Die Bäume des heiligen Antonius

08. April 2019 | von

Unter den Baumwipfeln des Pollino, einem Nationalpark um den gleichnamigen Berg an der Grenze der beiden Regionen Basilikata (Lukanien) und Kalabrien, wurde ein antiker Baumritus zum Volksfest, in dem gleichzeitig die Verehrung des heiligen Antonius und die Identität einer Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht werden.

Plötzlich ein schriller Pfiff. Und die Ochsen, ein mächtiger und eindrucksvoller Zug von 17 paricch‘, 17 Paaren von Ochsen, verstehen sofort, dass nun ihre große Anstrengung beginnt. Sie spannen die Muskeln an, stampfen mit den Hufen und bewegen die Hörner. Es ist ein Ausdruck großer Stärke, ein konfuses tierisches Getrampel, ein Gewirr aus Hufen und Hörnern, menschlichen Schreien und Stöcken, die durch die Luft wirbeln, Händen, die die Seile umfassen, Schritte, die schneller werden. Ein großartiges Schauspiel. 

Freude und Mühe
Hier, in den Wäldern des Pollino-Massivs, geschehen Anfang Juni, an den Tagen vor dem Antoniusfest, seit jeher wunderbare Dinge – wie eben ein Umzug von 17 Ochsen-Paaren. 34 starke Tiere, die eine Buche transportieren, die glaubt, eine pitu, eine Tanne, zu sein. Und rundherum die Bevölkerung des ganzen Dorfes Rotonda, das sich auf den Weg in die Berge macht, zu einem Fest, das sich nur sehr schwer erzählen lässt und mindestens sechs Tage dauern wird. Tage der Freude und der Anstrengung, des Glücks und der Erinnerung (an diejenigen, die nicht mehr mitfeiern können), des Weins und der Gebete. Wenn ich frage, warum diese Masse an Frauen und Männern, die Dorfbewohner von Rotonda, das alles tun, bekomme ich immer dieselbe Antwort: „Aus Verehrung!“ 
Stefano Nicolao, genannt Don Stefano, der junge Pfarrer, der hier auch geboren wurde, erklärt es mir sofort: „Diese Mühe wird dem heiligen Antonius geweiht.“ Ja, denn der heilige Antonius wird in den Wäldern des Pollino inbrünstig verehrt, es gibt einen Kult hier in den Bergen seit der Heilige vor 800 Jahren, so wird zumindest erzählt, auf seinem Weg von Afrika nach Assisi hier Spuren seiner Wunder hinterlassen hat.

Auf dem Weg ins Tal
In der Zwischenzeit haben die Ochsen begonnen, zu ziehen, sie schnaufen und schnauben. Ihre Joche sind mit Eisenketten und Ringen an dem Baumstamm befestigt. Der Baum rutscht über das Gras, er rollt, begehrt auf gegen den Willen der Menschen. Aber da gibt es kein Pardon, Jugendliche mit pannule, dicken Stöcken, kontrollieren seinen Transport ins Tal.
Der Umzug folgt einer geradezu epischen Choreografie. Man zieht durch den Wald, schlittert über Steilhänge, dann entfächert sich das Ganze auf einer Lichtung. Der Baum scheint im weichen Boden stecken zu bleiben, aber die Ochsen und die Männer befreien ihn von jedem Hindernis. Diese Reise wird zweieinhalb Tage dauern. Bei jedem Hindernis erklingt ein mächtiger Ruf: „Eh, eh eh,… es lebe der heilige Antonius!“, man feuert sich gegenseitig an, indem man aus Leibeskräften zu Ehren des Heiligen brüllt. Das ist der „Soundtrack“ dieser außergewöhnlichen Prozession. Am ersten Tag steigt man herab bis zu den Weiden von Pedarreto. Und von dort geht es weiter hinunter bis zum Dorf, das mehr als 15 Kilometer tiefer liegt. 

