Atemberaubender Aufbruch
Siebzig Jahre nach ihrer Schließung durch die kommunistischen Behörden wurde die Moskauer Immakulata-Kathedrale am 12. Dezember 1999 in der Malaja Grusinskaja Straße wieder eröffnet, ein Freudentag für die Katholiken dieses Landes, die Jahrzehnte lang im Untergrund lebten, und auch heute nur einen verschwindend geringen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen.
Das Gebiet der Russischen Föderation ist das größte zusammenhängende Staatsgebiet der Erde. Es erstreckt sich über 10.000 Kilometer von West nach Ost und 5000 Kilometer von Nord nach Süd – und das auf zwei Kontinenten, Europa und Asien. Der Kaukasus bildet die Südostgrenze. Die Fläche von gut 17 Millionen Quadratkilometern umfasst 48-mal Deutschland und bietet knapp 150 Millionen Menschen Lebensraum. Davon ist nur knapp ein Prozent katholisch.
Renaissance der Religion. Für die Christen in Russland war das letzte Jahrzehnt des ausklingenden 20. Jahrhunderts von einschneidender Bedeutung, eine religiöse Renaissance, denn der Anteil der Gläubigen hat seit dem Ende der Sowjetunion bedeutend zugenommen. In wenigen Jahren wurden Tausende orthodoxe Kirchen vom Staat zurückgegeben und unendlich viele Menschen getauft. Sprach man 1986 von schätzungsweise 60 Prozent, so waren Ende 1992 bereits 75 Prozent der Russen getauft.
Den Katholiken Russlands standen jahrzehntelang nur drei Gotteshäuser - in Moskau, Odessa und Leningrad - zur Verfügung. Heute gibt es in der 13 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt Moskau zwei katholische Kirchen: die Kirche des heiligen Ludwig, die auch in Zeiten der Verfolgung geöffnet war, und die neu eingeweihte Immakulata-Kathedrale.
Russlands Kirchengeschichte. Russland ist ein orthodoxes Land, aber in allen Jahrhunderten seiner Kirchengeschichte versuchte der Heilige Stuhl Einfluss auf Osteuropa auszuüben. Im 12. und 13. Jahrhundert gab es unter anderem in Kiew, Smolensk und Novgorod katholische Kirchen, und Mitte des 12. Jahrhunderts kam sogar Bernhard von Clairvaux auf Einladung des Bischofs von Krakau nach Russland, um zu predigen.
Die praktizierenden Katholiken waren jedoch überwiegend ausländische Kaufleute, die sich in russischen Städten niedergelassen hatten. Die Russen selbst konnten sich mit dem katholischen Glauben nicht anfreunden, weil er für sie oft mit militärischen Gegnern verbunden war, je nach Epoche mit Deutschen, Polen oder Litauern.
Im 16. Jahrhundert erkannte die Orthodoxe Kirche der Süd- und Westgebiete Russlands das katholische Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes an, bewahrte sich aber das orthodoxe Brauchtum. So entstand in der Ukraine und in Weißrussland die griechisch-katholische (vereinte) Kirche, die im Verlauf der Geschichte Grund für viele Konflikte werden sollte.
Entfremdung und Verfolgung. Im 18. Jahrhundert wurden dem Russischen Reich viele Gebiete mit überwiegend katholischer Bevölkerung einverleibt (wie z.B. Lettland und Litauen), aber die Entfremdung blieb. Die mehrmalige Teilung Polens, der Krieg mit dem napoleonische Frankreich und die polnischen Aufstände führten dazu, dass 1839 die griechisch-katholische Kirche in Russland aufgelöst wurde, wenn auch offizielle Beziehungen bis 1917 existieren.
Im 20. Jahrhundert schließlich, bald nach der Revolution von 1917, brachen die Bolschewiken endgültig die diplomatischen Kontakte zum Vatikan ab. Der Katholizismus und alle anderen Konfessionen wurden rigoros verfolgt.
Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Perestroika erlebte die katholische Kirche in Russland eine Wiedergeburt.
Es tut sich viel. 1991 ernannte Papst Johannes Paul II. Tadeusz Kondrusiewicz zum Erzbischof aller Katholiken des lateinischen Ritus im europäischen Teil Russlands. Heute gehören sie zur Apostolischen Verwaltung Nordrussland. Vor zwei Jahren wurde der Deutsche Clemens Pickel Bischof für die Apostolische Verwaltung Südrussland, die Regionen am Don, an der Wolga, aber auch den nördlichen Kaukasus mit Tschetschenien und Dagestan umfassen. Bischof Pater Joseph Werth SJ ist verantwortlich für die Apostolische Verwaltung Westsibirien mit Sitz in Novosibirsk und Apostolischer Administrator für Ostsibirien und den Fernen Osten (Sitz: Irkutsk/Baikalsee) wurde 1999 der Pole Bischof Pater Jerzy Mazur SVD.
