nicht zu verbergen, aber erträglich, weil es tatsächlich jeden Tag viel Neues zu erleben und zu lernen gibt.

Hier wird richtig produziert und in komplexen Produktions-

systemen Mehrwert geschaffen, das geht von der Silierung von eigenem Gras und Mais über Milch und Molkerei. Genauso bemühen wir uns darum, dass im ganz normalen Trubel der Arbeit die Bewohner und Integrationskräfte eine Hauptrolle spielen, nicht trotz, sondern wegen ihrer besonderen geistigen und seelischen Begabungen und Grenzen.



ORDENSLEUTE GEGEN MENSCHENHANDEL

Die Einsichten um „soziale“ oder „therapeutische“ Landwirtschaft sollen eine konkrete Anwendung in meiner zweiten Heimat Peru finden und dabei in einem Zusammenhang ins Spiel gebracht werden, der auch für Europa neu wäre. Die Konferenz peruanischer Ordensoberen und -oberinnen, das Leitungsgremium für Dienste und Aktionen der Ordensleute, artikuliert eine Arbeitsgruppe, die sich mit einem Phänomen auseinandersetzt, das sich nicht nur rasant ausbreitet, sondern oft als unüberwindlich gilt: das Verbrechen des Menschenhandels, überwiegend zur sexuellen Ausbeutung von jungen Frauen und Mädchen.

Das Problem taucht überall im Land auf, aber es ist schwerpunktmäßig im Einzugsbereich des Goldabbaus virulent, also in illegalen Minen im Amazonasbecken und in den Hoch-

anden. Dort bereiten die geographische und strukturelle Nähe zu anderen kriminellen Aktivitäten, sowie die Schwäche oder Abwesenheit des Staates, einen idealen Nährboden. Natürlich sind Prostitution, sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel verschiedene Dinge, die es auseinanderzuhalten gilt, aber es stimmt auch, dass eine Dynamik „unterirdischer Kanäle“ besteht, durch die sich die drei Phänomene gegenseitig verstärken. So geht es dem Netzwerk Red Kawsay – Ordensleute für eine Gesellschaft ohne Menschenhandel, das seit 2010 als Initiative der Konferenz peruanischer Ordensleute besteht, vor allem um Aufklärung und Vorsorge in dieser Thematik. Der Begriff Kawsay kommt aus der Inkasprache Ketschua und bedeutet „lebe“ oder „du sollst leben“. Dabei ist wichtig zu wissen, dass in Peru Ordensleute nicht nur generell mehr Glaubwürdigkeit als staatliche Einrichtungen besitzen, sondern auch da präsent sind, wo der Staat nur begrenzt interveniert, also in den Randgebieten der Stadt und eben auf dem Land. Und selbstredend ist ländliche Armut und Perspektivlosigkeit der wichtigste Grund, warum Mädchen in die Fänge der Menschenhändler und ihrer falschen Versprechungen geraten.



RED KAWSAY IN PERU

Dabei haben die allermeisten jungen Frauen auch eine persönliche Geschichte mit Gewalt oder Ausbeutung im eigenen familiären Umfeld. Ich selber mache seit 2010 bei „Red Kawsay – Perú“ mit (es gibt die Gruppe auch in anderen Ländern Südamerikas) und bin eines von 27 Mitgliedern, von denen 24 Ordensfrauen sind. Unsere Aktionen zur Weiterbildung, Aufklärung und Druck auf die Verantwortlichen in der Politik ziehen jedes Jahr weitere Kreise. Als „Red“ – spanisch für „Netzwerk“ – ist die Arbeit der Vernetzung natürlich nicht auf kirchliche Kreise beschränkt, sondern sucht genauso die Artikulation mit Aktoren der Staates und der Zivilgesellschaft. Namhafte NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) aus Peru und dem Ausland bieten unserer Gruppe Weiterbildung an und stellen uns Material zur Verfügung, das wir über Kontakte in Armenvierteln der Stadt und Missionen im Landesinnern an die Menschen verteilen. Die notwendige Breitenwirkung ist nur gemeinsam zu schaffen. Wir Ordensleute stellen uns damit einer Aufgabe, die die ganze Gesellschaft in die Pflicht nimmt.



