Der Hildesheimer Dom
Der Hildesheimer Dom blickt auf eine 1150-jährige Geschichte. Unsere Autorin stellt das Gotteshaus vor, das nicht zuletzt mit seinem uralten Rosenstock beeindruckt.
Wenn man mit amerikanischen Gästen in Deutschland unterwegs ist und ihnen Gebäude zeigt, die zwei- oder dreihundert Jahre alt sind, staunen sie oft sehr darüber, wie es möglich ist, auf eine so lange Tradition zurückzublicken. Steht man mit ihnen dann von einem Bauwerk wie dem Hohen Dom zu Hildesheim, der in diesem Jahr seinen 1150. Geburtstag feiert, erscheint ihnen das wie ein Wunder. In der Tat ist es das auch, denn im Verlauf dieser sehr langen Periode hat der Zahn der Zeit, haben Kriege und Unglücksfälle manch anderem Haus, das von Menschenhand errichtet worden ist, den Garaus gemacht.
Beim Hildesheimer Dom kommt hinzu, dass wir es nicht nur mit einem in architektonischer Hinsicht bemerkenswerten Kulturgut, sondern auch mit einem ganz besonderen Kraftort zu tun haben. Denn hier haben seit mehr als 1150 Jahren Menschen Tag für Tag gebetet und den Platz und später den Dom mit ihrer geistig-geistlichen Energie buchstäblich aufgeladen.
Bau mit Geschichte und Bedeutung
Die Geschichte des Doms reicht bis ins Jahr 815 zurück. Denn in diesem Jahr entstand an seinem Platz nach der Gründung des Bistums Hildesheim eine Marienkirche, die ihren Standort im Bereich der heutigen Apsis hatte. Aber selbst sie war möglicherweise nicht die erste Pfarrkirche im Gebiet der heutigen Diözese Hildesheim. Denn die Kapelle des heiligen Stephanus, deren Bau sich der Initiative von Hildegrim von Châlons verdankt, der in Ostsachsen missionierte, und die neben dem Torbau am östlichen Zugang des Hellwegs gelegen ist, soll sogar noch älter sein. Kurz nach der Marienkapelle ließ Bischof Gunthar ein wenig südlich von ihr die Dom- und Stiftskirche St. Caecilia bauen, in der die ersten vier Hildesheimer Bischöfe begraben wurden. Erhalten sind von diesen beiden frühen Gebetsorten nur noch Fundamentreste.
Den Mariendom, der zu den bedeutendsten Bauwerken der Vorromanik in Niedersachsen gehört und der eine der ältesten Bischofskirchen Deutschlands ist, ließ Bischof Altfrid als dreischiffige Basilika auf einem Kreuzgrundriss mit zweistufigem Westbau errichten. Hinter den trockenen Zahlen verbirgt sich eine tiefgründige spirituelle Bedeutungsvielfalt. Der Kreuzgrundriss nimmt Bezug auf das zentrale Symbol des christlichen Glaubens – jenes Kreuz, an dem Jesus Christus gestorben ist, um die Menschen von ihrem sündigen Zustand zu befreien. Denn im Zustand der Sünde zu leben, bedeutet, von Gott, von der Quelle des Lebens und der Liebe getrennt zu leben.
Dass die Basilika dreischiffig ist, spiegelt wider, dass die Gemeinde, die dort Gottesdienst feiert, als Leib Christi zugleich an Leben und Wesen des dreifaltigen Gottes teilhat – ein ziemlich großes, Leib, Geist und Seele erhebendes Glaubensgeheimnis, dessen lebendige Wirklichkeit in diesem Dom seit Jahrhunderten gefeiert wird.
Kirche und Schule
Ein wichtiger Teil des Hildesheimer Doms war die dazugehörige Domschule, die ihre Räume im Kreuzgang hatte und als bedeutendste Bildungsanstalt des ottonischen und salischen Reiches gilt. Schulen und Kirchen miteinander zu verknüpfen, war eine Idee, die vom Mittelalter bis in die 1950er Jahre ganz selbstverständlich in der Architektur umgesetzt wurde. Der Grund für diese Verbindung liegt auf der Hand. Wer keine Ahnung vom Glauben hat, kann nicht katholisch sein. Deshalb schuf man klare Strukturen, die der Vermittlung des Glaubenswissens dienten. In Hildesheim kann man die Früchte dessen, was an der Domschule vermittelt wurde, bis heute in der Handschriftenabteilung der Dombibliothek bewundern.
Wunderbare Rose
Dass Kirchen Orte blühenden Lebens sein können, wird am Hildesheimer Dom am Beispiel des dort seit mehr als 1150 Jahren wachsenden und gedeihenden Rosenstockes deutlich. Die beeindruckende Pflanze lebt an der Außenwand der Apsis im Innenhof des Kreuzgangs, hat also schon viele Gläubige und Domschüler, die den Dom und die Schule besuchten, hier ein- und ausgehen sehen. Ihr exaktes Alter lässt sich nicht mit hundertprozentiger Genauigkeit bestimmen, sie gilt aber als älteste Rose weltweit und macht den Hildesheimer Dom deshalb auch für botanisch Interessierte zu einem touristischen Anziehungspunkt.
Die Rosenstock-Legende erzählt in einer berührenden Sinngeschichte davon, wie es dazu kam, dass der Glaube an das Brot des Lebens, das in der Eucharistiefeier geteilt wird, und in dem Jesus Christus für die Gläubigen gegenwärtig ist, hier in Hildesheim wie eine Rose zu blühen begann. Wir schreiben das Jahr 815 und Kaiser Ludwig, dem man aufgrund seiner für einen Herrscher bemerkenswerten geistlichen Grundhaltung den Beinamen „der Fromme“ gegeben hatte, ließ während einer Jagd in den Wäldern, die sich damals an jenem Ort befanden, eine Messe lesen. Das Marienreliquiar, das er mit sich führte, hängte er am Zweig einer Wildrose auf. Nach der Eucharistiefeier ließ es sich nicht mehr ablösen. Für den Kaiser und sein Gefolge ein klares Zeichen: Maria, die Mutter Jesu, wollte offenbar, dass er, Kaiser Ludwig, hier und nicht wie zuvor geplant in Elze, ein neues Bistum gründen und unter ihren Schutz stellen sollte, deren Symbol die mystische Rose ist. Die Rose wuchs und gedieh ebenso wie der Glaube der Hildesheimer Diözesanen. Und selbst die Verheerungen des 2. Weltkrieges konnten das tief in ihr wurzelnde Leben nicht auslöschen. Von außen sah dies ganz anders aus. Denn während des 2. Weltkriegs hatten Spreng- und Brandbomben den Dom und mit ihm die Apsis und den Rosenstrauch am 22. März 1945 schwer beschädigt, sodass von dem einst üppig blühenden Strauch nur noch ein verkohlter Stumpf übriggeblieben war, auf dessen neues Erblühen niemand auch nur einen Pfennig gesetzt hatte. Aber zum Glück hatte die Rose über die Jahrhunderte hinweg tiefe Wurzeln gebildet, die – von den äußeren Beschädigungen unbeeindruckt – das innere Leben bewahrt hatten. Und so sprossen schon im Frühjahr 1945 zwanzig neue Triebe, deren Wachstum den Hildesheimern wie ein Wunder und ein Zeichen des Segens Gottes für einen Neuanfang erschienen. 1947 zeigten sich die ersten Blüten am kräftig wieder austreibenden Strauch, deren Anzahl 1948 bereits 120 betrug. Damit wurde die Rose als blühendes Zeichen des christlichen Glaubens endgültig zum Symbol der Stadt und ihrer Einwohner.