Begegnung mit dem Anderen statt Beschämung der Armen
800 Millionen Menschen, zumeist aus den reichen Ländern dieser Erde, verbringen Jahr für Jahr ihren Urlaub im Ausland. Der Tourismus ist längst ein Milliardengeschäft geworden, von dem im In- und Ausland ganze Wirtschaftszweige leben. Aus dem zumeist wohlhabenden Bildungsreisenden vergangener Jahrhunderte ist der Massentourist unserer Tage geworden.
“Von der Bettenburg daheim in die Bettenburg am Palmenstrand“, nannte ein Kulturpessimist dieses Verhalten einmal. Bleibt bei dieser Art von Reisen überhaupt die Möglichkeit, im fremden Land dem Anderen zu begegnen? Oder, zynisch angemerkt, wer dem Armen nicht begegnet, kann ihn schwerlich beschämen.
Typisch, das bezieht sich wieder einmal auf die “Neckermänner“ dieser Welt, die All-inclusive-Touristen, wird ein Kritiker anmerken. Recht hat er. Doch leider schaffen Herr und Frau Neckermann allein durch ihre schiere Anzahl Tatsachen, denen wir uns später zuwenden werden.
Der ideale Reisende. Wie sähe wohl der ideale Reisende aus? Er ist sich darüber im Klaren, warum er überhaupt reist. Er wird sich schon vor dem Aufbruch zuhause mit seinem Reiseziel beschäftigen, sich mit dessen Bewohnern, deren Geschichte, deren Sitten, deren Religion vertraut machen, wird sich Gedanken über das Verkehrsmittel machen, mit dem er anreist. Er wird viel Zeit mitbringen, sich eher auf Weniges konzentrieren statt eine Attraktion nach der anderen abzuhaken. Er wird versuchen, auf die Bewohner seines Reisezieles mit einigen Worten in deren Muttersprache zuzugehen, er wird eher zuhören statt selbst große Reden zu führen. Er wird – gerade in armen Ländern – nicht mit dem aus Sicht der Einheimischen vermeintlichen Reichtum protzen. Er wird der fremden Kultur, den fremden Menschen Respekt zollen, auch und gerade dem geringsten Bettler unter ihnen. Er wird das Gesehene weder unter dem Gesichtspunkt “Der edle Wilde“ verklären, noch wird er es mit der Brille des Vorurteils betrachten. So weit also die Skizze eines idealen Reisenden.
Ignoranz erzeugt Vorurteile. Natürlich gibt es diesen Prototypen im wirklichen Leben nicht. Aber auch der Durchschnittsreisende kann sich ihm wenigstens annähern. Er prägt nämlich das Bild, das Reisende und Bereiste sich vom jeweils anderen machen. Einwohner vieler Länder – es sind beileibe nicht immer arme – sind es leid, sich angesichts der Massen von “Gästen“ wie Fremde im eigenen Land vorzukommen. Man denke etwa an die Bewohner Mallorcas, die während der Ferienmonate von einer Invasion deutscher Sonnenhungriger regelrecht überrollt werden. Führen sich die Zugereisten dann noch auf wie die Herren der Insel, so schlagen schnell unterschwellig immer vorhandene Vorbehalte gegen Fremde um in Ablehnung oder gar offene Fremdenfeindlichkeit.
Ein anderes Beispiel. Der Autor erinnert sich an einen Urlaub in Griechenland in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In einer abgelegenen Bucht auf einer damals touristisch noch kaum erschlossenen Insel pflegten Touristinnen aus England, Deutschland oder Skandinavien “Oben ohne“ am Strand zu liegen und sich zu sonnen. Sicher dachten sie sich nichts dabei, denn zuhause begannen damals in den Freibädern ja auch die Hüllen zu fallen. Die jungen griechischen Männer machten sich ihrerseits einen Spaß daraus, ziemlich ungeniert am Strand entlang zu schlendern und das für sie ungewohnte Schauspiel zu betrachten. Das wiederum befremdete die nordischen Schönheiten, die sich vermutlich wie bei einer Fleischbeschau vorkamen. Sie beschwerten sich, wie unmöglich die Männer sich aufführten. Die wiederum dachten das Gleiche von den Badenixen.
Missverständnisse. Hätten sich die Touristinnen vor ihrer Reise über die Sitten und Gebräuche ihres Gastlandes informiert, wäre ihnen das Missverständnis erspart geblieben. So aber schuf ihr falsches Verhalten Urteile, oder besser, Vorurteile über den jeweils anderen.
Ein harmloses Beispiel. Weniger harmlos dagegen das Bombenattentat auf der “Trauminsel“ Bali, bei dem am 12. Oktober des vergangenen Jahres mehr als 200 Touristen ihr Leben verloren. Viele Berichterstatter und auch die indonesische Regierung waren sich schnell einig: Für sie steckten Mitglieder der Terrorvereinigung “Al Qaida“ hinter dem Anschlag. Die Regierung versprach, die Schuldigen zu suchen und sie vor Gericht zu stellen. Ihr Land sei ein sicheres Urlaubsland, in dem Fremde immer willkommen seien. Wohl wissend, dass nichts dem Geschäft mit dem Tourismus mehr schadet als die Überzeugung der Umworbenen, ihr Urlaubsziel könnte sich womöglich als lebensgefährlich herausstellen.
