Der Traum von der Kirche der Heiligen
In der Fastenzeit des Jahres 2000 hat Papst Johannes Paul II. ein besonderes Schuldbekenntnis abgelegt. Er hat im Rahmen der Liturgie vor Gott und der Welt menschliches und kirchliches Versagen im Lauf der 2000-jährigen Christentumsgeschichte ausgesprochen. Dabei wurde deutlich: Von den Kirchenspaltungen und den Kreuzzügen über die Inquisition, den Kolonialismus bis hin zur Vernichtung der Juden zieht sich eine Blutspur von Schwert und Kreuz, die alle Christen schwer belasten muss. Viele Medien berichteten an erster Stelle über dieses große Schuldbekenntnis und die Vergebungsbitte von Papst Johannes Paul II. am 1. Fastensonntag des Heiligen Jahres. Als oberster Hirte der katholischen Kirche, aber auch als Repräsentant der universalen Kirche und aller Christen, als „Stellvertreter Christi und als „Nachfolger des Petrus betete, flehte er gemeinsam mit hochrangigen Vertretern der Vatikanbehörden zu Gott. Dieser liturgische Akt ging vielen Menschen unter die Haut, vor allem jenen, die sich eine spirituelle Sensibilität bewahrt haben. Die Moskauer Zeitung „Istwestija kommentierte: „Die ... Reue vor Gott ist praktisch das geistige und politische Vermächtnis von Johannes Paul II., des nahezu einzigen Oberhauptes der römisch-katholischen Kirche im 20. Jahrhundert, dem sogar seine Gegner keine moralischen und politischen Verfehlungen vorwerfen können. Botschaft der Liebe. Die Prager Zeitung „Lidové Noviny gab dem Bußakt eine Bedeutung, die weit über die Kirche hinausgeht: „Der beispiellose, demütige Wunsch des Papstes um Vergebung jener Sünden, die die katholische Kirche in zwei Jahrtausenden begangen hat, ist eine Botschaft der Liebe an alle Menschen. Die „Stuttgarter Zeitung merkte kritisch an :„Wer in der breiten Öffentlichkeit versteht die fein gesponnenen Bedeutungen eines solchen Rituals? Dennoch kommt sie zu einem positiven Schluss: „Keiner, der sich ein wenig Gespür für die 2000-jährige Geschichte der römisch-katholischen Kirche bewahrt hat, konnte sich ... der historischen Bedeutung dieses Moments entziehen. Da war keiner am Werk, der bloß Außenwirkung im Sinn hatte. Wer das behauptet, verkennt das Wesen einer religiösen Liturgie. Die Botschaft lag nicht in irgendeinem Sündenregister, sondern in der Form der Bitte und in der Person des Bittenden ... Gerade die Gebetsform vermittelte dabei die Botschaft der Buße besser als die vorangegangenen vatikanischen Disputationen. Geteiltes Echo. Das Schuldbekenntnis fand also unterschiedliches Echo. Vielfach wurde bemängelt, dass die Vergebungsbitte nicht von Sünden der Kirche spricht, sondern nur von Verfehlungen Einzelner. Manche befürchteten, dass Selbstbezichtigungen der Kirche in ihrer derzeitigen, gesellschaftlich geschwächten Position zusätzlich schadeten. Wieder andere meinten, die Inflation von Schuldbekenntnissen verhindere eher Buße und Umkehr. Es kam aber auch der Vorwurf: Es falle leichter, fernes Unrecht gegenüber Menschen außerhalb der Kirche zu bereuen, als aktuelles Versagen in der Kirche selbst. Papst Johannes Paul II., der nichts unterlässt, um die Unfehlbarkeit des Petrusdienstes und die Heiligkeit der Kirche einzuschärfen, gab hier in einmaliger Weise etwas von der Fehlbarkeit und Schwäche zu erkennen, die auch in der Kirche vorhanden sind. Gesellschaftliche Einrichtungen, Parteien, Staaten und Konzerne haben immer wieder, oft halbherzig und unter öffentlichem Druck, Schuldbekenntnisse ablegen müssen. Doch keine Religion hat bisher vor den Augen der Welt einen derart entscheidenden Schritt gewagt. Hier zeigt sich die menschliche Größe und theologische Tiefe, die Papst Johannes Paul II. kennzeichnet. Mutiger Schritt. Es waren vor allem besonders fromme katholische Kreise, bei denen der Schritt des Papstes Ängste auslöste. Kann man nach diesem Bekenntnis und dieser Vergebungsbitte des Papstes noch von „heiliger Kirche reden? Das war ihre drängende Frage. Im Glaubensbekenntnis sprechen wir: „Ich glaube an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche. Muss die Beifügung „heilig jetzt gestrichen werden? Was ist Kirche? Die Kirche ist nicht Letztes, auch sie ist vergänglich. Da sie selbst in ihrer Vorläufigkeit nichts anderem dient, als der immer größeren Herrlichkeit Gottes und dem Heil der Menschen, kann der Glaube an die Kirche und die Liebe zu ihr