Der Mensch Papst Paul VI.
„Paul VI. Der vergessene Papst“, so der Titel des 2012 erschienenen Buches des Augsburger Kirchenhistorikers Jörg Ernesti. Wenig ist über diesen Papst geschrieben worden. Seine Vorgänger und Nachfolger scheinen einprägsamere Charaktere zu sein. Dabei gilt er als Papst des Konzils, der eine umwälzende Gesetzgebung veranlasst hat, die die Kirche bis heute prägt. Im Oktober wird er nun selig gesprochen. Welche Wurzeln hatte Paul VI.?
Das Ende eines 15-jährigen Pontifikats scheint sich in den Bildern der Fernsehübertragung vom 13. Mai 1978 zu spiegeln. In der Lateranbasilika in Rom zelebriert Papst Paul VI. das Requiem für seinen Studienfreund Aldo Moro. Der ehemalige christdemokratische italienische Ministerpräsident war von den linksterroristischen Roten Brigaden entführt worden. Paul VI. hatte sich persönlich um seine Freilassung bemüht, vergebens. Sichtlich erschüttert steht der Pontifex nun am Mikrofon, gebückt, die tiefe Stimme zittert beim Gedenken an den ermordeten Freund. Aus dem einstigen Hoffnungsträger, der die Kirche durch das II. Vatikanische Konzil und damit in eine neue Zukunft leiten sollte, war ein gebrochener Mann geworden. Nur wenige Monate nach dem Requiem, am 6. August 1978, stirbt Papst Paul VI. in Castel Gandolfo an den Folgen eines Herzinfarktes. Am 19. Oktober soll er nun selig gesprochen werden.
ZEITEN DES AUFRUHRS
Seine Amtszeit als Papst fällt in die „religiöse Krise der sechziger Jahre“, wie der Historiker und Religionssoziologe Hugh
McLeod beschreibt. Die kirchliche Hochphase der Nachkriegsjahre schwappt in den 1960er Jahren um in eine gesellschaftliche Abkehr von der christlichen Moral. Emanzipation der Frau, Scheidung, Homosexualität sind nur einige Schlagworte, die in den Gesellschaften der westlichen Welt jetzt stark diskutiert werden, und in deren Licht sich die junge Generation auf eine neuorientierte Sinnsuche gen Osten zu orientalisch spirituellen Richtungen begibt. In Zeiten des Umbruchs braucht es bekanntlich eine sicher führende Hand. Papst Paul VI. aber wirkte häufig eher hilflos. So formuliert Karl Rahner 1971: „Fortschrittlichkeit und Konservativismus, Mut und Vorsicht, plötzliche Entschlüsse und überlanges Zögern, entschlossene Fortführung der Impulse des II. Vaticanums und Tendenzen eher rückläufiger Art mischen sich auf allen Gebieten.“ Von kirchlicher Seite erfährt der Papst für seinen Widerstand gegen eine durchgreifende Demokratisierung Gegenwind. Auf gesellschaftlicher Ebene wird besonders seine Enzyklika Humanae Vitae (1968), die unter anderem die Verwendung empfängnisverhütender Mittel verurteilt und kurz nach der Markteinführung der „Pille“ veröffentlicht wurde, abgelehnt.
Diese pressetauglichen Schlagzeilen verstellen jedoch den Blick auf eine vielschichtige Persönlichkeit. Schon früh hatte er die Bedeutung des ökumenischen Gedankens verstanden. Sein Verzicht auf traditionelle päpstliche Statussymbole sowie seine Betrachtung des Menschen und der menschlichen Probleme zeichnen das Bild eines modernen Geistes, wie er unter den Päpsten des 20. Jahrhunderts selten zu finden ist. Wer wissen möchte, wer Papst Paul VI. war, muss zunächst fragen, woher er kam. Deshalb soll hier der Fokus auf das Leben des Giovanni Battista Enrico Antonio Maria Montini vor dem Pontifikat 1963 gerichtet werden.
LOMBARDISCHE WURZELN
Giovanni Battista Montinis Leben beginnt am 26. September 1897 in Concesio im Sommerdomizil seiner Familie. Er wächst mit seinen Brüdern, dem älteren Lodovico und dem jüngeren Francesco, in einem herrschaftlichen Palazzo im Stadtzentrum von Brescia auf. Die Familie gehört zu den alteingesessenen Bürgerfamilien der Stadt. Vater Giorgio ist Jurist und Stadtrat, außerdem bringt er eine der katholischen Kirche nahestehende Zeitung heraus. Dies ist insofern bemerkenswert, da zu jener Zeit durch päpstliche Direktive eine Teilnahme von Katholiken am politischen Leben nicht erwünscht war. Ausschlaggebend dafür war die als traumatisch empfundene Übernahme des Kirchenstaates durch den italienischen Staat von 1870.
