Boten zwischen Himmel und Erde

01. Januar 1900 | von

Heute schon einem Engel begegnet? Wahrscheinlich. Vielleicht hatten Sie ja das Glück, dass Sie in einer ganz persönlichen Begegnung von Ihrem himmlischen Wesen Rückendeckung bekommen haben – nahe liegender jedoch, dass die transzendenten Gestalten in äußerst irdischer Ausformung Ihren Weg kreuzten. Drollige, pausbackige Flügelträger schmücken Kaffeetassen, bevölkern Schaufensterauslagen, sinnieren auf Leitzordnerrücken - beflügeln den Umsatz. Sie sind wieder da, die Engel!

Renaissance. Wir erleben heute eine Wiedergeburt der Engel. Über Jahrhunderte hinweg hat sich der Engelglaube kontinuierlich gewandelt, untergegangen ist er bis heute nicht.

Im Gegenteil. Dabei ist interessant zu beobachten: Während bei Theologen und Seelsorgern die Verkündigung über die Engel an den Rand geraten oder völlig verschwunden ist, folgen Laien der leuchtenden Spur dieser überirdischen Wesen. Lange Zeit war es still geworden um die Engel, aber jetzt schwirren sie wieder überall herum.hre Zahl hat epidemisch zugenommen. In allen schönen Künsten werden sie gesichtet, I treten leibhaftig in Filmen und Romanen auf,  Musiker und Maler verfolgen ihre geheimnisvolle Spur, Dichter und Denke sind gefangen von der Faszination, welche von ihnen ausgeht.

Verkaufsschlager Engel. In der Vorweihnachtszeit, aber auch im Laufe des Jahres, wimmelt es überall von Engeln. Sie haben Flügel, Lockenköpfe, Pausbacken und wallende Gewänder. Und manchmal spielen sie himmlische Musik auf der Laute oder Harfe. Für die rastlosen Menschenkinder und deren Sorgen haben sie ein gütiges, mildes und wohl wollendes Lächeln. Sie tun dem Herzen gut.Die wahren Engel sind ganz zarte Wesen, man kann sie nicht fest halten. Sie kommen unverhofft und auf leisen Sohlen.Sie begleiten uns durch alle Lebensphasen, von der Geburt über die Kindheit und Jugend, über die Lebensmitte bis hinein ins hohe Alter.
Und dann sind Engel wieder ganz sinnlich fassbar, aus Schokolade oder Marzipan. Wir finden sie als Baum- oder Tischschmuck, wir finden deren Konterfei auf Tassen, Tellern und T-Shirts, als rundliche Figürchen in Verkaufsregalen, auf Karten und Kalendern. Auch die Glanz- und Kitschbildchen von Engeln gibt es wieder. Bilder, dem Nazarener-Stil nachempfunden, zeigen helle Lichtgestalten, die ihre überdimensionalen Flügel schützend um die gefährdete Person legen und im Ernstfall die rettende Hand ausstrecken.
In der Literatur sind die Engel ebenfalls wieder auferstanden. Es gibt mindestens ein Dutzend aktueller Buchtitel, die sich mit den Himmelsboten befassen. Vor allem hat die Esoterik die Engel für sich entdeckt. Seit Jahren profitiert die Buchbranche von der Sehnsucht nach den Himmelsboten. Titel wie Schutzengel und Heilengel, Dein Engel ist in dir, Wie Engel uns lieben, Mein Engel und ich, Engel, die unsichtbaren Helfer, Kosmische Intelligenz - die Realität der Engel, sind in Mode.

Eine Wochenzeitschrift veröffentlichte Ende vergangenen Jahres (aufgrund der großen Nachfrage des Vorjahres) ein Engel-Tarot. Das Kartenspiel hat zweiundzwanzig Trumpfkarten, das große Arkanum (Geheimnis), mit dem jeder Spieler angeblich mehr über sich, seine Gefühle und sein Glück erfahren kann.

Stars in Hollywood. 1996 gab es in Amerika die Kino-Komödie Michael. Sie hat mehr als 120 Millionen Dollar eingespielt. Dabei sah man den Engel Michael als ein schmuddeliges und rauflustiges Wesen, das den weltlichen Genüssen sehr zugetan ist. Und 1998 landete Hollywood den Kinohit Stadt der Engel. 

