Der Gottprotz oder Friedensboten als Racheengel?

Die Grenze zwischen Fundamentalismus und Fanatismus ist fließend. Das lässt sich auch im Bereich der Religionen beobachten.
04. November 2016 | von

Wer religiöse Texte wortwörtlich versteht, macht die heiligen Schriften zu einer Art Steinbruch. Man beruft sich auf einzelne Äußerungen, die aus dem Sinn- und Entstehungszusammenhang herausgerissen werden. Und bemerkt dabei nicht (oder will nicht bemerken), dass solche angeblich sakrosankten Äußerungen nur dazu dienen, die eigenen vorgefassten Ansichten zu untermauern. Auf diese Weise lassen sich selbst Gewalt und Grausamkeit mühelos rechtfertigen. Machen wir doch einmal die Probe aufs Exempel anhand dreier Texte, von denen jeder einer der drei großen monotheistischen Religionen zuzuordnen ist.

Gott versteht keinen Spaß
„Wenn der Herr, dein Gott, dich [gemeint ist das Volk Israel] in das Land geführt hat, in das du jetzt hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, wenn er dir viele Völker aus dem Weg räumt und du sie schlägst, dann sollst du sie der Vernichtung weihen. […] Ihr sollt ihre Altäre niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen und ihre Götterbilder im Feuer verbrennen.“ (Dtn 7,1-5). Dieser Abschnitt aus dem Buch Deuteronomium zeigt: Wenn es um die Erhaltung des Glaubens und um die Reinerhaltung des Blutes geht, versteht Gott angeblich keinen Spaß.
Diese Neigung zu Rachegelüsten findet sich auch im Neuen Testament. Ein Beispiel dafür ist die Vision des dritten Rache-
engels in der Offenbarung des Johannes: „Der Engel rief mit lauter Stimme: Wer das Tier und sein Standbild anbetet [d. h. wer den Kaiserkult pflegt] und wer das Kennzeichen auf seiner Stirn oder seiner Hand annimmt, der muss den Wein des Zornes Gottes trinken, der unverdünnt im Becher seines Zorns gemischt ist. Und er wird mit Feuer und Schwefel gequält [...]. Der Rauch von ihrer Peinigung steigt auf in alle Ewigkeit, und alle, die das Tier und sein Standbild anbeten und die seinen Namen als Kennzeichen annehmen, werden bei Tag und Nacht keine Ruhe haben.“ (Offb 14,9-11)

Kriegsbestimmungen und Rachefantasien
Drohung, Knute und Unerbittlichkeit spielen auch im Koran keineswegs eine Nebenrolle: „Kämpft allesamt gegen die Heiden, so wie sie allesamt gegen euch kämpfen.“ (Sure 9,36) „Ihr Gläubigen, fürchtet Gott und trachtet danach, ihm nahezukommen, und führet um seinetwillen Krieg. Vielleicht wird es euch dann wohlergehen.“ (5,35) „Der Lohn derer, die gegen Gott und seinen Gesandten [Mohammed] Krieg führen […], soll darin bestehen, dass sie umgebracht oder gekreuzigt werden oder dass ihnen rechts und links Hand und Fuß abgehauen werden oder dass sie des Landes verwiesen werden.“ (5,33)
Wie erklärt es sich, dass für die Anhänger einer Religion solche unerträglichen Passagen als heilige Texte gelten? 
Die koranischen Kriegsbestimmungen entstanden zwischen 622 und 632, während Mohammeds Widersacher ihm den Zugang zu Mekka zu verwehren suchten. Die alttestamentliche Weisung, die Feinde auszurotten und ihre Heiligtümer zu zerstören, entstammt einer Epoche, in der die Existenz Israels auf dem Spiel stand. Die Rachefantasien in der Geheimen Offenbarung entstanden in einer Zeit, als die Jesusleute verfolgt wurden, die dann eben, sozusagen zum Ausgleich, ihre Vergeltungswünsche in die Endzeit hineinprojizierten.

