Der heilige Antonius des Hafens
Jedes Jahr findet in Palinuro, in Kampanien in Süditalien, eine Bootsprozession auf dem Meer statt, mit der daran erinnert werden soll, wie auf die Fürsprache des heiligen Antonius am 25. September 1949 zwei Fischer auf wundersame Weise während eines schweren Sturmes gerettet werden konnten.
Es gibt Ecken in Italien, die sogar die Einheimischen zum Staunen bringen. Das ist der Fall in der Küstenregion Cilento, im Süden Kampaniens – dieses Gebiet scheint von Gott geküsst worden zu sein, so schön ist es hier! Hier liegt am gleichnamigen Kap das Städtchen Palinuro, das zu Centola in der Provinz Salerno gehört. Der große Dichter Vergil erklärt uns anhand einer Legende, die er im 5. Buch der Aeneis vorstellt, dass dieser Ortsname auf den letzten Steuermann von Enea zurückgeht, der, vom Schlaf übermannt, genau hier ins Meer gefallen sein soll. Diese Legende versucht allerdings auch, die besondere geografische Beschaffenheit dieses Ortes zu erklären. Denn hier ist die Küste so steil abfallend und gibt Schiffen und Booten nur wenige Möglichkeiten, im Notfall bei Sturm sicher anlegen zu können, dass die Seeleute dem Wetter und den Winden hilflos ausgeliefert sind.
Antonius-Verehrung im Hafen
Und eng mit dem Meer ist auch die Begebenheit verbunden, die dazu geführt hat, dass der heilige Antonius hier so sehr verehrt wird, dass jedes Jahr im September das Fest „Antonius des Hafens“ gefeiert wird. Aber dazu müssen wir einen Schritt zurückgehen, bis ins Jahr 1949, und noch genauer bis zum 25. September jenes Jahres. An jenem Tag war das Meer ruhig. Die Fischer fuhren mit ihren Booten los, aber dann…
Die Fortsetzung lassen wir uns von Artemio Belonoskin, Sohn von Giacomo, der auch „u‘ russo“ (der Russe) genannt wird und der an jenem Tag dabei gewesen ist, erzählen. Er hat diese Geschichte, die er sicher unzählige Male von seinem Vater gehört hatte, im Jahr 2012 aufgeschrieben und in dem Buch „Palinuro: Erzählungen von Menschen, die vom Meer leben“ (herausgegeben von Maria Luisa Amendola und Ezio Martuscelli) veröffentlicht.
Giacomo Belonoskin, der nach einem abenteuerlichen Leben in Palinuro gelandet war, war im Jahr 1949 Steuermann der San Pietro, „ein Schiff mit hohem, elegantem Bug und mit einem starken Dieselmotor“, mit dem es ihm gelang, jenem Sturm zu wehren, der sich in das Gedächtnis und die Erinnerung der Menschen von Palinuro eingeprägt hat.
