Das Wesen des Schönen

24. Juli 2007 | von

Ein Leben im Schönheitswahn, im Streben nach dem absoluten Erscheinungsbild hält die Menschen auf Trab. Seit Jahrhunderten versuchen Künstler und Philosophen das Wesen des Schönen zu ergründen. Zu den Suchenden gesellt sich selbst die moderne Wissenschaft. Objektiver Regelkanon oder subjektives Gefallen – was ist Schönheit?


Wie können wir die Schönheit erkennen? Was ist das Besondere an ihr, dass wir so nach ihr streben? Gibt es Regeln, um sie einzuordnen, oder kann jeder nur für sich selber entscheiden, was sie für ihn ist?

Sehr abstrakt und verwirrend sind die lexikalischen Definitionen: Schönheit liegt dann vor, wenn eine Übereinstimmung mit ihrem Wesen gegeben ist. Geistig und sinnfällig müssen die Teile in ihrer Harmonie sein und die Idee des Schönen an sich muss ersichtlich sein.

Schöner Schein. Meist wird Schönheit mit „gut" in Verbindung gebracht („das hast du schön gemacht"). „Wahre Schönheit kommt von innen" suggeriert ein gutes Wesen, eine edle Gesinnung. Sichtbar wäre sie demnach nicht, sinnlich erfassbar müsste sie hingegen sein. Aber auch immer erkennbar? Was ist die übergeordnete Einheit in ihrer Vielfalt, in der sie uns täglich begegnet oder wir sie schmerzlich vermissen? Sonst würden wir nicht unseren Alltag verschönern wollen oder wären so glücklich darüber, besonders schön zu sein.

Wir sind gefangen vom Streben nach Schönheit. Die Medien sind voll schöner Vorbildsmenschen. Glück und Erfolg scheinen davon abzuhängen, keinen Schönheitsmakel zu besitzen. Mit Diäten wird gegen „hässliche" Fettpölsterchen angekämpft, von radikalen chirurgischen Eingriffen zur Körperverschönerung ganz zu schweigen.

Wissenschaftlicher Ansatz. Ausgeklügelte wissenschaftliche Forschungen suchen nach Kriterien für die Schönheitsbewertung beim Menschen; doch kann es eine objektive Definition gar nicht geben, welcher Mensch denn nun in den Augen aller Anderen besonders schön ist. Nie werden sich alle einig sein, nur eine etwa 50-prozentige Übereinstimmung aller Geschmäcker lässt sich feststellen. In Computersimulationen und photographischen Überlagerungen vieler „Durchschnittsgesichter" suchen evolutionspsychologische Schönheitsforscher nach dem besonders schönen Antlitz, sind wir doch auf das Gesicht besonders fixiert. Eine Vorliebe für schöne Gesichter lässt sich schon bei Kindern feststellen. Die Symmetrie scheint eine wichtige Rolle zu spielen, aber auch kleinste Abweichungen sind bedeutend, ebenso wie das sogenannte Kindchenschema: Wenn eine Frau eine gewisse Kindlichkeit in ihren Zügen trägt, ihre hohen Wangenknochen aber auch eine frauliche Reife ausstrahlen und sie uns mit großen glänzenden Augen (als Ausdruckszeichen eines „mimischen Signalsystems") und einem Lächeln ihre Attraktivität beweist. Große Pupillen tun ihre übrige Wirkung – das wussten schon die Damen im Mittelalter und träufelten sich Belladonna um der Schönheit willen in die Augen. Eine makellose reine Haut ist ebenso ein absolutes Schönheitsmuss, deswegen leiden Pubertierende auch wegen ihrer Hautprobleme und alle Covermodelle werden mittels Computer von etwaigen Pusteln „bereinigt". Nach wie vor ist kein Schönheitskanon in Sicht, wie ihn schon der römische Architekt Vitruv in seiner Proportionslehre suchte. Schönheit ist eben mehr als die Summe ihrer Teile. Ihre Grenzen sind verschwommen und lassen sie immer nur als Momentaufnahme einer Zeit mit ihren jeweiligen Erklärungen und Theorien zum aktuellen Weltbild erscheinen. Eine Kon-stante im Schönheitssinn muss es aber geben, sonst würden wir nicht Kunstwerke vergangener Epochen als schön empfinden. Ein einheitliches Schönheitsideal an sich existiert nicht, sondern nur ein gewisser Konsens über Zeiten und Kulturen hinweg.

Zeit abhängig. Jede Epoche kultiviert ihre eigenen Vorstellungen von Schönheit, auch Mode genannt: Eine Art Symbolsprache, die nur innerhalb einer gewissen Gruppe und Zeit verstanden und akzeptiert wird, für den Außenstehenden nur schwer nachvollziehbar. Der Einzelne kann sich selbst darstellen, seine „Einzigartigkeit" pflegen und zugleich durch Veränderungen an seinem Äußeren (Kleidung, Schmuck, Tätowierungen...) „Gruppenzugehörigkeit" unter Beweis stellen. Konventionen, unbewusst als schön und erstrebenswert erachtet, werden geschaffen und sind für einen gewissen Zeitraum gültig. Heute sind sie durch den Einfluss von Pop-Stars und Medien einem immer schnelleren Wandel unterzogen. Denn auch der Konsum soll durch Moden angeregt werden. In ausgeklügelten Marketingstrategien wird das Verkaufstalent der Schönheit sprich schöner Menschen genutzt, denn Attraktive sind die besseren Selbstdarsteller.

