Betrogenes Volk

27. März 2015 | von

Vor 100 Jahren begann der Genozid an den Armeniern im Osten Anatoliens. Armenien war der erste christliche Staat überhaupt. 1915 aber war das armenische Volk staatenlos, als die nationalistische Regierung der Jungtürken die „Armenier-Endlösung“ ausrief. Rund 1,5 Millionen Kinder, Frauen und Männer fanden bei dieser ethnischen Säuberung den Tod. Die Erinnerung an ihre Ermordung macht ihr Schicksal unvergessen.



Der Völkerbund-Kommissar Fridtjof Nansen bezeichnete nach dem Ersten Weltkrieg die Armenier, die seit 1915 einem Holocaust ausgesetzt waren, als „Betrogenes Volk”. Die Siegermächte hatten ihnen einen eigenen Staat versprochen. Der Vertrag von Sèvres 1920 sah noch einen armenischen Staat vor, im Vertrag von Lausanne 1923 wurden sie nicht einmal mehr erwähnt. 

Es war nicht das theokratische Regime des osmanischen Sultans, der auch Kalif und damit Stellvertreter Mohammeds war, sondern die Regierung der Jungtürken, die in ihrem Wahn von einem türkischen Nationalstaat das Ende der christlichen Volksgruppen in der Türkei brachten. Das Unheil begann mit der „Endlösung der Armenier“ seit dem 24. April 1915. Zunächst wurden alle armenischen Notabeln in Konstantinopel deportiert, später alle Armenier im ganzen Land. Seitdem gilt der 24. April als nationaler Trauertag aller Armenier in der ganzen Welt. Zum 100. Jahrestag dieser Tragik, die Papst Franziskus als den ersten Genozid bezeichnete, feiert er am 12. April im Petersdom mit Armeniern einen Gottesdienst im Armenischen Ritus.



Unter fremden Völkern

Nahezu drei Viertel dieses indogermanischen, mit den Türken nicht verwandten Volkes wurden seit 1915 im türkischen Machtbereich ausgerottet. 3000 Jahre lang lebten die Armenier im Hochland Ostanatoliens und behaupteten sich Jahrhunderte hindurch mit eigenen Königen gegen Römer und Byzantiner, gegen Perser und Araber, bis ihr Staatswesen 1031 durch die Einnahme der Hauptstadt Ani unterging. Bereits im Jahre 301 war Armenien christlich geworden: der erste christliche Staat der Geschichte überhaupt. Durch die Nichtanerkennung des Konzils von Chalzedon 451 trennte sich die Armenische Kirche leider von der Gesamtkirche und wurde monophysitisch. Nach ihrem großen Bischof Gregor der Erleuchter (Illuminator) nennt sie sich armenisch-gregorianisch. Während der Kreuzzüge erstand im Taurusgebirge und in Kilikien das Königreich Klein-

armenien, dessen erster König Leo 1198 vom Mainzer Erzbischof Konrad von Wittelsbach in Tarsus gekrönt wurde. Kleinarmenien hielt sich länger als die Kreuzfahrerstaaten und wurde erst 1375 von den Mamelucken erobert. Seit der Eroberung des Mameluckenreiches durch die Türken lebten die Armenier aufgeteilt zwischen den Herrschaftsbereichen der Türken und Perser, seit dem 19. Jahrhundert auch der Russen. Das Ende der armenischen Reiche führte zu einem Exodus, der die Angehörigen dieses Volkes in viele Länder trieb, so dass es schon früh armenische Bischöfe in Rumänien, Polen und Bulgarien gab, auch in Persien und Jerusalem und heute in

Wien, Köln, Beirut und den USA.

Bereits 1895/96 und 1908 gab es im Osmanischen Reich Po-grome gegen Armenier, doch die „Endlösung“ hatten die Jungtürken 1915 vorgesehen. In endlosen Deportationszügen schleppte man alle Armenier in die Wüste am Euphrat, ermordete schon unterwegs die Männer und schändete Frauen und Mädchen, von denen Zehntausende in türkischen und kurdischen Harems verschwanden.



Deutsche Aussenpolitik

Als die mit der Türkei im Krieg verbündete Regierung des Wilhelminischen Deutschland viel zu spät bei der Hohen Pforte nach dem Schicksal dieser Christen anfragte, kam von Seiten des türkischen Innenministeriums nur die lakonische Antwort: „La Question Arménienne n’existe plus“ (Die Armenische Frage existiert nicht mehr). Deutsche Konsuln schrieben an die kaiserliche Deutsche Botschaft in Konstantinopel von „der Vernichtung oder Islamisierung eines ganzen Volkes” oder von „der Erledigung der armenischen Frage durch die Vernichtung der armenischen Rasse”.

