Ausgegrenzte ins Leben rein nehmen
Der ältere Herr bietet mir freundlich einen Platz an, und lädt mich zu einer Tasse Kaffee ein. Auch ein paar Plätzchen müssen sein, findet er, “sonst schmeckt der Kaffee ja so trocken”.
Dann setzt er sich zu mir, und so nach und nach kommt ein recht munteres Gespräch in Gang, in dem er mir von sich erzählt. Sein halbes Leben hat er als Zweigstellenleiter einer Bank verbracht und die eine oder andere Anekdote ist noch sehr lebendig in ihm. Von Frau und Kindern erzählt er und von seinem damaligen Haus.
Ein heiterer Nachmittagsplausch im Seniorentreff der Gemeinde? Es könnte fast so scheinen, doch wir befinden uns im “Nichtsesshaftenheim” des Caritas-Verbandes und mein Gesprächspartner entspricht so gar nicht dem Klischee, das gemeinhin über wohnungslose Menschen im Umlauf ist.
Obdachlose sind anders. Was prägt unser Bild wenn wir mit Obdachlosen – in der Regel nur flüchtig – in Berührung kommen? Ist es das äußere Erscheinungsbild, die oftmals abgetragene und nicht unbedingt saubere Kleidung, die Bierdosen oder die Schnapsflasche in der Hand, die Plastiktüten, in denen die Menschen oft ihr ganzes Hab und Gut aufbewahren? Oder fallen uns eher die Gesichter auf, die häufig von Krankheiten und von einem harten Leben auf der Straße gezeichnet sind? In der Regel werden die Obdachlosen zunächst einmal in ihrem Anderssein wahrgenommen – sie unterscheiden sich von Menschen, die in so genannten geordneten, bürgerlichen Verhältnissen leben. Zu dieser äußeren Wahrnehmung gesellen sich dann aber auch ganz schnell und unbewusst innere Einstellungen: Selber schuld?! Soll er doch arbeiten gehen! Armer Teufel! Störenfried?
Zwischen Mitleid und Schuldzuweisungen hin- und hergerissen, reagieren viele Menschen in dem sie möglichst schnell wegsehen und ihren Weg fortsetzen, oder fast verstohlen das eine oder andere Geldstück in die Pappschachtel werfen. Die meisten Menschen tun sich schwer mit solchen Außenseitern unserer Gesellschaft, die im wahrsten Sinne des Wortes außen leben.
Berührungspunkte in der Pfarrei. Auch für christliche Gemeinden ist es nicht selbstverständlich, in Kontakt mit den Menschen zu kommen, die “Platte“ machen, also ohne festen Wohnsitz unter Brücken, in U-Bahnhöfen oder in Parkanlagen leben. Anlaufstelle für viele Obdachlose ist allerdings in vielen Gemeinden das Pfarramt, das sie mehr oder weniger regelmäßig aufsuchen, um dort eine bescheidene finanzielle Unterstützung oder Lebensmittelgutscheine zu erbitten. Gerade für städtische Gemeinden ergeben sich also im caritativen Bereich Berührungspunkte mit den Menschen, die sich in dieser speziellen Notlage befinden. Leider aber gilt auch, dass sich die Kontakte damit in der Regel schon erschöpfen, vielfältige Gründe führen zu dieser Situation. Auch Gemeindemitglieder sind nicht ausgenommen von den üblichen Berührungsängsten, das Territorialprinzip einer Pfarrei (zur Gemeinde zählen die im Pfarrbezirk “gemeldeten“ Personen) führt zu einer Verengung der Sicht, die Seelsorge mit Obdachlosen gilt vielen als eine Sonderform der Pastoral, ähnlich der Krankenhausseelsorge oder der Gefängnisseelsorge.
Etwas anders kann sich die Situation darstellen, wenn sich auf dem Gemeindegebiet ein Nichtsesshaftenheim befindet und damit eine Anlaufstelle, ein Ort vorhanden ist, der Begegnung ermöglicht. Erfahrungsgemäß aber bedarf es auch hier der Initiative der Betroffenen sowie der Betreuer, um von einer Gemeinde wahrgenommen zu werden. Zu fremd erscheint vielen die Welt der Obdachlosen, zu fern und beängstigend ihre Lebensumstände.