Terrorismus im Urlaubsparadies. Blickt man aber hinter die Kulissen, wie es ein kritischer Fernseh-Journalist tat, so stellt sich das Attentat nicht mehr nur in Schwarz-Weiß-Schablonen dar. Jener Nachtclub wurde von vielen Einheimischen als Fremdkörper angesehen, zumal er mitten in eine Wohnsiedlung erbaut worden war. Dem Neubau mussten Menschen weichen, die dort schon seit Jahren ihr Heim hatten. Den Gewinn steckten reiche Unternehmer ein, die mit Hilfe von wohlgesonnenen (bestochenen) Beamten die Baugenehmigung erhielten. Und dies für einen Glitzerpalast, zu dem die Einheimischen kaum Zutritt erlangen würden, den sie sich vermutlich nicht einmal würden leisten können. Es gärte also wohl in der Umgebung des Nachtclubs. Dort amüsierten sich leicht gekleidete Touristen aus aller Herren Länder, lärmten bis tief in die Nacht hinein, tranken Alkohol, schmusten auf offener Straße. Sie dachten sich nichts dabei, waren es von zuhause gewohnt.
In irgendeinem der zu kurz Gekommenen reifte vielleicht der Plan, dieses aus “Sündenbabel“, wie er es wohl sah, einfach weg zu bomben. Weil er und seinesgleichen nie gefragt worden waren, ob sie Nachtclubs und Diskotheken überhaupt in ihrer Nähe haben wollten. Weil sie keinerlei Nutzen davon hatten. Weil sie befürchteten, langfristig ihre kulturelle Identität zu verlieren und sie sich nicht anders zu helfen wussten.
Damit soll keinesfalls der feige Anschlag entschuldigt werden. War es doch wie meistens in solchen Fällen: er traf vollkommen Unschuldige. Aber bei Anschlägen wie jenem ist jeder gut beraten, wenn er einen zweiten oder dritten Blick auf das Geschehene wirft. Die alleinige Erklärung “Terrorismus“ ist zwar wohlfeil, greift aber meist zu kurz.
Womit wir bei der Frage angelangt sind: Welche Fehler gilt es beim Reisen zu vermeiden?
Viele, allzu viele Menschen suchen sich den Ort, an dem sie die angeblich schönsten Wochen des Jahres verbringen möchten, nach relativ banalen Kriterien aus. Sie fragen zuerst: Was kostet mich der Urlaub? Wie ist das Wetter am Ort meiner Wahl? Verstehen mich die Einwohner meines Gastlandes? Wie sicher ist das Reiseland? Wie komme ich am schnellsten dort hin?
Nach mir die Sintflut. Deutlich weniger Menschen suchen im Urlaub nicht das “All-inclusive-Glück“, dessen Gäste statt mit Geld mit clubeigenen Plastikkugeln oder –muscheln bezahlen. Sie suchen den Kitzel unerforschter Gebiete abseits vom Trampelpfad für Herr und Frau Jedermann. Sie dringen, weil sie es sich leisten können, zum Beispiel mit dem Hubschrauber in unberührte Bergregionen vor, um dort mit Skiern zu Tal zu fahren. Wenn sie dabei Lawinen auslösen, Tiere beunruhigen, die ums Überleben kämpfen - was soll´s. Hauptsache ist doch nur, sie selbst bleiben ungeschoren. Und wenn doch etwas passiert? Sollen doch die Männer von der Bergwacht ihr Leben einsetzen, um die Hasardeure zu retten.
Ähnlich ist es mit jenen Abenteurern, denen ihr geregeltes Leben in westlichem Standard zu langweilig ist. Sie müssen unbedingt etwa zu jenen Naturvölkern aufbrechen, die noch keine oder wenig Berührung mit der Zivilisation hatten. Sie bringen ihnen vielleicht als ungewolltes Gastgeschenk Krankheitserreger mit, gegen die hierzulande die meisten immun sind oder gegen die es wenigstens ein Mittel gibt. Unter ihren Gastgebern fordert ein an sich harmloser Grippe-Erreger aber möglicherweise Opfer. Was ist, wenn jene Waghälse im Gegenzug Erreger aus dem Busch mitbringen, an denen wiederum dort niemand stirbt, die sich aber in der so genannten Zivilisation verheerend auswirken.