Von Natur aus. Warum hat die Natur die Schönheit überhaupt „erfunden"? In der Natur hat alles seinen Sinn, auch die Schönheit ist niemals zweckfrei. Eine besonders auffallende Blüte lockt Insekten an. Das Vogelmännchen mit dem markantesten Gefieder zieht die meisten Weibchen an. Um einen Partner zu verführen, konkurrieren die Mitglieder eines Geschlechtes um das andere. Ein opulentes Pfauenrad, das doch eher hinderlich ist („wer schön sein will, muss leiden"), steht als Zeichen für Gesundheit, Fruchtbarkeit und „Überfluss", sprich gute Gene. Schönheit lenkt also Libido.

Auch die Schönheit einer Frau ist das „Versprechen" der Natur für reichlichen und gesunden Nachwuchs. Doch nicht starke Männer mit Muskeln sind das „Absolute" für das „schwache" Geschlecht, denn Frauen legen in ihrer Partnerwahl, laut Umfragen, weniger Wert auf die Attraktivität eines Mannes als vielmehr auf seinen Rang. Dies erklärt die oft jungen attraktiven Frauen an der Seite einflussreicher älterer Männer.

Vor- und Nachteile. Bestimmte biologische Signale empfinden wir als betörend und schön. Bei Schmetterlingen und Blumen lassen sich ihre starkfarbigen kontrastreichen Formen und Farben als Reize schnell und effektiv von unserem Gehirn verarbeiten und lösen ein Wohlbefinden in uns aus. Runde, sanfte Formen werden als sehr viel angenehmer empfunden als kantige. Das weibliche Geschlecht „lockt" die Männerwelt mit kontrastierenden roten Lippen zu weißer Haut, ihrer weicheren Stimme und Pheromene genannten Duftstoffen (laut Untersuchungen riechen schöne Frauen sogar angenehmer!). Das Schöne ist also durchaus biologisch determiniert. Schönheit ist ökonomisch gesehen ein knappes und damit begehrtes Gut.

Viele Stereotype erschweren eine objektive Betrachtung. Einerseits werden schönen Menschen Studien zufolge mehr Fähigkeiten und bessere Charaktereigenschaften zugestanden und sie dadurch auch zuvorkommender behandelt. Andererseits gelten sie auch als eitel, oberflächlich, egoistisch und unnahbar, weil sie immer im Rampenlicht stehen. In Führungspositionen sitzen aber häufig auch unattraktive Frauen, denen wohl mehr Durchsetzungskraft zugetraut wird.

Schrecklich hässlich. Jede Epoche hat ihre eigenen Schönheitsideale und -ikonen. Auch das, was die Menschen mit Abscheu erfüllt, sagt sehr viel über ihr „Schönheitsempfinden" aus. Die Monster des Hieronymus Bosch faszinierten die Menschen des Mittelalters auf eigenartige Weise. Dies gilt genauso für die in der Romantik kreierte Figur des „Frankenstein", die Zuordnung von Gut und Böse in Hollywoodstreifen bis zu unsäglichen Grausamkeiten, die uns die heutige Medienwelt anbietet.

Viele vergangene Kulturen töteten ihre „hässlichen" missgebildeten Kinder. Auf Jahrmärkten und im Zirkus wurden verunstaltete Menschen als „Ungeheuer" zur Schau gestellt. Auch in der Märchenwelt ist gut (= schön) und böse (= hässlich) durch das Äußere klar definiert. Und nicht zuletzt diente es schon immer der Verunglimpfung unliebsamer Minderheiten (die hässliche Judennase!). Die Idee des Schönen lenkt und lässt sich im Dienst von Demagogen auch sehr gezielt einsetzen, da das (vermeintlich) Gute neben dem Bösen immer noch schöner wird!

Was Menschen in früheren Kulturen in ihrem Alltag schön fanden, lässt sich aus heutiger Sicht schwer nachvollziehen. Der Hang, Gebrauchsgegenstände durch Zierrat oder Bemalung zu verschönern, zieht sich durch unsere ganze Menschheitsgeschichte.

Im Wandel der Epochen. Bei den Griechen, deren Weltbild von Ordnung und Harmonie geprägt war, gab es Schönheit nur in Verbindung mit Maß und Symmetrie. Für den Philosophen Plato stellte sie sich als subjektive Sichtweise dar, als Glanz, der eine intellektuelle Wahrnehmung erforderte und den folglich auch nicht alle erfassen konnten! Auf der Suche nach der idealen inneren und äußeren Schönheit glaubten seine Zeitgenossen an eine göttliche Proportion, ein ideales Teilungsverhältnis, bis heute als „Goldener Schnitt" bekannt.