Der Mensch als Gottprotz
Das alles zeigt: Es sind nicht die Religionen als solche, welche Gewalt provozieren. Es sind die Menschen, die insbesondere in Zeiten der Verfolgung zur Gewalt neigen und diese Gewaltbereitschaft im Nachhinein religiös verbrämen. Ähnlich verhalten sich heute alle, welche menschenverachtende Ideologien und menschenrechtswidrige Verhaltensweisen unter Berufung auf ihre Religion rechtfertigen.
Was es damit auf sich hat, hat der Nobelpreisträger Elias Canetti in seiner Schrift Der Ohrenzeuge mit dem Begriff „Gottprotz“ auf den Punkt gebracht:
Der Gottprotz muss sich nie fragen, was richtig ist, er schlägt es nach im Buch der Bücher. Da findet er alles, was er braucht. Da hat er eine Rückenstütze. Da lehnt er sich beflissen und kräftig an. Was immer er unternehmen will, Gott unterschreibt es. Er findet die Sätze, die er braucht, er fände sie im Schlaf. Um Widersprüche braucht er sich nicht zu kümmern, sie kommen ihm zustatten. Er überschlägt, was ihm nicht von Nutzen ist und bleibt an einem unbestreitbaren Satz hängen. Den nimmt er für ewige Zeiten in sich auf, bis er mit seiner Hilfe erreicht hat, was er wollte. Doch dann, wenn das Leben weitergeht, findet er einen anderen Satz.
Besser, pointierter und ironischer ließe sich die fundamentalistische Denkweise nicht charakterisieren. Was Canetti im Hinblick auf die Bibel sagt, gilt selbstverständlich auch für andere religiöse Texte. Mit einem Wort, der Gottprotz weiß, woran er sich zu halten hat, nämlich an seine heiligen Schriften. Denn die haben seiner Ansicht nach immer recht. In Wirklichkeit bedienen sich fundamentalistisch Argumentierende ihrer um zu sagen: Ich habe recht.

Verständnis im luftleeren Raum
Eine fundamentalistische Lektüre heiliger Texte geht davon aus, dass diese gewissermaßen im luftleeren Raum entstanden sind. Sie beachtet weder die psychologischen und charakterlichen Eigenschaften der menschlichen Verfasser, noch deren jeweilige Aussageabsicht. Zeit und Umstände der Entstehung der Texte spielen keine Rolle. Die konkrete Lebens­- und Glaubenssituation der ursprünglichen Adressaten und Adressatinnen ist unerheblich. Letztlich läuft diese Art des Umgangs mit heiligen Büchern auf ein buchstäbliches Verständnis der darin enthaltenen Aussagen hinaus. Eine solche Art der Lektüre bezeichnen wir als Fundamentalismus. Fundamentalistisch orientierte Gläubige kennen alle Antworten auf jede Art von Fragen im Voraus, die sie in ihren heiligen Schriften suchen. Suchen? Tatsächlich verhalten sie sich wie Leute, die Ostereier verstecken und hinterher genau wissen, wo sie zu finden sind.

Lehramt gegen Fundamentalismus
Was die Bibel betrifft, hat das kirchliche Lehramt vor dieser Art Lektüre zu wiederholten Malen gewarnt (dass es selber gelegentlich dieser Versuchung erlegen ist, steht auf einem anderen Blatt!). Gegen eine fundamentalistische Vereinnahmung biblischer Schriften verwahrt sich die Päpstliche Bibelkommission in ihrem 1993 erschienenen Dokument über Die Interpretation der Bibel im Leben der Kirche ausdrücklich: „Der fundamentalistische Zugang ist gefährlich, denn er zieht Personen an, die auf ihre Lebensprobleme biblische Antworten suchen. Er kann sie täuschen, indem er ihnen fromme, aber illusorische Interpretationen anbietet, statt ihnen zu sagen, dass die Bibel nicht unbedingt sofortige, direkte Antworten auf jedes dieser Probleme bereithält. Ohne es zu sagen, lädt der Fundamentalismus zu einer Form der Selbstaufgabe des Denkens ein.“

Die Wurzeln des Fundamentalismus
Die Religionen wollen den Menschen den Weg zum Heil weisen. Wie kommt es dann aber, dass manche Friedensboten sich als Racheengel gebärden?
Religiös verfassten Systemen eignet per definitionem etwas Absolutes – es stehen da ja stets die ersten oder letzten Fragen zur Verhandlung an. Das Bewusstsein, Letztverbindliches und Endgültiges zu verkünden, erträgt zumeist weder Widerspruch noch Gegenrede und führt gerade deswegen leicht zu Aggressionen. Hier gilt nicht: Wer nicht gegen mich ist, ist für mich, oder wer schweigt, stimmt zu, sondern: Wer nicht mitjubelt, ist mir feind, und wer nicht für mich ist, ist gegen mich.
Dass Menschen mit dermaßen überzogenen Ansprüchen überhaupt Gefolgschaft finden, ist nur möglich, weil andere sich zögerlich oder gar ängstlich verhalten, wenn es darum geht, Initiativen zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen. 
Anhänger und Verkünderinnen des religiösen Fundamentalismus identifizieren die höchste Autorität mit der Bibel, mit dem Koran oder mit irgendwelchen anderen angeblich übernatürlichen Offenbarungen, die dann wegen ihres angeblichen göttlichen Charakters nicht mehr weiter hinterfragt werden.

