“Bewundernswert und geistesgewaltig“
Franziskus war einer, der die Grenzen des Herkömmlichen sprengte. Kein Wunder, dass sich große Geister mit ihm beschäftigten – und an ihm schieden. Diese Wirkung erzeugte er auch bei protestantischen Theologen und Denkern. In einer neuen Serie, die im Wechsel mit den “Bausteinen franziskanischer Spiritualität“ erscheint, beleuchtet unser Autor die protestantische Franziskus-Deutung von der Reformation bis ins 20. Jahrhundert. In der ersten Folge skizziert er Martin Luthers Haltung zu Franziskus.
Martin Luther Luther verehrte Franziskus. Das verrät der große Satz in seiner Schrift “devotis monasticis iudicium“ (1521): “Der heilige Franziskus, ein bewundernswerter und geistesgewaltiger Mann, sagte in seiner großen Weisheit, seine Regel sei das Evangelium Jesu Christi“. Diese Worte verraten brennpunktartig die Haltung Martin Luthers zu Franziskus. In seinen jungen Jahren hatte er viel Sympathie und Respekt für den Poverello aus Assisi. Später begegnete er ihm eher mit kritischer Nüchternheit. Doch er blieb für ihn immer der große Heilige, das Vorbild, der Vater.
Je kritischer Martin Luther vom Mönchsleben abrückte, umso positiver bewertete er Franziskus von Assisi. Er zählte ihn wie den heiligen Antonius, den heiligen Augustinus, Bernhard von Clairvaux und den heiligen Dominikus zu den beispielhaft Frommen, zu den Heiligen, zu den Vätern des Glaubens und der Christenheit.
Beeindruckender Bruder. Für den jungen Martin Luther spielte der Franziskaner Wilhelm von Anhalt eine wichtige Rolle. Luther war gerade 13 Jahre alt, als er – zusammen mit einem Freund – vom Vater zum Schulbesuch nach Magdeburg geschickt wurde. Offensichtlich hat die Schule der “Nullbrüder“, was soviel bedeutet wie “Brüder vom gemeinsamen Leben“, die damals berühmt war, bei ihm keine besonderen Eindrücke hinterlassen. Umso mehr fällt auf, welchen Eindruck der fromme Franziskaner Fürst Wilhelm von Anhalt, der 1473 in den Franziskanerorden eingetreten war, auf Luther machte. Noch als 50-Jähriger konnte er die Situation genau schildern. Luther berichtet, er habe während seiner Schulzeit in Magdeburg den Fürst Wilhelm von Anhalt, den Bruder des Dompropstes und späteren Bischofs Adolf von Merseburg gesehen, wie er in der Kleidung der Barfüßer (Franziskaner) auf der breiten Straße ging und um Brot bettelte. Er habe einen Sack wie ein Esel getragen, so dass er sich zur Erde krümmen musste. Neben ihm sei ein Mitbruder gegangen. Der Exfürst habe im Kloster wie jeder Bruder die üblichen Dienste verrichtet. Er habe gefastet, gewacht, so dass er blass wie ein Toter ausgesehen habe. “Wer ihn ansah, der schmatzte vor Andacht und musste sich seines weltlichen Standes schämen“. Dem 14-jährigen Luther müssen diese Begegnungen tief ins Herz gefallen sein und einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass er sich nach 36 Jahren noch an das Aussehen, den Gang und die körperliche Verfassung dieses Franziskaners erinnern kann und Details aufzählt. Vermutlich haben diese Begegnungen das Franziskusbild Martin Luthers geprägt. Seine Folgerung: So ähnlich wie dieser Bruder, Wilhelm von Anhalt, muss Franziskus gewesen sein.
Ähnliche Lebenserfahrung. Luthers bleibende Sympathie für Franziskus hat wohl noch eine andere Quelle. Bei Franziskus von Assisi löste sein neuer Lebensweg einen ungeheuren Konflikt mit seinem Vater aus, der zu einem öffentlichen Prozess und zuletzt zur völligen Entfremdung führte. Luther schrieb in einem Brief an seinen Vater, er habe sich ohne dessen “Wissen und Willen“ für das Ordensleben entschieden. Dies löste auch bei Luthers Vater Probleme aus. Wie Luther berichtet, verlangte sein Vater Gehorsam. Er habe ihn ins Gewissen geredet, “so dass ich in meinem ganzen Leben von einem Menschen kaum ein Wort gehört habe, das in mir so nachklang und hängen blieb“. Bei Franziskus zerbrach die Vaterbeziehung in der Folge völlig. Bei Luther heißt es: “Ihr seid ja noch mein Vater, so bin ich auch noch Sohn“. Sicher weckten die schwierigen ersten Jahre in der Vaterbeziehung Luthers ein tiefes Gefühl der inneren Verbundenheit, der Sympathie und des Mitleidens mit Franziskus.