Die Anweisung der deutschen Pressezensur zur Behandlung dieses Themas lautete: „Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen Pflicht zu schweigen. Später, wenn direkte Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muss man die Sache mit größter Vorsicht und Zurückhandlung behandeln und stets hervorheben, dass die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden. – Über die armenische Frage wird am besten geschwiegen. Besonders löblich ist das Verhalten der türkischen Machthaber in dieser Frage nicht.“

Von fast zwei Millionen Armeniern, die am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf dem Gebiet der heutigen Türkei lebten, sind heute knapp 100.000 geblieben, größtenteils in Konstantinopel. Nur wenige konnten sich nach Ägypten oder in den Kaukasus retten. Schon 1916 schätzte die Deutsche Botschaft in Konstantinopel, dass 1,5 Millionen Armenier deportiert worden seien und eine Million davon ums Leben kam. Eine Viertelmillion wurde zwangsislamisiert und überlebte dadurch physisch. Bei den Massakern auf den Deportationsmärschen waren die Opfer meist Männer, beim Hungersterben in der Wüste meist Frauen, Kinder und Greise.



Augenzeugen dokumentieren

Der Leiter der protestantischen „Deutschen Orient-Mission“, Dr. Johannes Lepsius, dokumentierte bereits 1896 in seinem Buch „Armenien und Europa“ die damaligen Massaker und Pogrome. Mitten im Ersten Weltkrieg gab er gegen den Widerstand der deutschen militärischen Führung einen „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei” heraus.

Augenzeuge des Geschehens war auch der Schriftsteller Dr. Armin T. Wegener, der 1919 einen „Offenen Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, Herrn W. Wilson, über die Austreibung des Armenischen Volkes in die Wüste“ richtete. Er schrieb: „Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euphrat.“ Für den „Deutschen Hilfsbund für Christliches Liebeswerk im Orient“ veröffentlichte 1919 James William Somer eine Sammlung von Augenzeugenberichten: „Die Wahrheit über die Leiden des armenischen Volkes in der Türkei während des Weltkrieges“.

Über die Deportation aus Zeytun schreibt ein Augenzeuge, wie Gendarme die endlosen Menschenzüge mit Stöcken vorwärts trieben. Aus Konya schrieben dort tätige deutsche Staatsangehörige an die Botschaft nach Konstantinopel: „Was wir mit unserem Bericht bezwecken, ist, gegen die jeder Menschlichkeit zuwiderlaufende Art der Behandlung dieser Vertriebenen Einspruch zu erheben. Diese unmenschliche Behandlung bildet nicht nur für die Türken einen unauslöschlichen Schandfleck in der Weltgeschichte, sondern auch für uns Deutsche, falls wir der Sache untätig zusehen und die Vernichtung dieses Volkes zulassen.“



Unaussprechliche Grausamkeiten

Einen erschütternden Augenzeugenbericht mit beigefügten Fotografien verfasste der Oberlehrer der deutschen Realschule in Aleppo, Dr. Martin Niepage, am 15. Oktober 1915 für den Deutschen Reichstag, veröffentlicht 1916 in Deutschland und der Schweiz unter dem Titel: „Ein Wort an die berufenen Vertreter des deutschen Volkes“ bzw. „Eindrücke eines deutschen Oberlehrers aus der Türkei“. „Wir wollen nicht bei den blutigen Greueln verweilen … den Tausenden von Männern, die abgesondert oder manchmal vor den Augen der Ihrigen abgeschlachtet wurden; nicht bei den zahllosen Mädchen, Frauen und Kindern, die der Schändung oder der Verstümmelung durch ihre Wächter und deren Spießgesellen anheimfielen und deren nackte Leichen an den Wegen liegen, die die immer neuen Scharen der Verbannten wandern müssen … auf dass der armenische Name verschwinde.“ Dann schildert er fürchterliche Details von Tod und Elend unmittelbar neben der Schule.

In der Nähe von Mardin wurden nach einem Bericht des deutschen Konsuls 700 Christen abgeschlachtet. In Muş wurde eine schwedische Hilfsbundschwester Zeugin, wie man Hunderte armenischer Frauen und Kinder lebendig verbrannte. Der deutsche Konsul in Mossul sah auf dem Weg nach Aleppo so viele abgehackte Kinderhände, dass man damit hätte die Straßen pflastern können.

Wer die von Massakern begleiteten Deportationen überlebte, kam in wahre Todeslager, in denen muslimische Freiwillige, Kurden, Tscherkessen und Tschetschenen plünderten und die noch Lebenden systematisch töteten.



