Der Sturz ins schwarze Loch

01. Januar 1900 | von

Manchmal gibt es in unserem Leben Ereignisse, die uns nachdenklich stimmen, in ihrem unterschiedlichen Grade unser alltägliches Leben aushebeln, im Extremfall uns sogar in einen regelrechten Schockzustand versetzen. Gerade dann, wenn wir mit uns im sprichwörtlich Reinen sind, alles Belastende und alle Sorgen im Griff, beziehungsweise irgendwo in der hintersten Schublade gut verstaut, haben. Und plötzlich erreicht uns eine Nachricht - in welcher Form auch immer – wie der vielbeschworene Hammer. Ich hätte mir auch nicht träumen lassen, dass dieser Artikel für die Reihe Lebenszeichen für mein eigenes Leben derzeit so aktuell sein könnte.

Ein später Anruf. Über die Krankheit Krebs und den Umgang mit ihr wollte ich gerne schreiben – nicht ganz unbedarft, denn die Fälle in meiner Familie und meinem Bekanntenkreis reißen nicht ab. Trotzdem bewegte ich mich irgendwie noch immer (aus einer Art Verdrängung heraus?) auf theoretischem Niveau – bis zu diesem Anruf. Sehr spät abends klingelt das Telefon (lauter als sonst?), müde und eher ungehalten nehme ich das Gespräch, obwohl ich schon mutmaße, dass ein Freund am Apparat sein könnte, der mich gerne spontan und spät überfällt. Er ist es und ich freue mich, seine Stimme zu hören, denn eine wichtige (und schöne) gemeinsame Arbeitsreise steht an. Seine Worte, für dessen Unverblümtheit ich ihn spontan bewunderte, graben sich tief in mein Gedächtnis ein. Du musst alleine fahren und die Sache übernehmen. Ich habe Krebs und gerade meine fünfte Chemotherapie bekommen. Es geht mir sehr schlecht. Dies in einer Geschwindigkeit, die mir, schon der radikalen Botschaft wegen, den Atem raubte. Obwohl seine Stimme so fest und zupackend wie immer klingt, höre und spüre ich seine tiefe und existentielle Angst. Erzähl es bitte niemandem – ich möchte das nicht. Es ist, wie in ein großes schwarzes Loch fallen.

Lebenskrise Krebs. Dieses Bild lässt mich seitdem nicht mehr los und konfrontiert mich zugleich mit so vielen Fragen, die den Betroffenen vielleicht umtreiben: Was habe ich falsch gemacht? Warum ich? Ist es mein Todesurteil? Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit steht plötzlich über allem, denn diese übermächtige Bedrohung Krebs wird im allgemeinen Bewusstsein immer noch mit dem sicheren baldigen Tod gleichgesetzt. Rund 330.000 Menschen werden derzeit jährlich allein in hierzulande mit der für sie schlimmsten aller Diagnosen konfrontiert. Immerhin 1,2 Millionen Menschen leben derzeit in Deutschland mit dieser Geißel der Menschheit, wie der Krebs auch oft genannt wird. Wobei die Betonung auf leben liegt, denn ein Drittel der Kranken kann geheilt werden! Geheilt bedeutet: Die Krankheit gilt als besiegt, wenn der Kranke den fünften Jahrestag nach der Diagnose überlebt. Aber allzu oft ist die Schulmedizin ganz einfach machtlos und muss kapitulieren. Alternative Heilmethoden sind gefragt und so werden der Scharlatanerie, der sich so mancher Kranke in seiner Todesangst anvertraut, Tür und Tor geöffnet. Aber bleiben wir bei den Fakten: Der Allgemeinbegriff Krebs – noch immer ein Tabuthema ohnegleichen – ist eigentlich ein großer Sammelbegriff für verschiedene Tumorerkrankungen. Es gibt weniger gefährliche, sprich tückische, Formen, die besser heilbar sind.

Belastende Therapien. Es gibt drei klassische Behandlungsformen. Mit einem chirurgischen Eingriff wird der eigentliche Tumor entfernt. Durch Bestrahlung mit elektromagnetischen Strahlen sollen die befallenen Zellen abgetötet werden, ein Gleiches erhofft man sich von der Chemotherapie durch den Einsatz von Medikamenten (auch Gift genannt). Bei letztgenannter Therapie wird ausgenutzt, dass sich Krebszellen besonders oft teilen und damit auch verwundbar sind. Leider trifft dies auch auf die Schleimhäute und Haarwurzeln des Menschen zu. Die Folge: Die Haare fallen büschelweise, meist bis zur vollständigen Glatzköpfigkeit aus. Ein großes psychisches Problem für die Betroffenen, zumal die Frauen. Wie wird meine Umwelt auf mein Aussehen reagieren? – Mein Krebs ist schon von weitem sichtbar. – Weißt du, ich habe auch keine Haare mehr. Sätze von Betroffenen (auch meines Freundes), die weniger aus Eitelkeit, vielmehr aus Angst geboren werden.
Immer dabei ist auch die Angst vor der nächsten Spritze, vor der Zeit, in der ich vor lauter Übelkeit kein Mensch mehr bin. Eine spezielle Form der medikamentösen Therapie ist die Behandlung mit Hormonen - eine Behandlungsform, die wahrscheinlich die größten Hoffnungen für die Zukunft erwarten lässt.

