Der Weg zum Leben
Israels Werden als Gottesvolk geht zurück auf wandernde Nomadenstämme, die sich als ein von JHWH geführtes Volk verstanden und ihre Weg-Erfahrung zu deuten versucht haben. Das unterschied sie von anderen alten Völkern. Aus dem Sprachschatz. Den Begriff Weg begegnen wir im übertragenen Sinn sehr häufig in unserem Sprachgebrauch, um Situationen unseres Lebens zu veranschaulichen. Folgende Beispiele sollen uns das bewußt machen: Lebensweg – Leidensweg – Kreuzweg – Irrweg – Umweg – Heimweg – Ausweg – Weg der Gerechtigkeit – Glaubensweg – auf Abwege gelangen – Weg-Kreuzungen – Weg-Gefährte – Wegelagerer, die den anderen den Weg abschneiden – unterwegs braucht man Weg-Weiser. Die Weg-Zehrung ist die notwendige Nahrung, die bei Kräften hält, um auf einen Weg durchzuhalten; so wird auch die Eucharistie bezeichnet, die einen Sterbenden gereicht wird. Die beiden Wege. Der Herr kennt den Weg der Gerechten, der Weg der Frevler aber führt in den Abgrund (Ps 1,6). Der Psalter – das Gebetbuch Israels – wird eröffnet mit der Betrachtung der zwei Wege. Der gerade und vollkommene Weg wird in Freude an der Weisung des Herrn gegangen (Ps 1,2), in Treue zur Wahrheit (Ps 119,30) und im Bemühen um Gerechtigkeit und Frieden (Jes 59,8; Lk 1,79). Der Weg der Treue zur Torah JHWHs ist ein Weg zum Leben und verbürgt ein erfülltes und glückliches Dasein (Spr 2,19; 6,23). Der Weg der Gottlosen unterscheidet sich vom Weg der Frommen wie der Weg der Lüge vom Weg der Wahrheit (vgl. Ps 119,30.128). Der Weg der Unverständigen, die sich nicht von Gottes Weisheit leiten lassen, führt in den Abgrund des Todes (Ps 1,6; Spr 12,28). Tod und Leben werden hier nicht bloß als physische Realitäten gedacht, sondern meinen die Bereiche Segen und Fluch, ein Leben im Angesicht Gottes, oder ein Leben mit dem Rücken zu ihm. Der Mensch hat die Möglichkeit in freier Wahl den einen oder anderen Weg zu gehen und trägt Verantwortung für seine Entscheidung. Freie Wahl. Doch stellt Gott den Menschen nicht kalt und unbeteiligt vor die Weg-Entscheidung. Der in welcher Not und Weg-Losigkeit auch immer zu JHWH Rufende, darf darauf vertrauen, daß JHWH ihn herausführt und den geraden Weg finden läßt (vgl. Psalm 107). Unüberhörbar ist in den Psalmen auch die immer wiederkehrende Bitte: Zeig mir, Herr, deine Wege (25,4). Ja, Gott selbst wird zum Weg-Begleiter, der sein Angesicht leuchten läßt, daß man auf Erden seinen Weg erkenne (vgl. Ps 67,2f). Als guter Hirte macht sich JHWH selbst auf, um die verirrten Schafe zu suchen und auf gute Weide zu führen (vgl. Ez 34,11-22; Joh 10,1-10). In dem Bild von den beiden Wegen wird das Gottes- und Menschenbild der Bibel in aller Dichte sichtbar. Einerseits traut Gott dem Menschen viel zu. Er wird für fähig gehalten, den rechten Weg zu finden. Gerade in der freien Wahl und Entscheidung liegt die Würde des Menschen. Andererseits darf der Mensch sein ganzes Vertrauen auf Gott setzen, der den Weg mit dem Beter mitgeht. Gottes Wege und die der Menschen – göttliche Gnade und menschliches Tun – sind untrennbar miteinander verflochten. Israels Weg-Geschichte. Auf dem Weg durch die Geschichte bringt das Volk Israel immer wieder seine Erfahrungen mit jenen Wegen in Erinnerung, die JHWH einst mit Abraham und dann mit dessen Nachkommen gegangen ist. Die Herausführung aus Ägypten und die Hineinführung in das Land der Verheißung kennzeichnen diesen Weg. Er wird zum rühmenden und dankenden Credo, das anläßlich des Erntedankfestes gebetet wurde (Dtn 26,5-10) und das inhaltlich in den Mosebüchern seine Ausfaltung gefunden hat. Verschiedene spätere Situationen, wie die Untreue und Gott-Vergessenheit des Volkes, der Verlust der Freiheit und des Landes werden zum Anlaß, Israel an diesen alten Weg zu erinnern und Hoffnung auf einen neuen Exodus zu wecken. Abrahams Aufbruch. Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus, in das Land, das ich dir zeigen werde... und er zog hinweg (Gen 12,1ff). Am Anfang dieses Weges steht eine Berufung. Sie zeigt eigentlich nicht den Weg auf, den Abraham gehen soll, sondern was sich ereignen wird, wenn der Weg zum Ziel gekommen ist: Zahlreich werden die Nachkommen Abrahams im Land sein (Gen 15,1-6). Die Reiseroute Abrahams wirkt wie ein planloses Hin- und Herziehen. Abraham und Sarah, die bis ins hohe Alter kinderlos blieben, scheinen den Aufbruch und den Weg umsonst gemacht zu haben. Doch Gottes Wege sind nicht die der Menschen (vgl. Jes 55,8) – sie führen aber zur wunderbaren Verwirklichung. Seinen Fuß hat Abraham ins Land gesetzt, aber eine Bleibe konnte er zu seinen Lebzeiten dort nicht finden. Nur eine Begräbnisstätte für sich und seine Frau Sarah konnte er sein eigen nennen. Weg ins verheißene Land. Gott hat sein Volk mit hocherhobenem Arm, unter Zeichen und Wundern aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt. So wird die Flucht aus der Unfreiheit in die Freiheit von späterer Generationen gedeutet. In dieser Weg-Überlieferung erscheint JHWH wie ein Heerführer. Er erkämpft für sein Volk den Auszug und Durchzug durchs Rote Meer. Er zieht vor seinem Volk her, er sorgt für Speise und Trank und bestimmt die Rastplätze. Wenn die Kräfte das Volk verlassen, trägt er es sogar durch die Wüste (Dtn 1,31). Keine Sackgasse. Der Prediger, der im 5. Buch Mose zu Wort kommt, versetzt sein sattes, die Taten Gottes vergessendes Volk wieder zurück auf den Wüstenweg, in die Zeit vor dem Einzug in das Gelobte Land. Er will sein Volk aufrütteln, in dem er es an die wunderbare Führung und Fürsorge Gottes auf diesem Weg erinnert, und ihm einschärft, daß die Segensfülle in dem wunderbar-reichen Land ein Geschenk JHWHs ist. Dieser Segen kann aber wieder verspielt werden, wenn man die Wege Gottes verläßt und den Geber jeder guten Gabe vergißt (vgl. Dtn 8). Weg-Gemeinschaft mit Christus. Die Wege Gottes mit Israel haben auch für uns bleibende Bedeutung. Als wanderndes Gottesvolk orientieren wir uns an den Wegen, die Gott mit Israel gegangen ist und an den Heilsverheißungen. So wie Juden bis heute im Paschafest den alten Glaubensweg vergegenwärtigen und daraus Hoffnung für Gottes Weggeleit im Heute schöpfen, so gedenken wir Christen in der Osternacht unserer Ursprünge, und daß unsere Kirche in der Berufung Abrahams und im Exodus Israels einwurzelt. |