Auf der Suche nach Heimat

26. August 2013 | von

„Wer sich überall zu Hause fühlt, ist nirgends daheim“, sagt ein russisches Sprichwort. Natasha hatte gerade

ihren zweiten Geburtstag gefeiert, als ihr Vater, ein ungarischer Wissenschaftler, einen verlockenden Forschungsauftrag in Russland bekam. Die immerhin sechsköpfige Familie verließ Budapest und zog um nach Moskau. Wo konnte die kleine Natasha Wurzeln schlagen? Was prägte sie? Wie sah sie sich selbst?




Ungarisch sprach die kleine Natasha mit ihren Geschwistern, als ich sie in Moskau kennenlernte. Das war zu Hause in der Familie die Umgangssprache. Mit mir kommunizierte sie mühelos in Russisch. Das sprach sie tagsüber mit ihren Freunden im Kindergarten.


DRITTKULTURKINDER

In den nächsten Jahren beobachtete ich immer wieder mit Erstaunen, wie Natasha sich scheinbar problemlos in zwei Welten entwickelte: die russische Schule, ihre russischen Freundinnen, ihr Lieblingsgericht Borschtsch und zwei Mal pro Woche am Nachmittag die ungarische Schule mit Geschichts- und Sprachunterricht.

So wie hier Bela und Magdi, Natashas Eltern, gehen viele Familien in andere Länder und Kontinente. Der Arbeitsmarkt verlangt verstärkt Flexibilität und die Bereitschaft, immer wieder umzuziehen. Die Kinder bilden, so Untersuchungen zufolge, die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe der Welt. Sie werden third culture kids genannt, Drittkulturkinder, die weder der Kultur ihres Geburtslandes noch der Kultur ihres Gastlandes angehören.

Eines Tages fragte Natasha nach der Schule: „Was ist eigentlich Heimat ?“ Bela und Magdi bemerkten, dass ihrer Tochter eine wichtige Erfahrung fehlt. In der sogenannten Latenzzeit, der Entwicklung zwischen fünf und zehn Jahren, in denen die Identität eines Kindes ausgebildet wird, hatte Natasha offensichtlich keine eindeutige Prägung erhalten. Die Familie beschloss, zurück nach Ungarn zu gehen. Natasha sollte ihre Wurzeln in ihrem Geburtsland ausstrecken und festigen.



UBI BENE IBI PATRIA?

Stefan, ein deutscher Journalist Mitte Vierzig, der seit vielen Jahren in Groningen arbeitet, ist hingegen überzeugt: „Heimat ist, wenn die Verkäuferin am Kiosk mir ungefragt meine Zigarettensorte aus dem Regal zieht. Oder wenn mir mein Kind entgegenläuft und ungestüm um eine Umarmung bettelt. Heimat ist für mich, unabhängig von einem bestimmten Land, überall auf der Welt, wo mich die Menschen lieben und verstehen.“ Der aus meiner Heimatstadt Göttingen kommende Musiker Herbert Grönemeyer hat das offensichtlich auch entdeckt und bestätigt es in seinem Song: „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl“. Also „Ubi bene, ibi patria“ – Wo es mir gut geht, ist meine Heimat?

Ich wurde in Argentinien geboren, bin in Deutschland aufgewachsen und habe mehr als die Hälfte meines Lebens in immer wieder anderen Ländern verbracht. Ich bin davon begeistert, neue Kulturen und Sprachen kennenzulernen. Viele Jahre fühlte ich mich als Weltenbürger, als Globalplayer und bewegte mich sicher auf internationalem Parkett.



HEIMAT IST VERTRAUEN

Aber irgendetwas verändert sich! Plötzlich merke ich, wie angenehm es ist, eine Sprache, nämlich meine Muttersprache, ohne Mühe zu sprechen und zu verstehen. Ich dekliniere die Substantive intuitiv richtig. Ich verstehe den Schalterbeamten auf Anhieb, ohne wiederholt nachfragen zu müssen. Ich weiß, wo im Supermarkt die leckeren Schaum-Schokoladenbaisers aus meiner Kindheit stehen und brauche kein Navigationsgerät, um von A nach B zu kommen. Die sanfte Hügellandschaft mit den Obstbäumen, die im Frühling rosafarbig blühen, erinnert mich an glückliche Ausflüge mit der Familie.

