Chronist der Belle Époque
Der eine schnitt sich, dem Wahnsinn sehr nahe gekommen, einen Teil seines Ohres ab, der andere gab – rein äußerlich betrachtet – eine wahrhaft groteske Figur ab: auf den extrem kurzen Beinen ein massiver Oberkörper, eingekleidet nach dem letzten modischen Schick.
Bei Ersterem handelt es sich natürlich um den mit seiner Existenz so ringenden Maler Vincent van Gogh. Tragisch sein Leben, genial sein Werk. Ein Schicksal, das unsere Phantasie beflügelt und Stoff für Legenden zuhauf gebiert. Das trifft nicht minder auf den Zweiten zu Äußerlich verkrüppelt war Toulouse-Lautrec ein künstlerischer Visionär, unverstanden und mit seinem schweren Los hadernd. Beide wurden nur 37 Jahre alt. Von ihrem Lebenshunger ausgelaugt, haben sie doch Großartiges für die Kunst geleistet, diese so verschiedenen Einzelgänger. Vor 100 Jahren starb Letzterer – Grund genug, einen Blick auf sein ungewöhnliches Leben und Werk zu werfen.
Sorglos nur der Anfang. 1864 wird Henri in eine der vornehmsten Familien des französischen Hochadels hineingeboren, mit Sitz auf Schloss Bosc in Albi – gerade einmal einen Katzensprung entfernt vom heutigen Musée Toulouse-Lautrec. Ein verhätscheltes Kind ist er, vergöttert von seiner Mutter und seinen Großmüttern. Des kleinen Henri ausgeprägtes Zeichentalent ist nicht zu übersehen – Millionen von Kritzeleien und Karikaturen übersäen bereits seine Schulhefte. Doch die Leichtigkeit seines Seins wird jäh unterbrochen. Zu seinem Pech – aber zum Glück für die Kunst, so könnte man jetzt flapsig formulieren. Zwei Beinbrüche, 1878 und im folgenden Jahr, verändern radikal sein bisher sorgloses Leben. Er verkrüppelt, seine Beine wachsen nicht mehr.
Toulouse-Lautrec wird zur körperlichen Missgestalt, hüftabwärts mit den Gliedmaßen eines Kindes, hüftaufwärts mit grober männlicher Silhouette. Eine lange Leidenszeit mit Schmerzen, Sanatorienaufenthalten und erzwungener Langeweile bestimmt seine Jugend.
Rettung Kunst. Seine Leidenschaft für das Zeichnen und die Zeichnung wird seine Rettung. Früh gelangt er zur Meisterschaft, angeregt durch verschiedene Lehrer, aber in erster Linie folgt er einem inneren Drang, alles in seiner Umgebung abbilden zu wollen. Er kokettiert regelrecht mit seinem Image der Missgeburt, war aber kein Zwerg (wie so oft berichtet) im eigentlichen Sinne, sondern mindestens 1,50 Meter groß.
Dem Leben und der Wahrheit will er ins Gesicht sehen. Wo gäbe es mehr Gelegenheit dazu als in Paris, wohin die Familie auf Betreiben seines Vaters – Typus exzentrischer Lebemann – zieht. 1886 bekommt Toulouse-Lautrec endlich die Erlaubnis seiner Familie seinen Wunschberuf zu ergreifen. Er muss ganz einfach Maler werden! Im Künstlerviertel Montmartre bezieht er sein erstes Atelier, zu dieser Zeit bietet es noch ein recht ländliches Bild, von Weinbergen und Mühlen geprägt und noch sehr weit entfernt vom heutigen verkitschten Mekka des Massentourismus.
Das pralle Leben! Doch Licht und Lärm, von denen der Künstler wie die Motte vom Licht angezogen wird, machen sich in diesen Jahren sehr schnell breit. Bei Tageslicht wird gearbeitet, doch mit Einbruch der Dämmerung geht es in Cafés und Cabarets, die wie Pilze aus dem Boden schießen, um den Lebenshunger eines Völkchens am Rande der Gesellschaft zu stillen. Toulouse-Lautrec taucht ein in diese Halbwelt des Montmartre, badet regelrecht in ihr und stellt mit schonungsloser Offenheit, aber doch zugleich mitfühlender Beobachtungsgabe unzählige Facetten dieses prallen Lebens dar. Unermüdlich füllt er seine Skizzenbücher und wird damit zum Chronisten des Bohemièn-Lebens seiner Epoche – heute auch bezeichnenderweise mit Belle Époque tituliert.