nur in einer letzten Leidenschaft für Gott seine Begründung haben. Die Kirche ist mit ihrem Zentrum gar nicht in sich als einer Organisation, sondern „außer sich in Jesus Christus, der sie erzeugt und trägt. Biblisch gesprochen weiß sich die Kirche nur als „Magd und „Braut Jesu Christi, deren Geheimnis die Liebe ist. Die Kirche darf im Grunde nichts anderes sein als reine Beziehung zu Christus, dessen Zuwendung zur Welt sie geschichtlich darstellt. Die Kirche ist Sakrament des fortlebenden Christus. Deshalb ist Kirche „immer auf dem Weg. Sie muss an sich arbeiten, um immer intensiver Zeichen des lebendigen Herrn zu werden. Sie muss an Jesus erinnern, der betete, die frohe Botschaft verkündete, Schuld vergab, Wunden heilte, Füße wusch, Menschen versöhnte und zusammenführte. Sie muss durch ihren Lebensstil an Jesus den Armen und Anspruchlosen, den Dienenden und geschwisterlich Engagierten erinnern. Um dieses Selbstverständnisses willen muss sie auch immer wieder die Menschen zur Umkehr rufen und in der Eucharistie ihren Quellgrund finden, in der sich die Art Jesu am meisten verdichtet. Christ zum Heil der Welt. Für dieses Werk braucht Gott die Menschen. Paulus fühlte sich für den Dienst des Herrn geradezu gefangen. Unbegrenzt ist das Feld, auf dem der Christ und natürlich auch die Amtsträger aus der Nähe zu Christus zum Heil der Welt wirken können und sollen. Unerschöpflich sind die Wege von Glaube, Hoffnung und Liebe: Das Ringen mit dem Verzweifelten, das Wort der Vergebung, damit einer wieder wirklich neu anfangen darf; das aufrichtende Gespräch mit einem trostlosen Menschen; Treue und Weggeleit auch in der letzten Stunde, wo alle anderen gerne davonlaufen; Ermutigung zur Versöhnung im grausamen Streit; stille Solidarität in unbegreiflichem Leid. Oberflächliche Kritik. Je radikaler wir die Kirche von ihrem Ursprung aus Jesus Christus sehen und begreifen, umso mehr werden wir auch ihre Schwächen sehen. Vermutlich sehen viele heute die Kirche viel zu oberflächlich. Auf der einen Seite sind sie immer noch von einem Kirchenbild geprägt, das das Bild von der Frau „ohne Flecken, Falten oder andere Fehler (Eph 5,27) auf die Kirche anwendet und falsch auslegt. Dadurch gewinnen sie kein unbefangenes, demütiges und aufrichtiges Verhältnis zu Schwachheit und Sünde in der Kirche. Man entwickelt dann ein Idealbild von der Kirche und verdrängt manche ärgerniserregende, sündige Realität. Auf der andern Seite geht eine Anhäufung von Skandalen, Klatschgeschichten und Symptomen des Versagens an der spannungsvollen Vielschichtigkeit kirchlicher Wirklichkeit vorbei. Gegen eine solche äußerliche Kirchenkritik ist der Glaube – nach außen hin gesehen – machtlos. Die vom Glauben genährte Kirchenkritik bleibt nachsichtig und barmherzig. Karl Rahner hat einmal geschrieben: „Wir müssen es lernen, die Kirche zu ertragen. Wir sind der Kirche gegenüber manchmal wie Kinder, die wissend geworden sind und hinter die Schwächen ihrer Eltern kamen...Wir sind selbst wissend und traurig. Aber wenn unser naiver Kinderglaube reif werden soll, muss diese Last getragen werden. Diese Kirche, wie sie leibt und west und in vielen ihrer Glieder verwest, ist und bleibt auch für uns Glaubensprobe, Prüfung, Bestürzung, brennende Sorge. Wie sie leibt und west. Sie kann zur Glaubensgefahr werden, weil wir alle in der Versuchung stehen, sie spiritueller, anziehender, eindrucksvoller, mitreißender zu wünschen – und schon beginnen wir auch heute wieder das uralte Gespensterspiel von der Kirche des reinen Geistes aufzuführen, das durch alle Jahrhunderte geht, von Montanus bis Jansenius und bis in die Kammer unseres Herzens. Es ist die teuflische Versuchung, das Reich Gottes nun doch schon auf Erden zu vollenden, sich für einen nur glorreichen Messias zu begeistern und also das eigene Versagen abzuschieben in den Lobpreis einer Kirche der Geistigen oder einer Kirche des innerweltlichen Erfolgs, der statistisch erfassbaren Fortschritte, der Konkurrenzfähigkeit mit anderen Religionsgemeinschaften. Aufs Kreuz einlassen. Hier soll keiner Verharmlosung des Bösen und Sündigen in der Kirche das Wort geredet werden. Es geht vielmehr um einen unverkürzten Gehorsam gegenüber dem Evangelium der Kirche. Beispiel hierfür ist Franziskus von Assisi. Seine Größe geht in zwei Richtungen. Auf der einen Seite steht sein radikaler