Ein gewaltiges Gewitter
Artemio beginnt seine Erzählung: „Am Morgen jenes 25. September war das Wetter gut, deshalb sind viele Fischer mit ihren Ruderbooten ziemlich weit aufs Meer hinausgefahren, um Schwertfische zu fangen. Nichts ließ vermuten, dass am Nachmittag ein gewaltiges Gewitter losbrechen würde. Gegen 15.00 Uhr verdunkelte sich der Himmel ganz plötzlich, von Norden her erhob sich ein starker Wind, der für einen hohen Wellengang sorgte. Blitze und Donner knallten durch die Luft. Man konnte die Boote, die weit draußen auf dem Meer waren, nicht mehr sehen – es waren Stunden voller Angst und Panik. Viele Menschen aus Palinuro kamen an den Strand beim Hafen, zusammen mit den Familien der Fischer, die nicht an Land zurückgekehrt waren. Es war schon fast dunkel, und ein Fischerboot mit zwei Männern an Bord war noch immer nicht zurück an Land gekommen. Die Fischer waren Mauro Pepoli, genannt „Ciucculatera“ (im örtlichen Dialekt wird so die typisch italienische Espressomaschine für den Herd genannt), und Salvatore Del Gaudio, „u‘ zitu“ (der Schweigsame). Amodio Sacco bat die Besitzer des Motorschiffes San Pietro um die Erlaubnis, mit ihnen aufs Meer zu fahren, in der Hoffnung, die verschollenen Fischer zu retten. Nicola Amendola, der Besitzer der San Pietro, sagte, dass es ihm wert sei, sein Schiff zu riskieren, um zwei Menschenleben zu retten, wenn nur der Steuermann, Giacomo, sich bereit erklären würde, das Risiko auf sich zu nehmen. Giacomo war schon bereit: Er wartete nur auf die Erlaubnis des Eigners; dann löste er die Taue und verließ den Hafen, wobei das Schiff bedenklich durch die Wellen pflügte. Schnell verschwand das Schiff hinter der Spitze von Capo Palinuro, und die Angehörigen und Freunde der beiden Fischer strömten in die Antoniuskapelle, die sich am Strand befindet. Sie begannen, unermüdlich die Glocken zu läuten, und das Geläut vermischte sich mit dem Weinen der Mütter und Ehefrauen der Fischer.“ Und da geschah das Unglaubliche.
Ein Licht rettet Leben
Artemio, der Sohn von Giacomo, fährt in seinem von seinem Vater überlieferten Bericht fort: „Als er in der Nähe des Motorraumes aus einem Fenster ein Leuchten sah, schrie er sofort nach Amodio, dass dieser das Schiff in die Richtung des Leuchtsignals lenken sollte. Amodio riss das Ruder herum und steuerte in die Richtung, die Giacomo ihm angezeigt hatte, während Giacomo die Motoren auf das Höchste beschleunigte. Sie riefen und schrien, so laut sie konnten, inmitten des aufgewühlten Meeres, in der Hoffnung, die Vermissten zu finden. Die Richtung, die Giacomo angezeigt hatte und die Amodio, ohne jegliche Orientierung in der Dunkelheit, ansteuerte, war die richtige und brachte sie zum Ziel. Sie trafen auf die vermissten Fischer, die sich, nachdem sie im Sturm beide Ruder verloren hatten, mit ihren letzten Kräften an ihr mit Wasser vollgelaufenes Boot klammerten. So wie er sie sah, rief Giacomo aus: „Zum Glück hattet ihr die Lampe, sonst hätten wir euch nie gefunden.“ Mauro Pepoli antwortete: „Aber welches Licht denn? Welches Leuchtsignal? Wir haben nichts dergleichen, wir sind von Kopf bis Fuß durchnässt; wir hätten niemals eine Lampe anzünden können, auch wenn wir eine gehabt hätten.“ Nachdem die beiden Fischer nicht ohne Schwierigkeiten an Bord der San Pietro geholt worden waren, steuerte das Schiff auf den Leuchtturm von Palinuro zu, das einzige Signal in dieser stürmischen Nacht, an dem sie sich orientieren konnten. Als sie den Hafen erreicht hatten und von Bord gegangen waren, war die Freude und Erleichterung der Menschen groß, und als sie von der Rettung berichteten, waren sich alle sicher: Hier war auf die Fürsprache des heiligen Antonius ein Wunder geschehen!“
Laut der Erzählung anderer Beteiligter hatte man, während die San Pietro hinausgefahren war, um die Fischer zu suchen, die Statue des heiligen Antonius aus der kleinen Kapelle aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an den Strand getragen und sie mit Blick aufs Meer aufgestellt. Und noch heute, während des drei Tage dauernden Festes zu Ehren des heiligen Antonius des Hafens Ende September, wird diese Statue in einer Prozession zum Strand getragen und dann auf ein Schiff geladen, das von vielen kleineren Schiffen begleitet in einer Art Prozession bis zur Stelle der wunderbaren Rettung fährt.