Verdrängungsmechanismen. Leider, um bei den Fakten zu bleiben, kann der Krebs erst entdeckt werden, wenn sein Gewebe etwa erbsengroß ist. Das heißt im Klartext, es haben sich bereits rund eine Milliarde Krebszellen angesammelt. Erst Jahre nach der ersten krankhaften Zellteilung können diese medizinisch festgestellt werden.
Warnzeichen des Körpers werden gerne überhört, denn mit der Wahrheit konfrontiert zu werden, ertragen wir nur sehr schwer. Viele Betroffene müssen erst schmerzhaft lernen, sich einzugestehen, dass es leichter ist, sich mit einer schlechten Nachricht auseinander zu setzen, als mit einer permanenten Unsicherheit zu leben. Sehr viel Wahrheit liegt in dem Satz, dass viele Männer besser für ihr Auto sorgen als für ihren Körper und ihre Gesundheit. Nur sehr wenige der jüngeren Männer gehen zum Beispiel zur Krebsvorsorge zum Arzt. Man will ja schließlich keine Schwäche zeigen. Und wenn man dann betroffen ist, auch ja kein Jammerbild abgeben. Die Frage nach dem Woher wird dann natürlich auch gerne auf äußere Umstände geschoben. Die Umwelt ist sowieso an vielem schuld. Oder bin ich ganz einfach dazu veranlagt? Schließlich ist mein Onkel auch schon daran gestorben! Oder habe ich mich vielleicht doch leichtfertig und falsch ernährt – zu viel Fett, zu viel Zucker? Vielleicht habe ich all die Belastungen zu schlucken versucht und mein Körper reagiert mit einer Zellrevolution.
Ist es vielleicht eine Botschaft, die mir mein Körper mitteilen will, - dass etwas mit dieser (scheinbaren) Ordnung meines Lebens nicht stimmt?

Botschaft und Chance. Jede Krankheit hat ihren Grund, ihren Sinn und ihre Botschaft, so könnte man provozierend behaupten. Sie kann dich versteinern oder dich dir näher bringen, ein Zitat, das mir in diesem Zusammenhang einfällt. Und man muss seine Krankheit ganz einfach (das sagt sich so leicht) akzeptieren lernen! Es ist eine Tatsache - und das Wissen darum eine Chance zugleich -, dass die Verzweiflung die eigenen Abwehrkräfte entsprechend schwächen kann oder auch ungeklärte persönliche Probleme den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen. An sich aber sind Krebszellen in einem normalen gesunden Körper die schwächeren Zellen. Also sollten sich die Betroffenen sagen: Die werde ich doch wohl besiegen können! Viele Fachleute sind der Ansicht, dass fast jeder (!) Mensch im Laufe seines Lebens Erscheinungen von Krebs in sich hat. Die natürliche Abwehr des Körpers wird aber meist damit fertig, ihn in Schach zu halten oder in einen Schlafzustand zu versetzen, wie von einigen Fachleuten behauptet wird. Schadstoffe von außen können ihn jedoch wachrütteln. Viele Krebspatienten werden auch selber gleichsam wachgerüttelt, leben sehr viel bewusster, ändern ihr Leben radikal und besiegen den Krebs. Die Kraft dazu muss aus ihnen selber kommen, gestärkt durch die Anteilnahme und Hilfe von Angehörigen oder Freunden. Manchmal hilft auch schon einfaches Zuhören, damit sich der Kranke die Angst von der Seele reden kann. Ein Gefühl von Hilflosigkeit wird bleiben.

Kraft aus dem Glauben. Ich wünsche meinem Freund, dass er genügend Kraft haben wird. Kraft, die auch aus diesem Wissen gespeist werden kann. Und Glauben – an sich selber und an diese eine höhere Macht, die dies alles leiten mag. Ich hoffe auch, dass ich in all meiner Hilflosigkeit angesichts einer solchen Problematik ein guter Zuhörer sein kann. Ein wunderbarer Satz einer Schweizer Krebsärztin möge uns im schlimmsten aller Fälle trösten: Sterben ist der Übergang von der Larve zum Schmetterling. Übrig bleibt nur ein nutzloser Kokon!

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016