Einsatz für das ungeschmälerte Leben nach dem Evangelium und sein „Nein zu allem, was diesem Leben hinderlich ist oder es verdunkelt. Auf der anderen Seite lebt er ebenso entschieden den Willen, gehorsam und geduldig in der konkreten Kirche seiner Zeit zu bleiben, um in ihr das Leben nach dem Evangelium bedingungslos durchzutragen und durchzuleiden. Er lässt sich auf das Kreuz ein; er lässt sich zerreißen im Gegensatz zu denen, die zu guter Letzt ihr „Ich wichtiger nehmen als den Auftrag. Macht der Heiligung. Das Wort „heilig als Beifügung zur Kirche meint nicht die Heiligkeit der Personen, der Glieder der Kirche, sondern verweist auf den erhöhten Herrn, der Heiligkeit schenkt inmitten der menschlichen Unheiligkeit. „Heilig wird die Kirche im Glaubensbekenntnis nicht deshalb genannt, weil ihre Glieder samt und sonders heilige, sündenlose Menschen wären. Dieser Traum von der Kirche der Heiligen ist zwar in allen Jahrhunderten aufgetaucht, drückt aber nicht das volle Geheimnis der Kirche aus, die Jesus Christus gegründet hat. Hier treffen wir auf eine tiefe Sehnsucht des Menschen, die ihn nicht verlassen kann, bis nicht wirklich ein neuer Himmel und eine neue Erde ihm das schenken, was er in dieser Welt und in dieser Zeit niemals erhalten kann. Die Heiligkeit der Kirche besteht in jener Macht der Heiligung, die der Herr zur Wirkung kommen lässt, indem er sein „trotzdem, sein „dennoch zu den schwachen Menschen spricht. Es ist die Heiligkeit Jesu, die aufstrahlt inmitten der Unheiligkeit der Glieder der Kirche. Mögen die Glieder der Kirche – Kleriker und Laien – auch unwürdig sein oder eine schwache Liebe haben, die Liebe Gottes ist größer und schenkt sich immer neu. So erleben wir in der Kirche das Ineinander von Treue Gottes und Untreue der Menschen, das heißt wir erleben immer wieder, wie Gott seine Gnade an Unwürdige austeilt und sich dabei sogar der schmutzigen Hände der Menschen bedient. Erlösende Liebe. Die Kirche Jesu Christi weist ihre Heiligkeit nicht dadurch aus, dass sie sich von den Sündern absetzt oder einen großen Bogen um sie macht und sich zur Richterin aufschwingt. Diese Haltung kennt Jesus nicht und darf auch die Kirche nicht kennen. Die Heiligkeit Jesu äußert sich darin, dass er die Nähe der Sünder sucht, mit ihnen Gespräche führt und Tischgemeinschaft mit ihnen pflegt. Er zeigt, dass wahre Heiligkeit nicht Absonderung ist, auch nicht Verurteilung, sondern erlösende Liebe. Kirche muss die Fortsetzung der Tischgemeinschaft Jesu mit den Sündern sein. Gerade darin offenbart sich die Liebe und Heiligkeit Gottes, dass sie nicht Distanz hält, sondern sich auf den Schmutz der Welt einlässt und ihn aufgrund dieser Zuwendung und Liebe überwindet. Wir können hier an die Zöllner, die Ehebrecher und Dirnen denken, von denen uns im Evangelium berichtet wird. Echter Jesusjünger. Papst Johannes Paul II. hat sich durch seine Vergebungsbitte als echter Jesusjünger erwiesen. Für den, der wirklich weiß worum es letztlich in der Kirche geht, nämlich um Gott in Jesus Christus, der kann diese Glaubensgemeinschaft aus armen Menschen, die - auch als Kirche immer von Schuld umgeben - unterwegs sind, in gelassener Geduld ertragen. Er weiß, dass er auch seine eigene Enge und Schuld in diese Gemeinschaft um Christus und mit ihm einbringt. Er reiht sich demütig in die Gemeinschaft dieser Glaubenden ein, die durch die Finsternis der Welt dem ewigen Licht entgegenpilgern. Er weiß, dass er Gott am nächsten ist, wenn er in Geduld, Vergebungsbereitschaft und Hoffnung den Menschen der Kirche geschwisterlich nahe ist und bleibt. Vergebung schafft Zukunft. Im Schuldbekenntnis des Papstes und seiner Vergebungsbitte erschließt sich auch etwas von der bleibenden spirituellen Kompetenz des christlichen Glaubenswegs, der trotz des Versagens nicht erledigt ist. Der Weg Gottes ist der Weg des sündigen Menschen. Kein Unschuldswahn, keine sakrale Erhabenheit, keine Selbsterlösungs- und Allmachts-Phantasien können uns am Kreuz Jesu Christi vorbeiretten. Im Stückwerk unseres Lebens und Glaubens bleiben wir auf das Erbarmen Gottes angewiesen. Der erschütterte, unheilige Mensch ist der auf Vergebung und Erlösung Wartende. Die Bitte: „Vergib uns unsere Schuld bereinigt die Vergangenheit und weckt Hoffnung für die Zukunft. Sie richtet uns aus auf den, der allein heilig ist und uns heilig macht.