Im Mittelalter entstand Schönheit auch durch Gegensätze. Sogar Monströses hatte seinen Sinn und trug zu einer gottgewollten Ordnung der Natur bei. Die Kunst konnte daher auch Hässliches schön darstellen. In diesem für uns so „düsteren" Zeitalter wurde Gott mit Licht gleichgestellt. Gleichzeitig waren die Farbe (mit einer ausgeprägten Farbsymbolik) und die kosmischen Aspekte des Lichtes die Ursache aller Schönheit. Besonders deutlich wird dies in den gotischen Glasfenstern, im „himmlischen Licht" blauen Glases einer Kathedralenrosette. Gleichzeitig wurde durch die Dichtung der Troubadoure die unerreichbare Geliebte zum Gegenstand sublimierter Liebe und in unerfülltem Verlangen ihre Schönheit verklärt.

In der Renaissance war das Ideal der Schönheit geprägt durch eine möglichst präzise Wiedergabe der Natur, wissenschaftliche Gesetzmäßigkeit (Perspektive!) und zugleich den Drang nach übernatürlicher Vollkommenheit (siehe die rätselhaften Gesichter Leo-nardos oder die Bilder von Raffael, dem Vertreter des klassischen Schönheitsideales schlechthin).

Wohlgefallen ohne Interesse. Nach den Exzessen des in Formen schwelgenden Barockes und des von Puder und Perücke bestimmten buntscheckigen Rokokos besannen sich die Menschen im Klassizismus auf eine neue Strenge und begeisterten sich für Reisen, antike Monumente und exotische Schönheit. Naturerfahrungen ließen sie das Wunderbare in der Natur entdecken. Der subjektive Geschmack trat in den Vordergrund. Die Schönheit liegt in den Augen des kritischen Betrachters und führte zur Idee des Erhabenen, die wiederum edle Leidenschaften anregt. Man freute sich einfach an der Schönheit, die ein „Wohlgefallen ohne Interesse" ist, wie es Kant 1790 in seiner Kritik der Urteilskraft wegweisend formulierte.

Die Melancholie gesellte sich in der Romantik zu einer nun relativen Schönheit. Romantische Helden, die der Kraft der Leidenschaften nicht widerstehen konnten, und Sehnsüchte nach magischen Orten kamen hinzu, wie Ruinen als Zeichen der nagenden Zeit. Der Sprung nach Dekadenz und Selbststilisierung durch l`art pour l’art im 19. Jahrhundert ins kommerzialisierte Leben des 20. Jahrhunderts mit all seiner Reproduzierbarkeit und den Schönheitsidealen aus der Welt des Warenkonsums ist groß. Schönheits-utensilien wie die Korsette wurden abgelegt. In immer schnellerem Wechsel der Moden und Stile eines Jahrhunderts, das abstrakte Kunst und neues Design hervorbrachte. Nach den üppigen Formen der 50er kam der Schlankheitskult der 60er, über die Hippiekultur und diversen anderen immer schnelleren, schrilleren Modeschönheitswellen befinden wir uns nun in unserer geradezu schönheitsbesessenen Gegenwart.

Maß aller Dinge. Schönheit ist nun machbar. Jedes Haar am Körper ist aktuell ein Makel, Zellulitis eine Krankheit und wehe, der Mann hat keinen Waschbrettbauch. Eine Leitkultur, in der die Schönheitschirurgie kein Tabuthema mehr ist und zudem für jeden erschwinglich.

Führt dies alles zu mehr Zufriedenheit oder wächst der Zwang zum Schönsein nicht ins Unendliche? Ist es nicht eher ein perfektionistischer Wahn unserer Egomanengesellschaft? Ersetzen Konsum und Illusionen nicht das eigentlich Schöne, das seinen Sinn wie in der Kunst in sich selber trägt und ganz anders begriffen werden sollte? Wäre nicht ein ehrliches positives Selbstbild und mehr Humor nötig, auch bei körperlichen Schwächen, als adäquate Antwort auf eine Selbststilisierung? Wahre Schönheit im Austausch gegen die Ware Schönheit. Wie viel interessanter ist doch ein Gesicht, in das sich das Leben „eingegraben" hat im Vergleich mit einer beliebig austauschbaren jugendlichen Variante. Schön auf Dauer wird nur die Schöpfung der Natur sein, ein zeitloses Kunstwerk oder ein Mensch, der uns besonders wertvoll ist.

Was im Einzelnen besonders schön für uns ist, diese Frage muss jeder für sich selbst entscheiden. Kritisch allen Einflüssen gegenüber sollten wir sein, mit dem Bewusstsein, nicht glücklich durch Verschönerung unseres Aussehens werden zu müssen. Nicht alles, was leuchtet und glänzt, ist automatisch schön. Und echt schon gar nicht.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016