Betonbarriere quer durch Berlin
Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten. Walter Ulbricht (1893-1973), Vorsitzender des Staatsrates der DDR, während einer Pressekonferenz am 15. Juni 1961 auf die entsprechende Frage eines Journalisten.
Mauerlüge. Nicht einmal zwei Monate später, am 13. August 1961, weiß es die ganze Welt: Das ostdeutsche Staatsoberhaupt mit dem charakteristischen Spitzbart und dem sächsischen Dialekt hatte gelogen. In den frühen Morgenstunden jenes Sonntags rücken Einheiten der Volkspolizei und der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik aus, um entlang der Grenze zwischen den Sektoren der drei Westalliierten USA, Großbritannien und Frankreich einerseits und des sowjetischen Sektors andererseits eine Mauer zu errichten. Von bis dato 81 Übergangsstellen werden 69 geschlossen. Bewohner der DDR und Ostberlins dürfen sie nur noch mit besonderer Erlaubnis passieren. Ein Staat hatte die Notbremse gezogen.
Rückblick. In den Morgenstunden des 2. Mai 1945 ergeben sich die deutschen Verteidiger Berlins der übermächtigen Roten Armee. Fünf Tage später kapituliert das Deutsche Reich bedingungslos. Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende.
Zwei Welten. Wenige Wochen später steht Berlin unter der Verwaltung der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Fortan treffen in der Stadt zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite die drei Westsektoren mit demokratischer Verfassung, hohem Lebensstandard, freien Medien und all den kapitalistischen Versuchungen, die sich seine Bürger – genügend Geld vorausgesetzt – leisten können. Andererseits der sowjetische Sektor, später zur Hauptstadt der DDR erhoben, als Teil des kommunistischen Blocks. Versorgungsschwierigkeiten sind an der Tagesordnung, eine allmächtige Partei knebelt und bespitzelt die Menschen, die Medien sind gleichgeschaltet. Das blühende Westberlin wird immer stärker zum Pfahl im Fleische des Ostblocks. Und die Krisen um die geteilte Stadt häufen sich: Berlinblockade (1949/49), Volksaufstand in der DDR (17. Juni 1953), Ultimaten der Sowjetunion mit dem Ziel, aus Westberlin eine entmilitarisierte und Freie Stadt zu machen. Doch die Westmächte beugen sich nicht dem Druck.
Schlupfloch Berlin. Während der 1.378 Kilometer lange Eiserne Vorhang zwischen Lübeck im Norden und Hof im Süden immer undurchlässiger wird, bleibt das Schlupfloch Berlin offen. Hier ist die Grenze zwischen West und Ost nicht mehr als die Trennungslinie zwischen den Stadtbezirken der alten Reichshauptstadt und ebenso leicht zu überqueren.
Entsprechend sind die Flüchtlingszahlen in Berlin. Verlassen zwischen der Gründung der DDR 1949 bis 1952 jährlich 150.000 Menschen ihre Heimat, so verdoppelt sich deren Zahl im Jahr des Volksaufstandes 1953 auf 331.390. Der stete Aderlass hält auf hohem Niveau an. Bis zum Mauerbau stimmen jährlich im Durchschnitt mehr als 200.000 DDR-Bürger mit den Füßen ab, wie die Flucht in den Westen dort spöttisch genannt wird.
Ulbricht schäumt angesichts der Flüchtlingszahlen. Statt den Menschen mit ihren berechtigten Forderungen mit Reformen entgegenzukommen, reagiert der Arbeiter- und Bauernstaat nach der Art aller Diktaturen: Es gilt, auch noch das letzte Schlupfloch zu versperren. Ulbricht erhält grünes Licht aus Moskau. Dort herrscht Nikita Chruschtschow. Vom 3. bis zum 5. August treffen sich in Moskau die Generalsekretäre der kommunistischen Parteien der Warschauer Paktstaaten, um die Massenflucht an der grünen Grenze zu erörtern. Diskutiert werden die Sperrung der Luftkorridore, der Bau einer Mauer zwischen West- und Ostberlin sowie die Absperrung Ostberlins vom Rest der DDR. Das Gremium entscheidet sich für den Bau einer Mauer.
Fluchtbarriere. Acht Tage später hält die Welt den Atem an. Entlang der Linie zwischen West- und Ostberlin rollen Soldaten und Polizisten Stacheldraht aus, stellen Spanische Reiter auf, reißen mit Presslufthämmern das Pflaster auf. Von Bewaffneten an der Flucht gehindert und vor der Wut der Berliner geschützt, beginnen zwei Tage später Bautrupps aus Fertigteilen die bis zu vier Meter hohe Fluchtbarriere hochzuziehen.
Fassungslos sehen die Berliner auf beiden Seiten der Absperrung dem Treiben zu. Über nacht getrennte Verwandte schreien sich Neuigkeiten zu, Eltern winken ihren Kindern auf der anderen Seite mit Taschentüchern, Tränen fließen. Bilder gehen um die Welt. Wie etwa jenes des 18-jährigen Unteroffiziers der Nationalen Volksarmee, Conrad Schumann. Mit einem Riesensatz springt der junge Mann über den Stacheldraht, noch im Sprung seine Waffe wegwerfend.
Maueropfer. Oder die Bilder dramatischer Fluchten an der Bernauer Straße, wo die Häuserfront die Grenze bildet und der Gehsteig bereits auf Westberliner Gebiet liegt. Während die Volkspolizei die Wohnungstüre aufbricht, springt eine Familie aus dem vierten Stockwerk ins Sprungtuch der Westberliner Feuerwehr.
Doch auch diese Schlupflöcher verstopft der SED-Staat, vermauert Fensterfronten zum Westen, sprengt Häuser und Kirchen für freies Sicht- und Schussfeld. Mit der Zeit wird der 168 Kilometer lange Antifaschistische Schutzwall, wie die DDR das Monstrum nennt, immer perfider. Er wird von einem 100 Meter breiten Todesstreifen begleitet, der wiederum durch einen Alarmzaun vom Rest der Stadt abgeriegelt ist. Von 295 Türmen und aus 43 Erdbunkern spähen Grenztruppen mit Argusaugen, um jeden Grenzprovokateur an der Flucht zu hindern, und sei es durch Schusswaffengebrauch. Viele Menschen kommen ums Leben auf der Flucht von Deutschland nach Deutschland. Stellvertretend seien Peter Fechter genannt, den die Grenzer 1962 eine Stunde lang verbluten lassen, ohne zu helfen. Oder Chris Gueffroy, der am 6. Februar 1989 als letztes Maueropfer ums Leben kommt.
Neun Monate später, ist das Bauwerk, dem Erich Honecker kurz zuvor weitere hundert Jahre Bestehen prophezeit hatte, nur noch ein Haufen Beton: Am 9. November 1989 fällt die Mauer, 10.315 Tage nach ihrer Errichtung.