Die Flüchtlingskrise und ihre Herausforderungen
Die Anschläge von Paris, die Absage des Freundschaftsspiels Deutschland gegen Frankreich in Hannover und die Terroranschläge in Brüssel sind kein Zufall. Der Terror hat Europa erreicht. Mit den Flüchtlingen sind – so die Sicherheitsbehörden – auch islamische Terroristen nach Europa gekommen. Die Opfer des Terrorismus sind nun nicht mehr nur die Regimekritiker im Irak, Christen im Iran oder Zivilisten, die durch Luftangriffe in Syrien umkommen, sondern Unbeteiligte in Europa, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren.
Wunsch nach Sicherheit
Viele schreien nun nach Vergeltung, stärkeren Grenzkontrollen, mehr Überwachung und mehr Polizei. Zu den Terrorakten in Brüssel haben sich islamische Terrorgruppen bekannt. Auch in Deutschland wächst die Sorge, dass mit den Flüchtlingen islamische Terroristen kommen könnten. In der Tat müssen wir davon ausgehen, dass terroristische Anschläge in Deutschland geplant werden. Zwar wurde die sogenannte Balkanroute geschlossen, dennoch werden weiterhin Menschen aus den Krisenregionen der Welt fliehen, mit dem Ziel Europa. Sie fliehen vor Hunger, Krieg und Perspektivlosigkeit.
So war es ein starkes Zeichen, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im August 2015 die Flüchtlingskrise zur Chefsache erklärte. Ebenso weitsichtig war es, dass die Bundeskanzlerin sich bis heute weigert, Flüchtlingsobergrenzen festzulegen, und das trotz des immensen Drucks aus der eigenen Partei und dem desaströsen Abschneiden der CDU bei den Landtagswahlen im März 2016.
Europäische Mitverantwortung
Der Deutsche Caritasverband und viele andere, die im Nahen Osten und Westafrika den Flüchtlingen helfen, warnen seit Jahren vor einer Flüchtlingswelle. Wirtschaftliche Kurzsichtigkeit und politische Verantwortungslosigkeit sind auch Gründe für die jetzige Flüchtlingskrise, und so trägt Europa eine Mitverantwortung. Syrien, Afghanistan, Iran und Irak wurden durch den Westen hochgerüstet, übrigens war und ist auch Deutschland daran beteiligt, wenn Panzer nach Saudi-Arabien verkauft werden. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass die bisherige Nahost-Politik des Westens ziemlich gescheitert ist. Das politische Konzept, einen islamischen Staat militärisch hochzurüsten, damit er einen anderen islamischen Staat zerstört, kann als gescheitert angesehen werden. In der Folge dieser Politik wurde die Region nachhaltig destabilisiert, und damit hat der Westen der Perspektivlosigkeit der Araber und dem Terrorismus Vorschub geleistet. Besonders gefährlich dürfte für uns alle sein, dass viele Muslime sich vom Westen abwenden, weil sie enttäuscht und tief verletzt wurden. Diese Wut treibt nun tausende Muslime in die Fänge des IS. Amerika und Europa tragen daher eine erhebliche Verantwortung für die Ausbreitung des Terrors im Nahen Osten.
Zu lange wurde eine Politik im Nahen Osten umgesetzt, die einseitig westliche Wirtschafts- und Machtinteressen verfolgte. Dabei wurden die Kultur und die Werte der arabischen Welt weder ernstgenommen, noch wurden die Lebensperspektiven der Bevölkerung auf dem afrikanischen Kontinent nachhaltig verbessert. Der Umgang des Westens mit Afghanistan, dem Iran oder dem Irak in den letzten fünfzig Jahren zeigt mehr als deutlich, wie wenig nachhaltig diese Politik gewesen war. Sie hat diese Länder ausgeblutet und ins Unglück gestürzt mit Millionen von Toten und dabei den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten weiter aufgeheizt.
Undurchschaubar und komplex
Bestes Beispiel dafür ist das sunnitisch geprägte Saudi-Arabien. Es gibt intensive wirtschaftliche Kooperationen mit dem Westen, aber um den Preis, dass Saudi-Arabien nicht ausgleichend in die Region vermittelt, sondern quasi durch sein schlechtes Gewissen, mit dem Westen zusammenzuarbeiten, seine islamische Ideologie verbreitet. Der religiöse Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten wurde durch den westlichen Machtanspruch verschärft, und es ist völlig unklar, ob daraus nicht ein noch viel größerer Flächenbrand wird mit wiederum Abertausenden Toten und Millionen Menschen auf der Flucht. Die Konflikte in Syrien und Libyen führen schon heute dazu, dass die Lage zusehends undurchschaubarer wird, wer nun mit wem in welcher Weise koaliert und vor allem wie tragfähig die Koalition sich erweist.