Heimat fühlt sich wie Vertrauen an… Vertrauen zu einer mir von klein auf bekannten Umgebung und Lebensweise. Sie ist ein „Sich sicher fühlen“ mit den Menschen und den Dingen, die mich umgeben und die ich kenne. Heimat ist für mich nicht nur Gefühl, sondern auch ganz konkret an einen Ort und seine Menschen gebunden.



IDENTITY-PATCHWORK

Und wie sieht es in der heutigen Gesellschaft aus? Heimat ist ja für viele kein fester Ort mehr, sondern ein Moment, ein Platz, an dem man gerade lebt. Mit der Globalisierung läuft ein doppelter Prozess ab. Einerseits benötigen wirtschaftliche Tätigkeiten immer mehr Raum zur Entfaltung, andererseits suchen die Menschen immer kleinere Räume, in denen sie sich zuhause und sicher fühlen. Die Familie von Natasha hatte sich bei ihrem Umzug von Ungarn nach Moskau die Wanduhr der Großmutter mitgenommen. „Das Schlagen der Uhr zur vollen Stunde erinnert mich an meine Kindheit und vermittelt das Gefühl von Zuhause“, erklärte mir Magdi.

Der Volksmund sagt: „Es braucht ein Dorf, um ein Kind aufzuziehen“. In der Linguistik gibt es keinen Plural für das Wort Heimat. Heimat gibt es nur in der Einzahl. Und was geschieht, wenn wir fortwährend sozusagen von Dorf zu Dorf ziehen? Die gängige Meinung sagt, dass Heimat als Ort des Vertrauens, der Sicherheit, ortsunabhängig ist. Wir können uns Heimat selbst schaffen, indem wir uns immer wieder neue Orte mit fremden Menschen und Gewohnheiten erschließen. So entsteht ein Patchwork von Identität(en). Das ist im besten Fall, so meine ich, eine lebenslange Aufgabe, die uns jedoch an einem bestimmten Punkt auch hoffnungslos überfordern kann.



WO IST MEINE WAHRE HEIMAT?

„Die Fremde ist herrlich, solange es eine Heimat gibt, die wartet“, sagte einmal Erika Mann, Schauspielerin und Tochter des Schriftstellers Thomas Mann.

Letztes Jahr ist meine Mutter gestorben. Sie war, außer meinem Bruder, meine einzige lebende Verwandte und wohnte in der Stadt, in der meine Familie über vierzig Jahre angesiedelt war. Nie werde ich den Moment an ihrem offenen Grab vergessen, in dem ich verstand: Mit ihr stirbt ein Teil meines Lebens, mit ihr habe ich auch ein Stück Heimat verloren. Mir wurde deutlich, wie stark ich durch familiäre Bande, Erziehung, Land und Kultur geprägt bin. Ich verstand, dass ich Jahrzehnte lang – unter anderem dank dieser Verwurzelung – die Herausforderungen der Fremde annehmen konnte. Wie sollte es jetzt weitergehen?

Wenig später rüttelte mich der Satz von Paulus auf: „Unsere Heimat aber ist der Himmel, von wo wir auch den Heiland erwarten, den Herrn Jesus Christus“ (Philipperbrief 3,20). Ich verstand: Mein Leben als Christin ist nun mehr denn je gefragt! 

Der Glaube, den mir meine Eltern mit einer christlichen Erziehung vermittelt hatten und der mich viele Jahre wie selbstverständlich begleitet hat, soll jetzt neu entdeckt werden.



JESUS IN UNSERER MITTE

In der russisch-orthodoxen Liturgie heißt es beim Friedensgruß: „Jesus ist in unserer Mitte.“ Der Gemeinde antwortet: „Er ist es und wird es sein.“ Diese Worte berühren mich immer wieder aufs Neue. In meinem Alltag mache ich die Erfahrung: Dort, wo Menschen sich im gegenseitigen Bemühen um christliche Liebe begegnen, gibt es – inmitten von Unrast und Leid – Oasen des Friedens und des Glücks. Dort öffnet sich für einen Moment sozusagen ein Stück Himmel.

Und ich wage die steile These: Die Heimat im Himmel ist Ort und Gefühl zugleich, ein Mix, bei dem alles stimmt. Jeder von uns findet dort seine „Mitte“, seine wahre Identität, und die Sehnsucht nach Geborgenheit wird für immer gestillt sein. Wir werden endlich angekommen sein.






Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016