Was der Vater durch seine Haltung dem Sohn vermittelt, wird diesen zeitlebens prägen: die Verteidigung der eigenen Überzeugungen trotz jedweder Widerstände, die Wichtigkeit der katholischen Soziallehre und die Notwendigkeit gesellschaftspolitischen Engagements. Als Papst wird er die Rolle der Laien innerhalb der katholischen Kirche entscheidend befördern. Außerdem ist er durch die journalistischen Tätigkeiten des Vaters mit dem Medium Presse vertraut. Er weiß um ihren Nutzen und gründet sogar selbst zwei Zeitschriften. Sein Verhältnis zum Vater ist, wie das zur Mutter Giuditta Alghisi, innig. Am Tag nach seiner Priesterweihe 1920 im Dom zu Brescia zelebriert er in Santa Maria delle Grazie seine erste heilige Messe in einem Messgewand, das aus ihrem Brautkleid geschneidert ist.
GEISTLICHE HEIMAT
Die physische Konstitution Giovanni Battistas bleibt im Gegensatz zur geistigen Aufnahmefähigkeit immer schwächlich und kränklich. Schon als Kind fehlt er häufiger in der Schule. Statt mit Altersgenossen zu spielen, vergräbt er sich in die Lektüre aus der elterlichen Bibliothek. Briefe werden sein wichtigstes Kommunikationsmittel, zeitlebens steht er mit treuen Freunden und Gleichgesinnten im schriftlichen Kontakt. Vielleicht finden sich in diesem erzwungenermaßen zurückgezogenen Lebensstil die Wurzeln für den ängstlichen, schüchternen Charakter, den zugleich höchste Sensibilität gegenüber seinen Mitmenschen auszeichnet.
In Brescia besucht er zunächst die Schule der Jesuiten. Noch größeren Einfluss haben die Oratorianer auf den jungen Giovanni Battista. Besonders nachhaltig beeindruckt ihn die Lebensform der Benediktiner. Später in Papstwürden wird er 1964 den rekonstruierten Altar der Klosterkirche in Montecassino weihen und den heiligen Benedikt zum Patron Europas ernennen. Vor allem der Ausgewogenheit der benediktinischen Spiritualität gilt seine Bewunderung.
DON BATTISTA
Dennoch entscheidet sich Montini nach dem Abitur im Jahre 1916 dafür, Weltpriester zu werden. Auch hier separiert ihn wieder seine kränkliche Konstitution von den Studienkollegen. Diesmal begünstigen die Umstände eine weltoffene Haltung. Der vielseitig interessierte junge Mann befasst sich mit Autoren wie Dostojewskij, Oscar Wilde und vor allem mit der zeitgenössischen französischen Literatur sowie Philosophie – in Zeiten des Antimodernismus der Kirche eine erstaunliche Entwicklung, denn den Seminaristen, die im Priesterseminar wohnten, ist ein Zugriff auf derartige Werke verwehrt. Noch immer bestimmt Papst Pius` X. Ablehnung gegenüber der Anwendung von Erkenntnissen der modernen Wissenschaft auf die Theologie die Ausbildung. Während Papst Johannes XXIII. zeitweise als Modernist verschrieen war und unter dem herrschenden Misstrauen zu leiden hatte, bleibt Montini davon verschont und in seiner positiven Haltung zur modernen Kultur bestärkt. 1925 ist er Mitbegründer der katholischen Verlagsbuchhandlung Morcelliana, die sich zum Ziel macht, die Auseinandersetzung mit modernen und nicht-italienischen Denkern voranzutreiben. Zeitlebens trifft er sich mit zeitgenössischen Künstlern und Wissenschaftlern zum lebendigen Dialog.
Nach der Priesterweihe kommt Don Battista, wie er nun genannt wird, nach Rom und durch Verbindungen des Vaters an die Päpstliche Diplomatenakademie Pontificia Accademia dei Nobili Ecclesiastici, Nachwuchsschmiede für den kirchlichen diplomatischen Dienst. Ziviles und kanonisches Recht, ebenso Theologie und Philosophie studiert er fleißig an der Gregoriana. Sein zurückhaltender Charakter ist wie geschaffen für die Diplomatie.
KIRCHLICHE KARRIERE
Die Nuntiatur in Warschau 1923 bleibt ein kurzes Gastspiel, das kalte Klima setzt dem frischgebackenen Attaché so zu, dass er noch im selben Jahr nach Rom zurückgerufen werden muss. Von 1924 bis 1954 arbeitet Don Battista im vatikanischen Staatssekretariat, das zum Ausgangspunkt seiner kirchlichen Karriere wird. Nebenher lehrt er ab 1930 an der Juristischen Fakultät S. Apollinare Geschichte der vatikanischen Diplomatie. Die Ausbildung verantwortungsbewusster katholischer Akademiker, die sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen sollen, bleibt ihm stets ein großes Anliegen.