Eine sensibel-romantische Liebesgeschichte, die von zwei Engeln - Seth und Cassiel – handelt. Sie können sehen und hören, jedoch nicht fühlen, schmecken und riechen. Außerdem sind sie unsichtbar. Seth sucht den Ausstieg aus der Engelwelt. Sein Ziel ist das Gegenteil des religiösen Ideals. So stürzt er sich vom Hochhaus, um als gefallener Engel ein Mensch mit Gefühlen zu sein. Der Preis: Er ist kein Engel mehr. Allein in den Vereinigten Staaten spielte der Film 75 Millionen Dollar ein. 
Was nun macht Engel für Hollywood so interessant? Engelfilme sind nicht nur romantisch, sie eignen sich auch für ein florierendes Geschäft. Engel sind freundlich und stets hilfsbereit. Sie haben vielfältige Möglichkeiten in das Leben eines Menschen einzugreifen. Die Menschen heute möchten glauben, dass dort oben jemand ist, der sich ihrer annimmt, sich kümmert. Dass Gott das auch persönlich tun könnte, erscheint  ihnen zu unwahrscheinlich, schließlich - so ist ihre Überzeugung - müsste man sich das erst einmal verdienen.

Himmlische Rückendeckung. Bei einer Focus-Umfrage im vergangenen Jahr antworteten Gläubige auf die Frage: Glauben sie an Schutzengel, zu beinahe 80 Prozent mit Ja. Acht von zehn Christen wären demnach überzeugt, dass Schutzengel sie vor Schaden bewahren. Dabei hat jeder seine eigene Vorstellung von seinem persönlichen Beschützer.
Mehr als die Hälfte (52 Prozent ) der Gesamtbevölkerung über vierzehn Jahre sucht bei ihm Trost, Sicherheit, Geborgenheit, Schutz und damit all das, was traditionell Gottes Aufgabe ist. Hier werden die Engel als verlängerter Arm Gottes gesehen.
Im Volksglauben hat der Schutzengel einen festen Platz. Man achte nur einmal darauf, wie häufig wir im Alltag den Satz hören: Der/die hatte aber einen guten Schutzengel. Heute, in einer Zeit, in der sich alles um das Auto dreht, sagen wir flapsig, fahre nicht schneller, als dein Schutzengel fliegen kann. Mein Schutzengel hat heute wieder einmal ganze Arbeit geleistet, freut sich jener, der nur knapp einem Unfall entgangen ist.
Manchmal, je nach Situation, der wir gerade entronnen sind, könnten wir annehmen, ein ganzes Heer von Engeln habe uns begleitet und beschützt. Auf manchen Verkehrsschildern in Österreich mahnt die Aufschrift: Gib deinem Schutzengel eine Chance.
Engel werden als psychologisches und spirituelles Mittel der Alltagsbewältigung gepriesen. Eine Zeitschrift wirbt mit dem Slogan: Lebenshilfe für jeden Tag und jedes Problem. Rufen Sie ihren Engel. Sie sind nie allein. Ihr Engel ist immer bei Ihnen. Oft sind es auch mehrere. Engel beschützen, stärken, trösten ermutigen. Sie müssen sie nur anrufen. Sie kommen mit dem Flügelschlag der Liebe. Und wenn sie diesen gespürt, daraus neue Kraft, Trost und Hoffnung geschöpft haben, dann vergessen sie nicht, Ihrem Engel zu danken.

Engelszungen und Co. Wie sehr wir mit den Engeln vertraut sind, ohne uns dessen bewusst zu sein, deuten verschiedene Redewendungen an, derer wir uns täglich bedienen: Wir sprechen von einem Engelslächeln, wenn das Neugeborene sein erstes unkontrolliertes Lächeln zeigt. 
Eine Engelsgeduld schreiben wir besonders ausdauernden und sanftmütigen Zeitgenossen zu. Und du bist ein Engel gilt als ein besonders dickes Lob für den hilfsbereiten Menschen, der uns entlastet.Dem Blick eines Unschuldsengels können wir nicht lange widerstehen und manchmal reden wir mit Engelszungen, wenn wir einen besonders starrsinnigen Mitmenschen von einer Sache überzeugen wollen.

Von Gott geschickt. Viele Menschen, die an die Existenz des persönlichen Schutzengels glauben, berichten, dass sie die Anwesenheit des Engels bereits persönlich gespürt haben. In Grenzsituationen erleben Menschen öfter die Hilfe von Engeln ganz konkret: Sie erretten vor dem Tod oder stehen dem Menschen beim Sterben zur Seite. Es sind Erfahrungen von Menschen in lebensgefährlichen Situationen.Manchmal sind es auch Kinder, die von der Begegnung mit dem Schutzengel berichten.Häufig ist von Lichtgestalten die Rede, die unmittelbar nach der Gefahr sofort wieder verschwinden. Schutzengel retten aus tˆdlicher Gefahr gegen alle Wahrscheinlichkeit.
Engel sind Boten des Herrn. Sie sind uns Zeichen dafür, dass Gott mit uns geht, uns begleitet. Engel gelten als Vermittler zwischen Gott und den Menschen. In den Engeln hüllt Gott uns mit seiner liebenden Nähe ein. Er ist uns in den Engeln nahe. Sie sind zeitlose Geschöpfe, die Gott schauen. Sie sind uns zuverlässige Begleiter und stehen seit Menschengedenken an unserer Seite. Sie sprechen unsere Sprache und scheinen Insider zu sein, was unsere Ängste und Hoffnungen angeht. Sie sind vertraut mit unserem Glück und unseren Zweifeln.
Engel sind Wegbegleiter, unsichtbare Freunde an unserer Seite. Wir alle kennen das Abendgebet: Abends, wenn ich schlafen geh’, vierzehn Englein um mich stehn, zwei zu meinem Haupte, zwei zu meinen Füßen... aus Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel. Von dieser Vorstellung geht viel Wärme und Geborgenheit aus.
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer weiß sich in der Gefängniszelle von guten Mächten wunderbar geborgen. Es sind gute Mächte, die von Gott in unsere Welt gesandt sind.