LEBENSORT EHEMALIGER OPFER

Nicht zuletzt von diesen „weltlichen“ Mitstreitern und Mitstreiterinnen kommt seit Ende 2012 die Aufforderung, wir Ordensleute sollten uns verstärkt um die Begleitung ehemaliger Opfer des Menschenhandels kümmern. Es braucht keine besondere Phantasie, um sich vorzustellen, welche Traumata die Erlebnisse von Versklavung und Ausbeutung hinterlassen. Und trotzdem ist das Wort vom „Opfer“ nicht ganz zutreffend, denn wenn die Mädchen und jungen Frauen es schaffen, festen Boden unter die Füße zu bekommen, beeindruckt oft ihre „Resilencia“, also die Energie und Entschiedenheit, um das eigene Leben zu kämpfen und auch zu gewinnen.

Wie aber gehen wir vor in der Begleitung ehemaliger Opfer des Menschenhandels – oder besser „er-mächtigter“ Mädchen? Seit 2013 organisiert Red Kawsay – Perú „Missionen“ von zwei bis drei Wochen in der Amazonasregion Madre de Dios, im Dreiländereck von Peru, Brasilien und Bolivien. Dort hat der Menschenhandel im Dunstkreis des illegalen Goldabbaus, des Drogenanbaus und der Abholzung von Edelhölzern massiv zugenommen. Diese Besuche sind kleine Anstrengungen, die Aktivitäten der Ortskirche und der Zivilgesellschaft gegen Menschenhandel zu kennen und zu stützen. Dabei lernten wir, dass die große Mehrheit der Opfer nicht aus der Region selbst, sondern aus Cusco und Puno stammen, also aus den Anden. Und dorthin werden sie von der Polizei nach den periodischen Razzien auch wieder abgeschoben werden.



THERAPEUTISCHE BEGLEITUNG

Und so sind wir wieder bei der „therapeutischen Landwirtschaft“ und damit auf dem Aspichhof: Wenn wir es schafften, als Netzwerk gemeinschaftlich einen kleinen Hof in Puno oder Cusco zu übernehmen, auf dem sich das Aspichhof-Konzept umsetzen ließe… Wenn es uns gelänge, so wie auf dem Aspichhof, Produktivität mit therapeutischer Begleitung zu verbinden… Wenn die Mädchen praktische und produktive Dinge lernen könnten – sie sind ja von der ländlichen Armut und der Gewalt davongelaufen – und dabei wieder Mut und Geschmack am Leben fänden… dann hätte Red Kawsay – Perú ein kleines, aber sprechendes Zeichen der Hoffnung gesetzt…

 

BENEDIKTINISCH ODER FRANZISKANISCH?

Das Wort von der „Selbstversorgung in geistlichen Dingen“ war sicher ein gelungener Ausdruck von Dr. Glaser beim Fest auf dem Aspichhof. Andererseits hat die „Autarkie“ – nicht nur die der Benediktiner – auch ihre Widersprüche. Franziskus von

Assisi jedenfalls hatte auf seinem geistlichen Weg mehr Gewicht auf die „gegenseitige Abhängigkeit“ gelegt. So brachte ihn die Menschwerdung „aus dem Häuschen“, weil Gott selber sich abhängig machte von uns Menschen.

Und noch ein Franziskus: Der Ordensmann Jorge Mario Bergoglio sprach schon früher gerne von „Inter-dependencia“, also der gegenseitigen Abhängigkeit, und seine beständige Rede von der „Peripherie“ – Gott geht an den Rand und ist am Rand zu finden – ist jetzt auch Europäern geläufig. Dazu war sein Kampf gegen Menschenhandel so unerbittlich, dass er sogar gegen sein geliebtes Buenos Aires leidenschaftlich wetterte… und als Papst Franziskus rief er kürzlich das „Jahr des gottgeweihten Lebens“ aus und damit nimmt er uns Ordensleute ganz tüchtig in die Mangel!

Sie, liebe Leserinnen und Leser, können es sich vielleicht schon zusammenreimen: Wenn Cusco, Puno und Madre de Dios in der „Peripherie“ von Peru geortet sind, dann ist die Erfahrung von Versklavung und Ausbeutung mit „existentieller Peripherie“ wohl zutreffend beschrieben. Der „LebensOrt“, an dem Red Kawsay – Perú bastelt, soll aber nicht nur anderen auf die Beine helfen. Er soll auch uns Ordensleute provozieren, Frauen und Männer, in Prozessen subtiler gegenseitiger Abhängigkeit und Bereicherung durch die „er-mächtigten Mädchen“ unsere Berufung neu zu entdecken.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016