Disput über Franziskus. Zu den wichtigsten Gedanken und Texten Luthers zu Franziskus zählt seine Franziskanerdisputation im Jahr 1519. Bei diesem wissenschaftlichen Streitgespräch in Wittenberg, das protokolliert wurde, standen sich vier Professoren der Wittenberger Universität und vier Franziskaner gegenüber. Unter den Wittenberger Professoren waren Philipp Melanchthon, Andreas Karlstadt und Martin Luther. Die Franziskaner hatten in ihrer 6. These die Forderung vertreten, man müsse die “perversen böhmischen Taboriten“, die gegen den heiligen Orden des “göttlichen Franziskus“ vorgehen, endlich zum Schweigen bringen. Luther wehrte sich gegen den Ausdruck “göttlicher Franziskus“ und sagte, Franziskus sei “ein Mensch und kein Gott“. Karlstadt fragte die Franziskaner, warum es nicht genüge, wenn Franziskus ein vorbildlicher Christ gewesen sei, und warum sie sich ständig ein Götzenbild aus ihm machten. In einer weiteren These legte Karlstadt Wert darauf, dass Franziskus, wie alle Menschen, ein Teil der gefallenen Schöpfung sei: “Es steht fest, dass er Sünder war und sündigte. Zur Vollkommenheit des Evangeliums ist er noch nicht gelangt“. Franziskus besaß damals nicht nur für die Franziskaner eine große, ja geradezu übermenschliche Würde. Es lässt sich leicht ausmalen, dass die Franziskaner Luthers und Karlstadts Thesen wie eine Gotteslästerung empfanden. Rein theologisch hatten sie Recht.
Wir dürfen annehmen, dass weder Luther noch Karlstadt die Absicht hatten, Franziskus kleiner zu machen als er war. Ihr Ansatz richtet sich nicht gegen Franziskus, sondern gegen den Stil der Franziskaner, ihren Ordensvater ins Übermenschliche zu entrücken. Die Reformatoren konnten sich auf den Grundsatz des Paulus berufen: “Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Ohne es verdient zu haben, werden sie gerecht, dank seiner Gnade, durch die Erlösung in Jesus Christus“ (Röm 3,23).
Leben nach dem Evangelium – wie sieht das aus? In seiner Schrift über die Ordensgelübde (De votis monasticis, 1521) nannte Luther Franziskus einen bewunderungswürdigen, geistesgewaltigen Mann, weil er das Evangelium als solches zu seiner Ordensregel gemacht habe. Das war in Luthers Augen eine Tat größter Weisheit. Wir müssen hier allerdings bedenken, dass Luther dem Franziskus das eigene, an der Schrift gewonnene Verständnis des Evangeliums zuteilt, um nicht zu sagen “unterstellt“. Er gibt nämlich den Zölibat frei und auch sonst gibt es keinen verpflichtenden Lebensstil. Der Reformator behauptet, die Brüder hätten in der Anfangszeit des Ordens frei entscheiden können, ob sie in der Ehe oder zölibatär leben und wie lange sie im Kloster bleiben wollten. Doch dieses durch und durch freiheitliche Ordensleben auf Zeit las Franziskus nicht aus dem Evangelium. Er bejahte die freie Entscheidung auf Lebenszeit. Für ihn gab es kein Zurück mehr.
Kritikpunkt: unendliche Statuten. Nur wer Luthers Auslegung des Evangeliums im Sinne der völligen Freiheit und nicht im Sinne einer Freiheit aus einer Bindung teilt, findet einen Zugang zu seiner Kritik an den Franziskanern. Für ihn war die damalige Ordenspraxis der Weg in eine geängstigte Welt, in Gewissensnöte, die durch Satzungen und Statuten ausgelöst werden. Er erklärte in seiner Schrift De votis monasticis (1521): “Nun aber gibt es heute keine in größerem Aberglauben und ängstlichere Grübeleien verstrickte Sorte von Menschen, als diese, die die freiesten hätten sein können, aber gefesselt sind durch unendliche Statuten, durch viele Satzungen und kindische, lächerliche Gebräuche“. Luther unterschied also zwischen Franziskus und den Franziskanern ganz deutlich. Während Franziskus für ihn beispielhaft war in dem Bemühen, das Evangelium und nur das Evangelium zu leben, standen die Franziskaner für Gewissensskrupel und Aberglauben und Verführung der Christenheit.
Martin Luthers Respekt beziehungsweise Zuneigung zu Franziskus beruhten auf seinen eigenen reformatorischen Anliegen, die er bei Franziskus fand: sein Glauben an Gottes Barmherzigkeit, seine besondere Wertschätzung des Evangeliums sowie – nach seinem Verständnis – ein Ordensleben, das viel Freiheit bot.