Vorbild für Hitler

Auch Adolf Hitler berief sich auf die „Armenier-Endlösung“. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, am 22. August 1939, ordnete er an: „Ich habe den Befehl gegeben ..., dass das Kriegsziel ... in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. So habe ich ... meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“

Zwei Jahre, bevor Hitler in München durch den Marsch zur Feldherrnhalle erstmals zur Macht kommen wollte, sprach ganz Berlin von den Armeniern. Einer der Hauptverantwortlichen für die Armeniervernichtung, Talaat Pascha, wurde am 15. März 1921 in Berlin von einem jungen Armenier erschossen, der 1915 alle seine Familienangehörigen verloren hatte (unter Leichen liegend, überlebte er). Als er am 2. und 3. Juni 1921 in Berlin vor Gericht stand, kam die Schuld Talaat Paschas an der Vernichtung der Armenier zur Sprache.

Als Sachverständiger war auch Dr. Johannes Lepsius vorgeladen, als Zeugen armenische Überlebende. Angesichts der erdrückenden Beweise verzichtete die Anklage auf weitere Zeugen, darunter auf A. T. Wegener, der dann nach dem Freispruch des Armeniers das stenographische Protokoll des Prozesses veröffentlichte. Im Vorwort schreibt er, das Unglück des armenischen Volkes sei ohne Beispiel. Die Dokumente im Anhang zeigen, dass Talaat Pascha sogar gegen Türken und andere Muslime vorging, die armenische Waisenkinder adoptiert hatten. 



Letzte Enklave in der Türkei

Mit seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh” trug der Prager jüdische Schriftsteller Franz Werfel dazu bei, dass diese Tragödie nicht ganz vergessen wurde. In einer „Nachbemerkung des Autors” schreibt er, verstümmelte Flüchtlingskinder, die er 1929 in Damaskus getroffen hatte, hätten den Anstoß gegeben, an das Schicksal der Armenier zu erinnern.

Werfels Roman fußt auf der historischen Grundlage, dass sich 1915 die Bewohner einiger armenischer Dörfer bei Antiochien auf den Musa Dagh (Moses-Berg, türkisch Musadağ) zurückzogen und alle Angriffe der Türken abwehren konnten, bis sie nach 40 Tagen von einem französischen Kriegsschiff gerettet und nach Alexandrien gebracht wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrten sie in ihre Dörfer zurück, weil Syrien französisches Mandatsgebiet war.

Doch 1939 überließen die Franzosen das Gebiet der Türkei. Die meisten Armenier verließen damals ihre Dörfer. Nur wenige blieben am Musadağ, und zwar in Vakifliköyü (heute das einzige armenische Dorf der Türkei). Nur mit geländegängigen Fahrzeugen gelangt man dort hin, entweder von Samandağ aus oder über Teknepinar. Während in Teknepinar nur die Ruine der einstmals großen armenischen Kirche steht, gibt es in Vakifliköyü noch eine 1997 renovierte Kirche und einen Friedhof. Als ich vor fünfzehn Jahren zum ersten Male dort war, sprach eine Bewohnerin im Nachbarhaus der Kirche deutsch. Sie war als Armenierin auf Urlaub hier, arbeitete seit über 30 Jahren in Deutschland, galt in Augsburg aber wegen ihres Passes als türkische Gastarbeiterin. So geht es Tausenden Armeniern aus der Türkei. Immerhin werden sie heute in Deutschland von einem armenischen Bischof in Köln und einigen Priestern betreut. Seit einigen Jahren blüht das Dorf auf. Bei der Kirche ist ein Bioladen angesiedelt, der Früchte und Tee, Marmeladen und andere Produkte verkauft.



Ein Schicksalsbuch

Erst 1997 durfte Werfels Roman in der Türkei erscheinen. Es ist kein antitürkisches Buch. Werfel lässt Nezim Bey sprechen: „An den armenischen Leichenfeldern wird die Türkei zugrunde gehen“; er lässt den deutschen Pastor Dr. Johannes Lepsius fragen: „Wissen Sie, dass die wahren Türken die armenischen Verschickungen noch heftiger verwerfen als Sie?“ Durch Nezims Vermittlung und auf Rat des armenischen Patriarchen kann Lepsius auch den muslimischen Scheich Ahmed und dessen Derwisch-Orden besuchen. In dem Gespräch der beiden wird der „Nationalismus, der heute bei uns herrscht“, als Ursache genannt, „ein fremdes Gift, das aus Europa kam“. Der alte Scheich erklärt Lepsius: „Der Nationalismus füllt die brennend-leere Stelle, die Allah im menschlichen Herzen zurücklässt, wenn er daraus vertrieben wird.“

Als 1933 Werfels Roman erschien, lenkte er den Hass der Nazi-Machthaber auf sich. Nach 1933 wurde es zum Schicksalsbuch aller rassisch Verfolgten. 1966 konnte ich in Anjar und Jerusalem noch mit Überlebenden sprechen, die als Kinder und Jugendliche 1915 auf dem Musadağ waren oder als junge Erwachsene Werfel 1929 in Damaskus trafen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016