Aussichtsloser Anti-Terror-Kampf?
Militärisch gelang es weder Russland noch Amerika – trotz ihrer Lufthoheit und den Präzisionswaffen – den Kampf im Nahen Osten gegen den Terror zu gewinnen. Afghanistan hat dies überdeutlich gezeigt. Womöglich könnte der Einsatz von Bodentruppen eine Wende im Syrienkrieg herbeiführen. Aber um welchen Preis? Wie lange müssten amerikanische, englische, französische oder deutsche Soldaten in Syrien stationiert werden? Wir dürfen annehmen, dass die Strategen im Pentagon dies mittlerweile erkannt haben und Bodentruppen keine wirkliche Option darstellen.
Man schätzt, dass 30.000 Kämpfer zum harten Kern des IS zu zählen sind. Der Großteil stammt aus Syrien und dem Irak, geschätzte 10.000 von ihnen haben sich aus westlichen Staaten oder ehemaligen Sowjetrepubliken dem IS angeschlossen.
Flüchtende und Schlepper
Armut und Hunger treiben Tausende aus Ghana, Eritrea, Südsudan, Eritrea, Burundi, Kongo, Somalia oder Sambia nach Europa. Jahrelange Bürgerkriege, Dürren und die Herrschaft einer kleinen Gruppe von Despoten, die jede kritische Äußerung mit Folter und Mord zerstören, treiben Hunderttausende Menschen in die Flucht.
Wie kommen der Arbeiter aus Ghana oder die junge Afghanin nach Europa? Wer Zugang zum Internet hat, für den sind es wenige Mausklicks, um einen Kontakt herzustellen. Angebote gibt es auf Facebook, eine Telefonnummer ist ebenfalls mit angegeben. Der Anruf führt zu einem Schlepper. Angeboten werden nicht nur die gängigen Fluchtrouten, sondern auch Geburtsurkunden, Pässe und Führerscheine. Für alles das muss man natürlich bezahlen, die Preise werden in Dollar ausgehandelt, mal sind es einige Hundert (Transport auf dem Landweg) bis hin zu einem Rundum-sorglos-Paket (mehrere Zehntausend Dollar).
Wir haben es hier mit einem ausgeklügelten und international tätigen „Reisedienst“ zu tun. Und weil so viele Menschen auf der Flucht sind, hat sich der Umsatz der Schmuggler nach Schätzungen der UN auf sieben Milliarden Dollar im Jahr eingependelt.
Grenzschutz ohne Nachhaltigkeit
Zwar zeigt das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei Wirkung mit der Folge, dass die Flüchtlingszahlen auf den griechischen Inseln signifikant sinken und damit auch in Deutschland immer weniger Flüchtlinge ankommen. Die Nato patrouilliert mit Schiffen in den türkischen Gewässern und alarmiert die türkische und griechische Küstenwache, wenn sie verdächtige Bewegungen auf See beobachten. So können die Schlauchboote recht einfach aufgehalten werden, bevor sie griechische Gewässer erreichen, und Schiffbrüchige werden schneller gerettet.
Mit solchen Maßnahmen werden die Grenzen zu Europa zwar geschützt und die Flüchtlinge werden von Griechenland in die Türkei zurückgeschickt, die Fluchtursachen werden mit solchen Maßnahmen nicht überwunden. Sobald das Wetter etwas besser wird, werden Tausende nicht mehr die Route über den Balkan nehmen, sondern die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer antreten und viele werden im Mittelmeer ihr Leben lassen.
Selbst wenn Europa und Amerika kurzfristig ihre politische Strategie ändern, bedeutet das noch lange nicht, dass es den Menschen auf dem Balkan, im Nahen Osten, in Asien oder Afrika sozial und wirtschaftlich besser gehen wird. Wir werden Geduld aufbringen müssen und sollten das unsrige tun, um den Menschen mittelfristig Perspektiven zu ermöglichen. Die deutsche Bundeskanzlerin weigert sich genau deshalb, Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen zu nennen, stattdessen setzt sie auf den Faktor Zeit und beschwört alle, sich in Geduld zu üben.