Heute schätzt man die Anzahl der Katholiken in Russland auf zirka 1.300.000. In den vergangenen zehn Jahren hat sich für sie viel verändert.
Seit 1991 gibt es in Moskau das Kolleg Thomas von Aquin, an dem Laien katholische Theologie studieren können. 1992 ist das Priesterseminar wieder eröffnet worden, an dem heute in Petersburg 75 Seminaristen studieren.
Die Caritas arbeitet seit acht Jahren engagiert im ganzen Land und seit 1994 gibt es die katholische Zeitung Svet Evangelja (Licht des Evangeliums), ein Organ, das die Katholiken in Russland miteinander verbindet. Ein weiterer Höhepunkt im katholischen Leben Russlands war der Pfingstsonntag 1999, als erstmals seit der Oktoberrevolution von 1917 wieder drei katholische Priester geweiht wurden.
Kongress zur Eucharistie. Am 26. Mai 2000 wurde in Moskau im Rahmen des Heiligen Jahres der erste Eucharistische Kongress Russlands zu dem Thema Eucharistie – Quelle und Höhepunkt des christlichen Lebens (Lumen Gentium, 11) abgehalten. Das Programm gab auch der russisch-orthodoxen Schwesterkirche die Möglichkeit sich einzubringen. Zum Eröffnungsgottesdienst war ein Vertreter des Patriarchen gekommen. In einem der gut besuchten Foren am Samstag sprach Vladimir Fjodorov aus Petersburg, russisch-orthodoxer Priester und Professor am Geistlichen Seminar, über die Eucharistie als Kraftquelle des Glaubens, und auch Laien vieler orthodoxer Pfarreien nahmen an den verschiedenen Veranstaltungen teil.
Die katholische Kirche versuchte, ein Zeichen zu setzen, dass der oft aufkommende Vorwurf des Proselitismus, des Abwerbens orthodoxer Gläubiger, nicht zutrifft. In einigen Erfahrungsberichten der Teilnehmer wurde dies besonders deutlich.
Ein Leben in Jesus. Nina Vjasovetskaja ist Russin, 20 Jahre, Studentin der Medizin. Sie wurde 1990 in der russisch-orthodoxen Kirche getauft.
Ich war zehn Jahre alt, als man mich taufte und damals ging ich nur an hohen Feiertagen zum Gottesdienst. Aber irgendwann spürte ich in mir eine große Leere, wenn ich sonntags zu Hause blieb. Mir schien, als ob jemand vergeblich auf mich warten würde. Mit der Zeit verstand ich, dass mein Leben erfüllt ist, wenn Jesus in mir wohnt. Aber wo konnte ich ihn finden? Er selbst hatte es ja gesagt: in der Eucharistie.
So begann ich, in meiner Kirche öfters zur Kommunion zu gehen und bemerkte schnell, dass jedes Mal die Beziehung zu Jesus enger wurde. Mein Leben trat in ihn ein und er trat in mich ein.
Im letzten Monat habe ich an einem internationalen Kongress für junge Christen teilgenommen. Die überwiegende Anzahl der Teilnehmer war katholisch, und jeden Tag wurde die heilige Messe gefeiert. Ich nahm daran teil, weil ich mit diesen meinen Nächsten eins sein wollte. Aber ich verspürte einen großen Schmerz, weil ich als russisch-orthodoxe Christin in einem katholischen Gottesdienst nicht kommuniziere. Wie konnte ich dennoch am Mahl der Liebe teilhaben?
Eucharistie-Erlebnis. Diese Frage quälte mich, aber ich verstand auch ganz klar, dass ich den Willen Gottes leben wollte. Und das bedeutete für mich in diesem Moment, eine gute russisch-orthodoxe Christin zu sein und das zu befolgen, was mir meine Kirche sagt.
Ich erinnerte mich an Jesus den Gekreuzigten und versuchte, in seinem Schmerz den meinen anzunehmen. Dieser Augenblick wurde für mich Kommunion und Vereinigung mit Gott…
Es war ein einschneidendes Erlebnis, die Wirkkraft des eucharistischen Jesu in dem Augenblick zu entdecken, in dem ich ihn aus Liebe zu meiner Kirche verlieren musste. Dafür bin ich unendlich dankbar.
Neues Kapitel. Nach 15 Monaten intensivster Arbeit wurde am 8. September 2000 in Irkutsk im Rahmen des ersten Marien- und Mariologischen Kongresses die Kathedrale zum Unbefleckten Herzen der Gottesmutter geweiht. Teilnehmer aus der ganzen Welt bezeugten, dass die gesamte Christenheit die Kirche in Russland stützt und begleitet. Viele Deutsche und Deutschstämmige hatten Gelegenheit, sich in diesen feierlichen Tagen mit Sibirien, das vielen in der Geschichte eine Wunde geschlagen hatte, zu versöhnen.
Die Kirche in diesem Land, das groß wie ein Kontinent ist, hat nach bewegten Jahrhunderten begonnen, ein neues Kapitel ihrer Geschichte zu schreiben.