Seine Stärke liegt im persönlichen Gespräch. Erste Erfahrungen als Seelsorger sammelt er von 1924 an als Geistlicher Assistent des Studentenbundes FUCI (Federazione universitaria cattolica italiana). Dort lernt er Aldo Moro kennen. Auch während seines Pontifikats interessiert ihn die Entwicklung der Christdemokratischen Partei. Er steht mit Politikern im Gespräch, ohne in deren politische Geschäfte einzugreifen. 1937 wird Montini zum Substituten und Chiffrensekretär unter Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli ernannt und zieht 1939 nach Pacellis Wahl zu Papst Pius XII. 1939 in den Vatikan um. Sein Hauptaufgabengebiet sind innerkirchliche Angelegenheiten, sein Kollege Domenico Tardini dagegen behandelt den kirchenpolitischen Bereich.
Während Tardini als konservativ gilt, wird Montini als zukunftsgerichtet wahrgenommen. Bereits früh übernimmt Pius XII. wesentliche Formulierungen aus dessen Entwürfen. So stammt der berühmte Satz des im Radio übertragenen Friedensappells vom 24. August 1939 aus Montinis Feder: „Nichts ist verloren mit dem Frieden – alles kann verloren sein mit dem Krieg.“ Obwohl schon 1952 sein Name auf der Kardinalsliste stand, wurde seine Wahl zunächst abgelehnt. Daraufhin wird er vom Papst zum Prosekretär ernannt. Einer Karriere zur Spitze der Kurie steht jetzt nichts mehr im Wege, dann geschieht das Unvorhergesehene.
MISSION MAILAND
Trotz jahrzehntelanger erfolgreicher Arbeit im vatikanischen Sekretariat und trotz seiner mangelnden pastoralen Erfahrung wird Montini 1954 zum Erzbischof von Mailand ernannt. Mailand ist damals die größte Diözese Italiens. Nun wird den vier Millionen Gläubigen ein unerfahrener, noch ungeweihter Bischof in Aussicht gestellt. Die Spekulationen, was den Papst zu dieser überraschenden Entscheidung bewogen haben mag, sind zahlreich. Bis heute ist unklar, ob es sich um eine Degradierung wegen politisch divergierender Meinungen oder um eine Qualifizierung als möglichen Nachfolger gehandelt hat. Sicher ist, dass Montinis Verehrung für Pius XII. ungebrochen bleibt. Die Bischofsweihe empfängt er am 12. Dezember 1954 in St. Peter, einen Monat vor Amtsantritt. Dass der bescheidene Mann zu großen Gesten fähig ist, beweist er bei Ankunft an seiner neuen Bistumsgrenze. Dem Regen trotzend, sinkt Montini auf die Knie und küsst den Boden. Diesen Ausdruck höchster Wertschätzung wiederholt er auch als Papst, insbesondere auf Auslandsreisen. Johannes Paul II.
wird ihn später übernehmen, uns erscheint er heute längst ewiger Bestandteil im Repertoire päpstlicher Inszenierungen zu sein.
Entgegen den Erwartungen erweist sich Bischof Montini als guter Hirte, der seine stetig wachsende Mailänder Gemeinde auch durch schwierige Zeiten führt. Die Missionierung der sich der Kirche Entfremdeten erklärt er zu seiner Hauptaufgabe. Dabei bemüht er sich, die Motive der Säkularisierung zu verstehen, doch dürfe der „Dialog, an sich eine unverzichtbare Methode der Verkündigung, […] nicht darauf hinauslaufen, unsere eigene Wahrheit zu verleugnen oder zu vergessen“.
PROGRESSIV UND KONSERVATIV
Mit den modernen Printmedien und Radiobeiträgen macht er die katholischen Laien unter dem „Primat der Spiritualität“ mobil, ohne traditionelle kirchliche Ansichten zu hinterfragen. Zwar findet diese Bewegung der Massen auch im Ausland Beachtung, doch gelingt es nicht, die problematische Grundsituation effektiv zu verändern. Den Beinamen „Arbeiterbischof“ verdankt er seiner offensichtlichen Aufmerksamkeit für die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft, die dazu führt, dass er 1961 den Hauptsitz des italienischen Gewerkschaftsbundes besucht. Die Folge ist ein Bombenattentat auf den erzbischöflichen Sitz, verübt vermutlich von Ultrarechten, bei dem, Gott sei Dank, niemand verletzt wird. Progressiv, aber auch konservativ, widmet er sich der Pflege seiner Gemeinde, im Bestreben, die pastorale Situation an die Bedürfnisse der modernen Metropole Mailand anzugleichen.
1958 wird er schließlich zum Kardinal gewählt, das bald folgende Pontifikat ist die Spitze einer kontinuierlichen Entwicklung seiner geistlichen und geistigen Haltung, die an Traditionen und Dogma festhält und zugleich die Neuerungen der Moderne zu nutzen weiß.