Der Widerstand gegen Aktion T4

17. Juni 2015 | von

Als vor 75 Jahren Vertreter der evangelischen Kirche eine Denkschrift an Adolf Hitler richteten, waren bereits Tausende Menschen im Zuge der „Aktion Gnadentod“ ermordet worden. Verschleiert unter dem Begriff Euthanasie, der im antiken Griechenland für den „guten Tod“, ein schnelles Sterben ohne Schmerzen stand, praktizierten die Nazis die gezielte „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.




Im Juli 1940 reagierte die Evangelische Kirche mit einem Protestschreiben auf das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten. Der Verfasser der Denkschrift, Pastor Paul Braune, leitete viele Jahre die Hoffnungstaler Anstalten im 15 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegenen Lobetal. Sie boten Heim und Arbeit für zahlreiche Obdachlose. Von den Nationalsozialisten als „Asoziale“ diffamiert, zählten sie ebenso zum lebensunwerten Leben wie physisch, psychisch, auch geistig behinderte Menschen und sogenannte „Fremdrassige“, die im Sinne der Rassenhygiene ausgemerzt werden mussten.







Plus oder Minus



Seit 1933 hatte diese Ideologie Schritt für Schritt ihre furchtbare Gestalt angenommen: Circa 400.000 Männer und Frauen mit vermeintlich erblichen Krankheiten wurden zwangssterilisiert. Abtreibungen von „erbkrankem Nachwuchs“ waren ab 1935 legal. 5.000 geborene, „lebensunwerte“ Säuglinge wurden ab Mitte des Jahres 1939 im Zuge der Kinder-Euthanasie getötet. Im Oktober 1939 folgte dann die Erwachsenen-Euthanasie, zu deren Durchführung Hitler den Chef der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler, und seinen Begleitarzt Karl Brandt ermächtigte. Die heute gebräuchliche Bezeichnung „Aktion T4“ bezieht sich auf die Adresse der Bürozentrale in der damaligen Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte. Von hier aus wurde die Ermordung tausender Menschen im gesamten Deutschen Reich geleitet. 



Noch im selben Monat waren die betreffenden Heil- und Pflegeanstalten aufgefordert, ihre Patienten durch Meldebögen zu kategorisieren, eine Routineerhebung, lautete die offizielle Begründung. Tatsächlich dienten die Meldeformulare den Gutachtern in der T4-Zentrale zur Ferndiagnose: blaues „–“ für „Weiterleben“, rotes „+“ für „Tötung“. 







Kategorien der Rassenhygiene



Als Pastor Braune kein Jahr später, im Juli 1940, den wahren Sinn der Erhebung erkannte, waren auf Geheiß jener Verwalter bereits über 3.000 Menschen abtransportiert, getötet, die Leichen verbrannt, ihre Sterbeurkunden gefälscht und ihr Zahngold eingeschmolzen worden. Die Anstaltsleiter hatten ihre Patienten nichtsahnend ausgeliefert. Betroffen war, wer als schizophren, senil, „schwachsinnig“ galt, sowie Epileptiker und Menschen, die keine mechanischen Arbeiten ausführen konnten, wer sich seit mindestens fünf Jahren dauernd in Anstalten befand, wer als krimineller Geisteskranker eingestuft wurde und wer nicht deutschen oder artverwandten Blutes war. Auch ehemalige Heeressoldaten, die durch ihren Einsatz im Ersten Weltkrieg psychische Störungen erlitten hatten, gelangten ins Visier der „Säuberungen“. 







Den Tätern auf der Spur



Bei der Präsidialbesprechung im Februar 1940 des Zentralausschusses der Evangelischen inneren Mission, der Braune als 



Vizepräsident vorstand, kam erstmals der Abtransport von Patienten zur Sprache. Bald folgten die Todesnachrichten. Als im April dem von Pastor Braune betreuten Mädchenheim Gottesschutz in Erkner der Abtransport von 25 jungen Frauen angekündigt wurde, begann Braune, beauftragt vom Zentralausschuss, seine Recherche. Er traf sich mit Karl Bonhoeffer, dem Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Berliner Charité (Vater von Dietrich Bonhoeffer), sowie mit Hans von Dohnanyi, Mitglied der Widerstandsgruppe der Abwehr, und trug aus ganz Deutschland Material zur Untersuchung der geheim gehaltenen Vorgänge zusammen. Was er herausfindet, ist nur ein Teil des gesamten Ausmaßes, doch seine Erkenntnisse reichen aus, um tief schockiert Widerstand zu leisten.







Schreckliche Gewissheiten



Braune benennt in der Denkschrift drei Tötungsanstalten: Grafeneck, Brandenburg an der Havel und Hartheim. Tatsächlich sind es mit Sonnenstein, Hadamar und Bernburg insgesamt sechs. Sein Bericht enthält die Namen, Adressen und den geschätzten Todeszeitpunkt von über 25 Patienten, außerdem Daten zum Abtransport von 125 weiteren aus drei verschiedenen Heimen. Er verweist auch auf die Patientin Else Lenné, die als Nummer A3111 geführt wurde, was die Zahl der bereits Ermordeten erahnen lässt. Dass die Betroffenen nach Ankunft in den umgebauten Anstalten durch die Vergasung mit Kohlenmonoxid in präparierten Duschräumen getötet wurden, hatte Braune nicht herausfinden können. Die ausgeklügelte Verschleierungsstrategie der Planer dieser Tötungsmaschinerie umfasste die Umleitung über Zwischenlager sowie die Fälschung von Todesursache, -zeitpunkt und -ort. So blieben die Angehörigen völlig im Unklaren ob der Geschehnisse; private Nachforschungsversuche waren beinahe unmöglich. 







Widerstand von allen Seiten



Der Protest seitens der evangelischen Kirche brachte den Pastor ins Gefängnis. Im Oktober 1940 kam er durch den Einsatz seiner Mitstreiter wieder frei. Gemeinsam mit dem Leiter der Lobetaler Anstalten Bethel, Friederich von Bodelschwingh, bewahrte er in der Folge fast alle seine Patienten vor den tödlichen Transporten. 



Der laute Widerstand wuchs vor allem auch in der katholischen Kirche zunehmend. Der damalige Bischof von Münster, der selige Clemens August Kardinal Graf von Galen, bezieht am 3. August 1941 in der dritten seiner kritischen Predigten mit deutlichen Worten Position und stellt die Frage: „Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von den anderen als produktiv anerkannt werden?“ Aufgrund der steigenden Proteste wurde die Aktion T4 im August 1941 schließlich offiziell vorzeitig abgebrochen. Inoffiziell jedoch wurde sie stillschweigend bis 1945 dezentralisiert weitergeführt. Nach heutigen Schätzungen fielen den Mördern bis 1945 um 300.000 Menschen zum Opfer.


Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016