Flügelschlag gegen Furcht. Der Engel Gabriel bringt Maria die Botschaft von der Geburt Jesu. Fürchte dich nicht, sagt er zu der jungen Frau - eine Begegnung, die von viel Freundlichkeit und Wohlwollen geprägt ist. Die freundliche Aufmunterung Fürchte dich nicht, hören wir öfter. Sie soll uns Vertrauen einflößen, Wärme und Geborgenheit vermitteln. Fürchtet euch nicht! so spricht der Engel die Hirten an, um die Geburt Christi zu verkünden. Eine frohe und sehr tröstliche Botschaft. Die Furcht ist eine Gefahr für uns Menschen. Furcht macht unsicher und lähmt. Die Mitteilung von der Geburt Jesu ist Befreiung von Furcht. Gott ist uns in den Engeln nahe, wir brauchen uns nicht zu fürchten.

Es ist ein Engel, der Josef im Traum erscheint, um ihm zu sagen, was es mit Maria auf sich habe. Im Lukas-Evangelium können wir nachlesen, wie Jesus während seines schweren inneren Kampfes im Garten Gethsemane, die Hilfe eines Engels annahm. Es erschien ihm ein Engel vom Himmel und stärkte ihn.
Das kann uns hellhörig machen für den Appell von Nelly Sachs: Ihr Ungeübten, die ihr in den Nächten nichts lernt. Viele Engel sind euch gegeben, aber ihr seht sie nicht.
Sehnsuchtsbilder der Seele. An rund 300 Stellen des Alten und des Neuen Testaments ist die Rede von Engeln. Drei sind namentlich genannt: Michael (Wer ist wie Gott?), Gabriel (Stärke Gottes), Raphael (Gott heilt). Engel zeigen uns, dass unser Leben mehr ist. Sie sind Botschafter einer tieferen Wirklichkeit für den Menschen. Sie rufen in uns Sehnsucht nach einer anderen Welt der Geborgenheit und Leichtigkeit, der Schönheit und Hoffnung wach. Es ist eine Sehnsucht nach Hilfe und Heilung, die in uns hineingelegt ist. Engel sind jene, die uns im Traum zeigen, wohin unser Weg führt. 
Wir spüren oft den Engel in uns, der uns das richtige Gespür gibt, das zu tun, was für uns stimmig ist. Durch den Engel, der uns begleitet, berühren wir den Himmel, sind wir immer schon bei Gott.
Die Engel dürfen göttliche Weisung ins Diesseitige, ins Irdische, in das Leben der Menschen hinein übersetzen. Durch sie löst Gott seinen Namen Jahwe ein: Ich bin der ich bin da, ich bin immer dabei. Ist das der Grund, der uns Engel so anziehend macht?
Engel ohne Flügel. Und schließlich erleben wir auch, dass andere Menschen uns zum Engel werden. Oder vielleicht sind wir auch schon einmal für andere zum Engel geworden? Könnten es erneut werden? Was Engel mit menschlichem Gesicht uns alles sein können (auch Mittler zu der anderen Welt) – der Autor Wilhelm Wilms bringt es verdichtet in folgenden Worten zum Ausdruck:

 

Welcher Engel wird uns sagen
dass das Leben weitergeht
welcher Engel wird wohl kommen
der Den Stein vom Grabe hebt
wirst du für mich
werd ich für dich
der Engel sein
welcher Engel wird uns zeigen
wie das Leben zu bestehn
welcher Engel schenkt uns Augen
die im Keim die Frucht schon sehn        
wirst du für mich

werd ich für dich
der Engel sein
welcher Engel öffnet Ohren
die Geheimnisse verstehn
welcher Engel leiht uns Flügel
unseren Himmel einzusehn
wirst du für mich
werd ich für dich
der Engel sein.


Martha Müller

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016