Frühling ist Auferstehung
Der lukanische Frühling ist eine Auferstehung. Die Winter hier im Pollino sind lang und hart. Rotonda liegt am Fuß der Berge, auf 600 Metern Höhe, an der Grenze des Mercure-Tals, 3.300 Einwohner – und ein Ort, wo noch Kinder geboren werden, wie man mir stolz berichtet. Das Dorf liegt wie ausgebreitet auf einem Felsrücken. Das Bergmassiv scheint eine Schutzmauer für die Häuser zu sein. Für Franco Arminio, Schriftsteller und Dichter aus diesem weitentfernten Teil von Italien, sind solche Dörfer „ohne Getöse, von einer einfachen, armen Schönheit am Rand“. Die Leute aus Lukanien haben die Wälder immer geliebt (und gefürchtet). Bäume sind Arbeit, Überleben, Versteck. Manchmal auch Bedrohung. Aber der Frühling vertreibt jede Angst. Die Menschen suchen neues Leben.
In Lukanien, zwischen den lukanischen Dolomiten und dem Pollino-Massiv, sind die Baumriten, die vielleicht auf archaische Kulte zurückgehen (allerdings gibt es dafür keine historischen Beweise), die wichtigsten Feste im Jahr. Acht Dörfer in der Basilikata mit den wohlklingenden Namen Accettura, Pietrapertosa, Castelmezzano, Oliveto Lucano, Terranova, Viggianello und Rotonda und eins in Kalabrien feiern zwischen Ende April und Mitte September diese großartigen Waldfeste. Im Juni, an den Antonius-Tagen, machen sich die  Hirten und Waldarbeiter aus Rotonda auf den Weg in die Berge, um zwei Bäume zu suchen, die dann miteinander verpfropft werden: die pitu und die rocca, eine Buche (bis zur Nachkriegszeit war es eine Tanne, und auch heute noch sieht man zu diesem Anlass die Buche als Tanne) und eine junge Tanne, die dann den Wipfel für den großen Baum abgeben wird. Die Anthropologen aus dem 19. und 20. Jahrhundert gingen davon aus, dass so das Wiederaufwachen der Natur und die Fruchtbarkeit gefeiert wurden. Solche Feste, die einst in ganz Europa verbreitet waren, sind heute noch in Süditalien lebendig.
Das Christentum hat es im Laufe der Jahrhunderte geschafft, dieser Naturreligion seine eigene Bedeutung zu geben. Es hat verstanden, wie wichtig diese Feste für die Menschen aus den Bergen sind. Die Baumriten, die Identität eines Dorfes, sind heute Verehrung, bäuerlicher Glaube, Anbetung. Und Freude, Überschwang, Adrenalin, Nächte, in denen gesungen, gegessen, getrunken und getanzt wird. Es ist aber auch Arbeit, Mühe, Geschicklichkeit, fachmännischer Umgang mit der Motorsäge und die Kunst der Waldarbeiter. Aber auch Geld, Solidarität, Umarmungen, Gebet. Die Baumriten sind alles für die Menschen aus diesem Gebirge.

Feste und Identität
Ich höre die Gesänge und Litaneien von zi’Maria neben dem gefällten Baum. Seit mehr als zehn Jahren stimmt diese Frau in der alten Sprache Gesänge und Gebete an, um den Heiligen um Gnade zu bitten. Das Volk von Rotonda legt die Hände an den großen Baum, beinahe so, als wäre er ein Talisman. Eine heilige Berührung. Einen Tag lang bearbeiten geschulte Hände den Stamm, bis er fast quadratisch ist. Das ist nun also der Stamm, 22 Meter lang (wenn er länger wäre, würde er nicht durch die Straßen des Dorfes passen), den die Ochsen ins Tal transportieren.
„Diese Tage stehen in Verbindung zum heiligen Antonius, sie sind die Erfüllung eines gemeinsamen Gelübdes,“ erklärt mir Don Stefano. „Die Mühe und das Opfer der Dörfler von Rotonda sind eine heilige Gabe.“ „Diese Feste sind die Identität und die Geschichte einer Gemeinschaft“, erklärt Ferdinando Mirizzi, Anthropologe der Universität der Basilikata, „in Zeiten der Globalisierung sind sie eine Ikone der Identität eines ganzen Dorfes.“ Die vielen hundert Auswanderer setzen alles daran, um zu diesen Festen nach Hause zu kommen. 