Menschen, die stark machen. Die Sozialarbeiter und Seelsorger stehen in einem Geflecht gesellschaftlicher Rahmenbedingungen wenn sie sich der Aufgabe und Arbeit mit obdachlosen Menschen zuwenden. Ihre Aufgabe ist in erster Linie, die Menschen zu stärken auf ihrem Weg zurück in ein normales bürgerliches Leben, ihnen konkrete Hilfe anzubieten bei Wohnungs- und Arbeitssuche und sie gerade nach längerer Obdachlosigkeit schrittweise wieder an regelmäßige Strukturen und dem Aushalten von Belastungen heranzuführen. Resozialisierungsmaßnahmen also, die dazu dienen dass der Einzelne in seinem Verhalten bürgerlichen Maßstäben wieder gerecht werden und somit für sich selbst sorgen kann.
Grenzen. Im Gespräch mit Sozialarbeitern vor Ort wird aber auch schnell klar, wie eng die Grenzen gesetzt sind, die der Staat mit seinen Hilfsprogrammen gewährt. Nichtsesshaftenheime sind sicherlich eine Auffangstation für Menschen in Not, aber wer einmal versucht hat, jemandem zu einer Arbeit zu verhelfen, der eine solch “stigmatisierende“ Adresse angeben muss, weiß anschließend, dass derartige Notunterkünfte durchaus ihre Kehrseite haben. Außerdem beklagen sich viele Verantwortliche über mangelnde Sinn-Angebote für die Menschen. Die “Leib-Sorge“, ist ihrer Einschätzung nach staatlicherseits recht umfangreich. Aber was Sorge macht, sind die fehlenden Lebensperspektiven der Menschen. Ihre Fragen und ihre Suche nach Sinn werden nicht aufgegriffen und es bleibt dann der privaten Initiative Einzelner überlassen, ob sie zusätzlich zu ihrer sozialarbeiterischen Aufgabe sich dieser so dringend erforderlichen Thematik zuwenden. Diese Arbeit geschieht in einem Umfeld, das hauptsächlich von Ausgrenzung geprägt ist. Von der Erfahrung, dass es oft Lippenbekenntnisse sind, wenn Menschen grundsätzlich nichts gegen Obdachlose haben, aber sehr schnell auf die Barrikaden gehen, soll in ihrer Nachbarschaft ein Nichtsesshaftenheim entstehen. So entsteht bei den Sozialarbeitern ein ungutes Gefühl, wenn sich in der Vorweihnachtszeit plötzlich die Besuche im Heim häufen, während das restliche Jahr bestenfalls von öffentlicher Ignoranz geprägt ist.
Perspektiven aus dem Glauben. Seelsorge mit diesen Menschen kann und muss oftmals Einzelfallhilfe sein: mit dem Betroffenen sprechen, Lebenserfahrungen aufarbeiten und Perspektiven für die Zukunft ermöglichen. Sie bedeutet auch, sich mit den bitteren Erfahrungen von Ausgrenzung und Ablehnung auseinander zu setzen aber auch die Fragen nach Schuld und Versagen zuzulassen und im Horizont christlichen Glaubens nach Antworten zu suchen. Das ist sicherlich eine Aufgabe, der sich vor allem die hauptamtlichen Seelsorger widmen können, weil ihre Möglichkeiten oftmals über die zeitlichen und persönlichen Voraussetzungen ehrenamtlicher Mitarbeiter einer Gemeinde hinausgehen. Dennoch ist damit eine Gemeinde aus ihrer Verantwortung nicht entlassen, denn gerade den Menschen Heimat zu geben, die keine mehr haben, entspricht in ursprünglicher Weise auch der Botschaft Jesu. Dass dies dann keine “Einbahnstraßen“-Kommunikation sein kann, sondern die Bereitschaft zum Dialog erfordert, ist eine der Herausforderung dabei, denn eine seelsorgliche Begegnung findet letztlich nur dann statt, wenn sie in Achtung und Respekt vor dem Lebensweg des anderen geschieht.
Bittere Wirklichkeit. “Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen“ so beschreibt Jesus die Möglichkeit, ihm selbst zu begegnen. Eine einfache und bedingungslose Aussage, doch wir sind wohl häufiger versucht sie in unserem Sinne umzuschreiben:
Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mit den Schultern gezuckt und gedacht: Jeder ist seines Glückes Schmied.
Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mir eifrig erklärt was ich falsch gemacht habe.
Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mir eure Hilfe zugesichert, wenn ich das tue, was ihr wollt.
Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich benutzt um euch gut zu fühlen.
Bittere Sätze, die aber leider oft genug der Wirklichkeit entsprechen.