Das Sterben meiner Mutter

22. Oktober 2012 | von

Mit einer Transitus-Feier erinnern sich die franziskanischen Orden am Vortag des Franziskusfestes an den Hinübergang ihres Ordensvaters aus dieser Welt in das Paradies des Himmels. Denn vor seinem Sterben ließ sich Franziskus aus dem Evangelienbuch (Joh 13,1) jene Stelle vorlesen, die so beginnt: „Da Jesus wusste, dass für ihn die Stunde gekommen war, aus dieser Welt hinüber zum Vater zu gehen.“



An einem Sonntag stirbt meine Mutter, am 20. Mai 2012, dem Tag der Woche, an dem sie vor fast 87 Jahren in Brasilien das Licht der Welt erblickte. Es ist 10.45 Uhr, als mein Bruder und ich – zusammen mit einer Krankenschwester – das Bett mit unserer sterbenden Mutter von der Intensivstation holen. Wir kommen mit ihr in ein leerstehendes Krankenzimmer. Sonne durchflutet den Raum und durch die offenstehenden Fenster laden Kirchenglocken zum Sonntagsgottesdienst ein. Die Atmosphäre spricht von Ostern. Doch mit einem Blick auf unsere sterbende Mutter begreifen wir: Noch stehen wir im Karfreitag.



NOCH SECHS TAGE ZEIT

Hinter uns liegen sechs intensive Tage. Der unerwartete Anruf am Montag, in dem Mutter mir von dem Zufallsergebnis einer Routineuntersuchung berichtet, zeigt mir, dass etwas anders ist als sonst. Sie kommt sofort ins Krankenhaus. Innerhalb von vier Tagen verändert sich ihre Situation dramatisch, bis sie am Samstagnachmittag bei unserem Besuch auf der Intensivstation plötzlich sehr verändert ist. Morgens noch kämpferisch eingestellt, ist sie nun ruhig, ausgeglichen. Die Ärzte sagen uns, dass die Situation sehr ernst ist, aber Mutter strahlt Zuversicht und Freude aus. „Es ist gut zu bleiben, aber auch gut, zu gehen.“

Die Sauerstoffmaske behindert sie, doch ihre Gedanken sind sehr klar, als wir über die Vergangenheit und über unsere Zukunft sprechen. Es ist, als ob sie uns mit ihrem Blick und ihren Gesten segnet. Plötzlich meint sie fast schelmisch: „Ihr wolltet doch immer wissen, wie ich mir meine Beerdigung vorstelle. Jetzt haben wir Zeit genug, dieses Thema zu behandeln.“ Und etwas später mit humorvollem Unterton: „Nun schaffe ich es wohl doch nicht mehr, in zwei Monaten meinen 87. Geburtstag zu feiern! Eigentlich schade!“ Schließlich: „Und jetzt geht nach Hause und macht Euch einen schönen Abend. Es ist gut, dass ihr einander habt.“



SEGEN UND STERBEGEBETE

Am Sonntagmorgen früh rufen die Ärzte an. Mutter hat einen schweren Herzanfall und fragt nach uns. Als wir die Intensivabteilung betreten, wird sie ruhiger. Sie blickt meinen Bruder und mich abwechselnd ernst an. Wir sehen ihre Liebe und fühlen den Abschied, als sie mit großer Mühe sagt: „Danke für alles, danke für Euch…“ Wir ergreifen ihre Hände, und fühlen uns ganz neu und stark als Familie vereint.

Seit zwei Stunden geht ihr Atem sehr schwer, und nun verändert sich auch ihr Gesichtsausdruck. Mit meinem Bruder schauen wir uns an. Unsere Mutter hat bereits die Krankensalbung empfangen… jetzt ist es Zeit für den letzten Segen eines Priesters.

Der katholische Krankenhausseelsorger ist nicht verfügbar... im Andachtsraum des Hauses finden wir die evangelische Pastorin, die gerade das Abendmahl mit einigen Patienten gefeiert hat.

Es ist ein feierlicher Moment, als sie erst meine Mutter, dann meinen Bruder und mich segnet und die Sterbegebete spricht. Ich bin stark angerührt von der intensiven Atmosphäre… die Präsenz Gottes unter uns. Mutter liegt unter der Sauerstoffmaske und hält die Augen geschlossen. Sie strahlt eine unglaubliche Würde aus.



DIE TORE SIND GEÖFFNET

In diesem Augenblick ist es gut und richtig, dass meine Mutter, die Zeit ihres Lebens überzeugte, praktizierende Katholikin war und eine große Liebe für die verschiedenen Kirchen spürte, in ihrer letzten Stunde auf Erden eine evangelische Pastorin zur Seite hat. Wir machen eine zutiefst ökumenische Erfahrung… die Erfahrung der einen Kirche, des einen Gottes.

Die Pastorin steht gesammelt am Fußende des Bettes und blickt uns an. Dann sagt sie mit fester Stimme: „Die Tore sind geöffnet.“

Als sie den Raum verlassen hat, ergreifen wir wieder die Hände unserer Mutter und flüstern: „Mutti, die Tore sind geöffnet. Geh` hindurch.“

Dreißig unendlich lang erscheinende Minuten vergehen, in denen der Atem immer schwerer wird. Plötzlich erscheint auf dem leidenden Gesicht unserer Mutter ein strahlendes Lächeln. Und als ob sie uns überzeugen wolle, gleich noch ein zweites. Ich verstehe dies als das Zeichen, um das ich sie gebeten hatte: „Lass uns wissen, wie der Himmel ist.“



ZURÜCK IN DIE ARME GOTTES

Um 13.05 Uhr gleitet meine Mutter aus unseren Armen in die Arme Gottes. Sie durchschreitet „die Tore“ und für einen Augenblick scheint es mir, „den Himmel offen zu sehen“. Im schneidenden Schmerz des Abschieds erfüllt für eine Sekunde ein starkes, helles Licht mein Herz. Es ist Ostern!

Die Krankenschwester meint kurz darauf erschüttert: „Ein solches Sterben kann man nicht improvisieren. So wie man gelebt hat, so stirbt man.“

Vier Monate sind seit dieser Erfahrung vergangen. Es ist wieder Sonntag. Vor dem Fenster färbt die Septembersonne die Bäume rot und gelb. Die Glocken der naheliegenden Kirche läuten zum Angelus. Tränen rinnen über mein Gesicht. Meine Mutter fehlt mir so sehr. Aber jeder neue Tag lässt in mir die Sicherheit wachsen: Der Tod ist Teil des Lebens, er ist die Erfüllung unserer Zeit auf Erden. Meine Mutter hat mich im Sterben durch ihr Beispiel die wichtigste Wahrheit gelehrt. Danke!

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016