Die Geduld von Rotonda
Neben Vorsicht und Abstand erfordert die Corona-Pandemie wohl vor allem Geduld. Davon können auch die Bewohner des Ortes Rotonda ein Lied singen. Rund um das Antonius-Fest feiern sie mit langer Tradition ihre überlieferten Wald-Riten – eigentlich. Denn in Corona-Zeiten ist Verzicht geboten. Die Hoffnung aber, dass die Normalität bald zurückkehrt, geben sie nicht auf...
Der heilige Antonius ist ein geduldiger Heiliger. Und Geduld ist in diesen Zeiten eine wahre Tugend. Und die 3.300 Bewohner von Rotonda in der Provinz Potenza in der Basilikata haben wahrlich Geduld gezeigt. Die Tage um das Antoniusfest herum, Anfang Juni, gehören zu den schönsten des Jahres an den östlichen Hängen des Pollino-Massivs in Lukanien. Bis zum 13. Juni dauert es noch einige Wochen – wir sind schon heute in der Gegend auf unserer Reise mit Antonius durch Italien.
Feiern in Corona-Zeiten
Natur und Menschen genießen den Frühling, und ab Ende Mai laufen die Festvorbereitungen normalerweise auf Hochtouren. Im vergangen Jahr jedoch herrschte nicht die elektrisierende Vorfreude auf das Tannenfest, das zusammenfällt mit der Zeit der besonders intensiven Gebete zum heiligen Antonius und dessen Gedenktag. Die Pandemie hat weder vor dem Pollino-Massiv, noch vor dem Ort Rotonda Halt gemacht. Die Pitu, eine 22 Meter hohe Buche (die davon überzeugt ist, eine Tanne zu sein – aber das ist eine andere Geschichte), und auch die Rocca (die wirklich eine Tanne ist) wurden nicht gefällt; es gab weder die unendliche Prozession der Ochsen, noch das Rennen der Kinder oder die festliche Musik und die Festbeleuchtung, den Kreis der Tarantelle oder die Segnung der Tiere. Im vergangenen Jahr herrschten Achtsamkeit, Abstand und Vorsicht in Rotonda, so, als ob die Bewohner das Fest gebeten hätten, geduldig und ruhig zu sein. Aber der heilige Antonius hat das verstanden: Auf einer Mauer eines schönen Hauses auf dem Hauptplatz thront ein riesiges Graffiti des heiligen Antonius – und er hat gelächelt, als er die Bewohner am 13. Juni letzten Jahres ankommen sah, zur Heiligen Messe zu seinem Gedenken, die im Freien veranstaltet wurde. Sorgsam waren sie darauf bedacht, den gebotenen Abstand zu wahren, auf Stühlen, Bänken, unter den Bäumen, und beteten mit Hingabe. In normalen Zeiten wäre das der letzte Akt des Festes gewesen, im vergangenen Jahr war es ein einsamer, aber bewegender Ritus – Rotonda hatte sich eine geheiligte Auszeit genommen.
Antonianische Wundergeschichten
Auch dieses Jahr hat das Corona-Virus die Welt noch fest im Griff, und das Fest wird womöglich auch diesmal nicht stattfinden können (ich hoffe sehr, mich zu irren). Aber der Ort wird ein neues, langsames Gleichgewicht finden und darum beten, dass die Fröhlichkeit der vergangenen Jahre zurückkommt. In diesen Tagen leben die Menschen hier in nostalgischer Erinnerung und manch einer hofft auf das Wunder, dass das Virus verschwinden möge.
Schließlich gibt es dieses Jahr einen besonders festlichen Anlass: Vor achthundert Jahren, im Frühling 1221, kamen zwei Brüder, Antonius und Philippus, die in Sizilien Schiffbruch erlitten hatten, in Begleitung ihrer sizilianischen Mitbrüder auf ihrem Weg durch Italien auf der Via Popilia hier vorbei. Sie hatten erfahren, dass Franziskus in Assisi das erste Generalkapitel des von ihm gegründeten Ordens ausgerufen hatte. Ihr Durchzug durch das Pollino-Gebiet ist eine Geschichte voller Wunder, die sich in den vergangenen acht Jahrhunderten ereigneten. Im Dorf erzählt man beispielsweise, dass eines Morgens ein Waldarbeiter etwas unvorsichtig eine große Tanne gefällt hatte. Der Baum stürzte auf ihn und begrub ihn unter sich. Der Mann flehte den heiligen Antonius um Hilfe an und es gelang ihm, sich zu befreien. Und seither bringen die Menschen aus Rotonda jedes Jahr dem heiligen Antonius als Dank eine Tanne. Tannenholz diente dazu, in der kalten Jahreszeit in den Bergen die Häuser zu heizen, aber auch als Baumaterial für die Restaurierung von Häusern und Kirchen. Seit diesem ersten Wunder ist Antonius fester Bestandteil der Kultur und der Verehrung in Rotonda. Seither gab es immer wieder Wunder und Erscheinungen.