Sexuelle Ausbeutung. Über ein besonders schmutziges Kapitel des modernen Tourismus ist bisher noch gar kein Wort verloren worden. Ich meine den Sextourismus und, in seiner widerwärtigsten Form, den Sextourismus in kinderschänderischer Absicht. Es ist an sich schon erbärmlich, das Elend von Menschen in den Ländern der so genannten Dritten Welt auszunutzen, ein Elend, das sie dazu treibt, ihren Körper zu verkaufen. Das ist vielleicht die eigentliche Beschämung der Armen, von der in der Überschrift die Rede ist. Ein Verbrecher ist jedoch der, wer sich an Kindern vergreift. Kinder, die an Bordellbesitzer verkauft, die entführt wurden oder vielleicht das Strandgut irgendwelcher Bürgerkriege sind, die über ihre Köpfe hinweg geführt werden. Kinder sind so leicht zu verletzen mit Wunden seelischer Art. Wunden, die sie für ein Leben lang zeichnen.
Gott sei Dank trifft das zuletzt Gesagte auf die allermeisten Touristen nicht zu.
Manche reisen, weil sie begierig sind, fremde Länder und deren Bewohner näher kennen zu lernen. Weil sie neugierig sind auf Unterschiede, auf Gemeinsames, auf Verbindendes und Trennendes. Weil sie zuerst den Menschen im jeweils anderen sehen und dann erst den Andersgläubigen, Andersfarbigen oder Andersdenkenden. So kommt der Dialog zwischen den Kulturen zustande, ziehen Bereiste und Reisende gleichzeitig Nutzen aus der Begegnung. Wenn dann noch durch den Aufenthalt im fremden, möglicherweise unterentwickelten Land sich die materielle Situation der Einwohner verbessert – gegen diese Art von Tourismus wird wohl niemand etwas haben. Diese Art Reisen erweitert wirklich den Horizont. Und lässt Vorurteile verschwinden, wie der Autor aus eigenem Erleben weiß.
Verhaltenscodex für verantwortliches Reisen
Aus dem Angeführten, das lediglich einen Teil der Probleme anreißt und keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt ergibt sich dennoch eine Forderung. Die nach einem Verhaltenscodex für Gutwillige nämlich, dem sich immer mehr Reisende unterwerfen. Zu einer neuen Ethik des Tourismus rief auch Papst Johannes Paul II in einer Botschaft zum “Welttag des Tourismus“ am 19. Juni 2001 auf. Sie solle helfen, den Dialog zwischen den Kulturen zu fördern und zu verhindern, dass Reisen zu einer modernen Form der Ausbeutung wird.
Konkret könnte eine allgemeinen Reiseethik wie folgt aussehen:
- Reisen ist keine Selbstverständlichkeit. Reisen ist immer noch das Privileg eines Bruchteils der Menschen, die diesen Planeten besiedeln. Sie müssen sich der Bedeutung dieses Privilegs klar sein und es mit Respekt und Verantwortung nutzen.
- Das Reisen muss so schonend wie möglich vonstatten gehen. Dies beginnt bereits bei der Wahl des Verkehrsmittels: Ein ernst zu nehmender Teil der Klimabelastung der Erde ist auf Verkehrsflugzeuge in Diensten der Tourismusindustrie zurückzuführen.
- Die ökologische und soziale Belastung des Reisezieles muss so gering wie möglich gehalten werden. Es geht beispielsweise nicht an, dass der Gast eines Hotels in einer Dürreregion bei einem einzigen Duschbad mehr Wasser verbraucht als der Nomadenfamilie vor dessen Türe pro Tag insgesamt zur Verfügung steht.
- Ein verantwortungsvoller Tourist wird generell kein Land bereisen, in dem die Menschenrechte nicht geachtet werden.
- Er wird niemanden sexuell ausbeuten.
- Er wird den Kleinhändler vor Ort fördern, beispielsweise durch den Erwerb echter Volkskunst
- Er wird kirchliche oder staatliche Entwicklungsprojekte in den bereisten Ländern besuchen und nach der Rückkunft finanziell unterstützen.
- Er wird so genannten “Sanften Tourismus“ betreiben. Dessen Nachhaltigkeit gewährleistet, dass auch noch unsere Enkel sich an den Schönheiten der Erde erfreuen werden.
- Tabu sollte der Besuch von Elendsvierteln sein. Sie sind nicht malerisch, höchstens lebensgefährlich, weil der vermeintlich Reiche dort Begehrlichkeiten weckt. Wo Menschen um das nackte Überleben kämpfen, zählt ein Menschenleben nicht viel. Wer helfen will, spricht mit einem Priester oder Obmann der Armen und gibt diesen Geld. Sie werden wissen, wer es am nötigsten braucht.
- Tabu sollten auch letzte “Weiße Flecken“ auf der Landkarte und Bettenburgen sein, deren Erlös meist ausländischen Investoren zugute kommt und in denen Einheimische – wenn überhaupt – höchstens zu Hungerlöhnen eine Arbeit als Tellerwäscher bekommen.
- Besser ist es, kleine Hotels zu buchen, die von Einheimischen geführt werden. Sie sind vielleicht nicht so komfortabel, aber sie geben Einheimischen Lohn und Brot. Wer dann noch in den Garküchen der kleinen Leute isst oder über heimische Märkte geht, kommt ganz schnell in Kontakt zu Land und Leuten.