Langer Atem ist gefragt
Flucht wird das Megathema des 21. Jahrhunderts und die Verringerung der Fluchtursachen die größte politische Herausforderung sein. Sie anzunehmen, stellt nicht nur die Politik, sondern jeden Einzelnen vor die Entscheidung, nicht nur das eigene Verhalten zu ändern, sondern sich aktiv in die gesellschaftliche und politische Debatte einzubringen. Das kann auf ganz verschiedene Weise geschehen, beispielsweise, indem Menschen sich in den Flüchtlingsunterkünften einsetzen, Kleidung oder Geld spenden oder sich bei den runden Tischen einbringen.
Auf der politischen Ebene geht es darum, die Entwicklungshilfe zu stärken, die Wasserversorgung in den Entwicklungsländern weiter auszubauen, Schulen und Krankenhäuser zu bauen und vieles mehr.
Allerdings gibt es ein tiefgreifendes Problem, denn viele Menschen trauen dem Westen nicht mehr, zu oft wurden sie getäuscht. Die Aufgabe der Stunde lautet daher, Vertrauen aufbauen. Das gelingt, wenn wir den Flüchtlingen helfen und ihnen beispielsweise in Deutschland oder anderen europäischen Ländern eine Perspektive bieten. Den Fremden willkommen heißen, ihnen Wohnraum geben, den Flüchtlingskindern eine gute Schulbildung ermöglichen und Maßnahmen ergreifen, damit die Eltern eine berufliche Perspektive erhalten. Das stellt eine große Herausforderung für uns alle dar, die nur gesamtgesellschaftlich gelöst werden kann.
Umgang mit der Angst
Die Anschläge von Paris und wo immer noch welche folgen mögen, verunsichern viele und erzeugen Angst – das war das Ziel der Anschläge. Eine natürliche Reaktion ist es, nun die Grenzen zu schließen und sich abzuschotten. Angst aber ist im politischen Alltag kein guter Ratgeber. Gleichwohl müssen die Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger ernstgenommen werden.
Ganz auszuschließen ist nicht, dass sich Radikale unter die Flüchtlinge mischen, um so unentdeckt nach Deutschland einreisen zu können. Schon deshalb sollte es in unser aller Interesse sein, dass die Flüchtlinge registriert werden, am besten dort, wo sie europäischen Boden betreten. Werden die Informationen zwischen den unterschiedlichen Behörden gut kommuniziert, verringert dies mögliche Terroranschläge.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vermutet, dass sich in Deutschland etwa 290.000 nicht registrierte Flüchtlinge befinden. Die Behörden wissen auch nicht, wo sich diese Flüchtlinge aufhalten. Die nicht registrierten Flüchtlinge erhalten keine Leistungen vom Staat, das macht die Lage allerdings nicht besser, zumal es schwieriger wird, sie zu integrieren.
Würde der Westen präventiv agieren und die Aussteigerprogramme ausbauen, wäre ebenfalls viel gewonnen. Die deutschen Behörden gehen davon aus, dass ungefähr 800 deutsche Dschihadisten in Syrien und im Irak leben. Viele davon stammen aus bürgerlichen Elternhäusern. Die Prävention darf also nicht nur in den Migrantenmilieus ansetzen. Wir benötigen Beratungsstellen als Anlaufstelle für Familienmitglieder.
Zwischen Überwachung und Freiheit
Die Herausforderung besteht darin, eine gute Balance zwischen unserem Sicherheitsbedürfnis und unseren Freiheitsgraden herzustellen. Das Ziel darf nicht sein, dass wir nun einen Überwachungsstaat aufbauen mit einem exorbitant ausgebauten Spionagedienst sowie einer Verschärfung der Gesetze. Wohl werden wir uns schützen müssen. Die Behörden benötigen aufmerksame Bürger, dann wird es möglich sein, Anschlagspläne frühzeitig zu erfahren und zu verhindern.
Bleiben wir vernünftig: Es gibt radikale Islamisten, die gegen die westliche Demokratie und das Christentum kämpfen. Wir müssen uns dagegen wehren, keine Frage. Stellen wir aber bitte nicht alle Flüchtlinge unter Generalverdacht. Grenzen schließen und sich abschotten kann nicht die Lösung des Problems sein.
Nehmen wir die Flüchtlinge auf und helfen ihnen, verändert das ein klein wenig die Welt.
Die Flüchtlinge in Deutschland sind die besten Botschafter in ihr Herkunftsland. Sie sprechen mit ihren Verwandten, erzählen davon, wie sie aufgenommen wurden und verändern so – wenn auch nur langsam – das Bild von Europa im Nahen Osten.