Endlich: der Triumphmarsch
Die Prozession von Ochsen und Männern ist seit Stunden unterwegs. Kurve um Kurve kommen sie vom Pollino herunter. Sie halten für einen Schluck Wein und einen Bissen Essen. Und für das Gebet. Die Dorfbewohner säumen den Weg, man hört Musik, Kinder und Jugendliche begleiten freudig den Zug, es gibt die typischen dreirädrigen Mini-Lieferwagen, Traktoren, Motorräder mit Anhängern voller Wein, belegten Brötchen, Rührei und Salamis. Aber jede Kurve ist ein Gewaltakt, Muskelkraft wird gefordert, Ochsen müssen ab- und wieder angehängt werden.
Im Tal wird ein Stopp gemacht, beim Heiligtum von Santa Maria. Man muss sich „schön machen“. Die Hörner der Ochsen werden mit Ginster, Antonius-Lilien und Papiergirlanden umwickelt. Die „Chefs“ des Umzugs werden gekrönt. Alles ist bereit für den Einzug ins Dorf. Ein Triumphmarsch. Die Ochsen ziehen die pitu bis zum Dorfplatz. Für den Schlussakt, voller Kraft und Anspannung. Die Männer verteilen sich um den Stamm. Sie berühren ihn leicht und warten auf das Kommando – „Und… hoch!“ Man bückt sich, Hände greifen unter den Stamm. Ein Moment der Stille, perfekt und fast schwebend: Die Männer heben den Stamm hoch und nun liegt er auf ihren Schultern. Sie tragen ein Gewicht von mehreren Zentnern. Ihre Gesichter sind wie versteinert. Das ist der letzte Kraftakt. Kleine Schritte, ein Fuß nach dem anderen, müssen sie den Stamm 50 Meter nach hinten bewegen. Der alte „Capo“ des Festes steht auf dem Stamm. Er schlingert, findet das Gleichgewicht, er scheint durch die Luft zu schweben. Und dann wird der Stamm abgelegt. Jetzt ist es geschafft. Schreie und Rufe ertönen, es wird geweint. Umarmungen, Applaus. Die Heiligen werden angerufen, an die Verwandten und Freunde erinnert, die gestorben sind. Ich weine auch und fotografiere Tränen unter Tränen.

Der letzte Akt
Aber das Fest ist noch nicht vorbei. Die rocca, die kleinere Tanne, wird in eine kleine Kirche getragen. Sie wird die Nacht vor dem Altar verbringen. Die pitu hingegen wird an die Seite des Rathauses gelegt. Am nächsten Tag, dem 13. Juni, dem Antonius-Fest, geht es weiter, mit Tauen und Seilen und Geschicklichkeit. Nun wird die rocca auf die pitu aufgepfropft. Sie müssen zu einem einzigen Baum werden, der gen Himmel aufgerichtet werden wird. Noch eine letzte Anstrengung. Der Baum wird fast ein Jahr stehen bleiben, bis zum Vorabend des nächsten Festes. 
Der letzte Akt ist das Heilige. Vor ein paar Jahren kam aus Padua eine Reliquie des heiligen Antonius, der Stolz des ganzen Dorfes. Die Statue des Heiligen wird in Prozession durch den Ort getragen, der sich komplett im Entenmarsch dahinter befindet. In dem engen Gässchen Vicolo del Sole haben vier Frauen im Morgengrauen den heiligen Antonius auf das Pflaster gemalt. Sie haben dafür mit Farbe gemischtes Salz verwendet. Das ist ihre Gabe. Sie sind die „Madonnenmalerinnen“ für einen Tag, Schöpferinnen eines christlichen Mandalas. Dieses kleine Meisterwerk wird gerade einmal bis zum Ende der Prozession halten. In meiner Erinnerung an diesen eindrucksvollen Besuch freilich viel, viel länger.

Zuletzt aktualisiert: 08. April 2019
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