Heilung – auch heute!
Vor Jahren habe ich Carletto kennengelernt: Er ist eine Haupt-figur des Festes, damals war er Vizepräsident der Pitu, der Gruppe, die die heilige Buche fällt und transportiert. Mit zwölf Jahren wurde er gelähmt und die Ärzte konnten ihn nicht heilen: Am Antoniusfest setzten die Eltern den Jungen auf den Baum, der aus den Bergen ins Tal gebracht wurde – und kurze Zeit später konnte Carletto wieder laufen. „Man muss nur daran glauben“, sagte er mir, als er mir 40 Jahre später seine Geschichte erzählte. Ich habe ihn bewundert, wie er gekonnt das Chaos des Transports des Baumes dirigiert hat. Auch Giuseppe kann wieder laufen. Er kam, nachdem er jahrelang in Frankreich gearbeitet hatte, mit einer Krankheit in den Beinen zurück. In einer Nacht vor dem Antoniusfest betrat jemand sein Zimmer. Eine Vision. Giuseppe hörte auf die Einladung dieser Erscheinung: „Komm mit in die Berge zum Fest. Ich erwarte dich.“ Er konnte seine Beine nicht bewegen, aber seine Familie half ihm, auf einen Esel zu steigen und in die Berge zu reiten. Als die Prozession des heiligen Antonius dann am folgenden Tag durch den Ort zog, spürte Giuseppe ein Kribbeln auf der Haut und wie die Kraft in seine Muskeln zurückkehrte. Er konnte wieder laufen.
Glaube, verbunden mit der Natur
Das erste Mal, als ich vor mehr als zehn Jahren in diese Wälder kam, habe ich nach dem Fällen des Baumes den Litaneien von Zi‘ Maria zugehört: Jahrelang hat diese Frau in der antiken Sprache Gesänge und Gebete intoniert, um die Gnade des heiligen Antonius zu erbitten. Dabei, in dieser Szene wie aus einer Landbibel, habe ich verstanden, wie wichtig dieses Fest für die Menschen aus den Bergen ist. Die Baumriten dieser Gegend, die auch in acht anderen Gemeinden in dieser Region gefeiert werden, sind eine Mischung aus Verehrung, Glaube, Anbetung. Don Stefano Nicolao, der Pfarrer von Rotonda, erklärt mir: „Diese Feste sind die Erfüllung eines kollektiv gegebenen Versprechens. Die Mühen und die Opfer dieser Menschen sind ihre Gabe an den Heiligen.“ Don Stefano hat mir die Seele dieses Festes offenbart. Dem Christentum ist es langsam und im Laufe der Jahrhunderte gelungen, seine eigenen Werte und Bedeutungen mit der Naturreligion der Berge zu verbinden. Die Riten für die Fruchtbarkeit der Wälder wurden zur Verehrung und zum Dank für das Göttliche. Die Baumriten sind Glaube und Fröhlichkeit, Überschwang und Gebet, Adrenalin und Sammlung. Lautes Gelächter und strömende Tränen. In den Nächten wird getanzt, gegessen, getrunken, gesungen. Es gibt Wettbewerbe zur Geschicklichkeit mit der Motorsäge und dem Talent der Holzfäller. Man betet mit Inbrunst und gedenkt der Dorfbewohner, die schon gestorben sind.
Wider die Traurigkeit
Die Jugendlichen aus dem Ort tragen T-Shirts, deren Aufschrift ganz deutlich ihren Einsatz zum Ausdruck bringt: „Alles für den heiligen Antonius!“ Lautes Schreien und Anfeuern begleitet die Reise des Baumes: Bei jedem Hindernis, bei jeder Schwierigkeit, wie wenn der Baum, der von einem phantastischen Gespann aus zwanzig Ochsen gezogen wird, sich verheddert oder hängenbleibt, wird sich kurz angeschaut, und im Chor geht es los mit dem Anfeuern: „Los, los, los, es lebe der heilige Antonius!“ Es ist wie eine Welle, die sich unaufhaltsam am Kopf der Prozession bildet und sich ausbreitet. Man schenkt sich gegenseitig Kraft, indem man lauthals zum heiligen Antonius ruft.
In diesen Wochen, die uns noch vom 13. Juni trennen, wird es ein Ruf sein, den die Dorfbewohner sich immer und immer wieder zurufen müssen, um der Traurigkeit zu widerstehen, die sie erfüllt – wie Waisenkinder, die ihres Festes beraubt wurden.