Auch außerhalb der Religion
Ähnlich verhält es sich mit dem weltanschaulichen Fundamentalismus, der in gesellschaftlichen Systemen zum Tragen kommt. Erinnert sei nur an den in Europa früher verbreiteten Absolutismus, der im ausgehenden 17. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte und im Roi Soleil Ludwig XIV. (1643-1715) seine extremste Verkörperung fand. Die Verfechter der absolutistischen Idee beriefen sich vorzugsweise auf eine vorgegebene „höhere“, gewissermaßen „übernatürliche“ Ordnung. Damit gaben sie dem damals bestehenden Ständewesen einen pseudoreligiösen Anstrich (was in der Redewendung vom „Königtum von Gottes Gnaden“ deutlich zum Ausdruck kommt) und immunisierten so gleichzeitig den Status quo gegen jede Art von Kritik. Staatliche, bürgerliche, gesellschaftliche, auch kirchliche Autoritäten präsentierten sich als Vollstreckungsorgane eines göttlichen Willens oder einer „natürlichen Ordnung“, womit der Willkür faktisch Tür und Tor geöffnet waren. 

Verunsicherung verursacht Zulauf
Bezeichnenderweise haben die Anhänger und Verfechterinnen einer fundamentalistischen Weltsicht nie etwas Eigenständig-Kreatives zur Diskussion beizutragen. Hingegen verpassen sie keine Gelegenheit, um gegen Andersdenkende anzutreten. In der Regel handelt es sich dabei um Gruppen, welche traditionelle Auffassungen selektiv verteidigen, in Opposition zu sozialen und politischen Mächten stehen und den inzwischen in einer demokratischen Gesellschaft nicht mehr rückgängig zu machenden Pluralismus bekämpfen. 
Wenn fundamentalistische Gruppen heute wiederum vermehrt Zulauf finden, hat das seine Ursache auch in einer weit verbreiteten Verunsicherung der Gesellschaft, der insbesondere die rasante Fortentwicklung der modernen Kommunikationsmittel und die damit verbundene Meinungsfreiheit zu schaffen machen.

Fundamentalismus wird zum Fanatismus
Fundamentalismus tendiert naturgemäß zum Fanatismus. Fundamentalistisch Orientierte werden immer versuchen, ihre Ideen um jeden Preis durchzusetzen. Im äußersten Fall sind sie bereit, sogar über Leichen zu gehen.
Beide, Fundamentalismus und Fanatismus, leben vom Dogmatismus. Darunter verstehen wir im weiten Sinn eine Geisteshaltung, die sich von vornherein weigert, die eigenen Thesen und Theorien zu hinterfragen. Diese Weigerung wiederum bringt es mit sich, dass extrem dogmatisch orientierte Bewegungen dazu neigen, ihre Ideen mit Druckversuchen, mit Zwangsmaßnahmen, häufig aber auch mit Gewalt und mittels Terror durchzusetzen. Es gilt dies nicht nur für religiöse Gemeinschaften, sondern auch für Anhänger und Vertreterinnen radikaler Weltanschauungen. Die Geschichte liefert dazu hinreichend Stichworte: Partei- oder Staatsdiktatur, Kreuzzüge, Religionskriege. Bei genauem Hinsehen erkennen wir schnell, dass es dabei im Grunde nie um die richtige Weltanschauung oder um den wahren Glauben ging, sondern um Macht.

Gute oder böse Macht?
Angesichts dieser Tatsache neigen manche Menschen dazu, die Macht zu verteufeln. Diesem Irrtum verfiel seinerzeit auch der Basler Kunst- und Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818-1897), der in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen behauptet: „Nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe.“ 
Die „Macht an sich“ ist weder gut noch böse. Sie ist auch nicht moralisch. Und schon gar nicht ist sie unmoralisch. Sie kann beides nicht sein, da es die „Macht an sich“ genauso wenig gibt wie die Liebe oder den Hass. Wohl aber gibt es auf sehr verschiedene Weise Liebende und mit unterschiedlicher Intensität und aus vielfältigen Motiven Hassende. Nicht die Macht ist gut oder böse; moralisch gut oder ethisch verwerflich sind hingegen die Absichten, die Menschen verfolgen, und die Methoden, derer sie sich bedienen, um an die Macht zu gelangen oder um an der Macht zu bleiben.

Zusammenhänge begreifen
Das alles zeigt: Biblische oder sonstige religiöse Texte darf man nie isoliert von ihrem historischen, kulturellen, literarischen und soziologischen Kontext zitieren. Weil man sonst zu dem wird, was Elias Canetti einen Gottprotz nennt. 
Nicht die haben die heiligen Schriften verstanden, welche den Text im Kopf und für jede Gelegenheit ein passendes Zitat daraus auf den Lippen haben. Vielmehr kommt es darauf an, diese Schriften in ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu begreifen und sie im Hinblick auf das Heute zu aktualisieren.

Zuletzt aktualisiert: 04. November 2016
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