Seinen Nachbarn Degas bewundert er sehr – Bilder von Tänzerinnen und Ballettszenen sind die Folge.
Erfolg an den Wänden. Toulouse-Lautrec ist ein rastloser Arbeiter und überragend in allen Bereichen, ob als einfühlsamer Aquarellist, brillanter Zeichner oder meisterhafter Plakatgestalter. Sein künstlerischer Zenit fällt in die Zeit der Eröffnung eines heute noch weltbekannten Lokals: des Moulin Rouge (die rote Mühle). Es öffnet seine Pforten 1891 und wird nach zögerlichem Beginn zu der Attraktion schlechthin. Toulouse-Lautrec bekommt den Auftrag, ein Werbeplakat dafür zu gestalten und setzt gleich mit seiner ersten Lithographie (einer Technik, die er bis dato nur vom Hörensagen her kannte) einen Meilenstein der grafischen Kunst. Der Künstler ist mit einem Schlag stadtbekannt. Mein Plakat hat Erfolg an den Wänden – meldet er nicht ohne Stolz der Familie in Albi.
Ein eigener Stil war geboren: Klare Farben, reduzierte Formen, dreiste Bildausschnitte und Perspektiven. Schonungslos ging der Chronist der Pariser Vergnügungswelt mit seinen Darstellern um, mit der Schauspielerin La Goulue (Spitzname der Vielfraß), der Tänzerin Jane Avril, von der er besonders fasziniert war, der Tänzerin Yvette Guilbert oder so manch anderer großer und kleiner Stars vieler verrückter Nächte. Stets wurde er dabei von seinem Vetter Gabriel Tapié de Céleyran begleitet, eine überaus dürre und ebenso lang gewachsene Erscheinung, der gutmütig alle Launen und Neckereien des Künstlers ertrug. Man stelle sich den Anblick dieser höchst unterschiedlichen Männer vor!
Selbstzerstörung. Toulouse-Lautrec arbeitet wie ein Berserker, denn viele Aufträge strömen ihm jetzt zu, obwohl er bei fast allen Kritikern immer nur der reiche Dilettant bleibt! Doch er ist auf dem Weg der Selbstzerstörung, ein Saufgelage folgt dem Nächsten und bald muss er seiner Zügellosigkeit Tribut zollen. Die Krisen häufen sich, mit Mitte 30 wirkt Toulouse-Lautrec zunehmend wie ein Greis. Nach einem Anfall von Delirium tremens bleibt seiner Mutter nichts anderes übrig, als ihn für eine Entziehungskur in eine geschlossene Anstalt einweisen zu lassen. Qualvolle drei Monate muss der Künstler dort verbringen, bis er mit einer imponierenden Reihe von, aus dem Kopf gemalten, Zirkusbildern seine Ärzte von seinem gebesserten Zustand überzeugen kann. Voller Stolz verkündet er hinterher: Ich habe meine Freiheit mit meinen Zeichnungen gekauft.
Werke zeitloser Wahrheit. Doch seine Kräfte lassen immer mehr nach – seine Mutter, die sich ein Leben lang so sehr um ihn bemüht hat, bringt ihn auf ihr Schloss Matromé, wo er am 9. September 1901 verstirbt. Sein lebenslanger Freund Joyant versuche im Auftrag der Mutter, dem Louvre Henris Lebenswerk zu stiften – doch dieser lehnt ab. Was für eine fatale Fehlentscheidung! Erst zwei Jahrzehnte später entsteht ein eigenes Museum in Albi, wo man heute Toulouse-Lautrecs Bilder sehen kann, voll von archaischer Ausdruckskraft und pure Zeugnisse dafür, wie ein ewig Neugieriger die Umwandlung von Schrillem und scheinbar Vulgärem in zeitlose Schönheit vollbrachte.