Die Logik radikaler Liebe

15. April 2004

Franziskus von Assisi war geschwisterlich eingestellter Mensch. Er konnte sagen – und er lebte es auch: Bruder Sonne, Schwester Mond, Mutter Erde, Schwester Grille, Schwester Lerche, aber auch Bruder Räuber und Bruder Aussätziger. Franziskus verwendete zwar die Begriffe Bruder und Bruderschaft, füllte sie aber häufig mit weiblichen Bildern, zum Beispiel nennt er den für die Versorgung des Hauses verantwortlichen Bruder „Mutter“ oder auch „Martha“, in Anspielung auf die rührige Martha, die Jesus bei seinem Besuch umsorgt (vgl. Lk 10,38-42). 
Ist der geschwisterliche Stil ein Traum oder eine Illusion die Franziskus hegte, oder gibt es dafür auch eine theologische Grundlage? Franziskus war zwar kein ausgesprochener Theologe, vor allem kein Wissenschaftler. Aber er las Bibel und fand darin die Geistesart Jesu, nach der er seinen persönlichen Lebensstil ausrichtete. Bis ins 12. Jahrhundert hinein war das Gottesbild sehr stark geprägt von der Allmacht Gottes. Gott wurde gesehen als der Herr, der Richter, der Heerführer. Franziskus behauptete nicht, dass dies alles falsch sei, aber er fand durch seinen Umgang mit Jesus zu einer anderen Gotteserfahrung. Er entdeckte die dienende, mütterliche Art Gottes, die in Jesus greifbar wird. Diese wollte er leben und verkünden.

Dienender Menschensohn. In der nicht bullierten Regel schreibt Franziskus: „Und er [unser Herr Jesus Christus] ist arm gewesen und Fremdling und hat von Almosen gelebt, er selbst und die selige Jungfrau und seine Jünger“ (NbReg 9). Franziskus war auch fasziniert von der Rede Jesu, die uns der Evangelist Matthäus überliefert: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mt20,25-28).
Jesus machte durch Wort und Tat deutlich: Nicht da, wo Macht oder Gewalt herrschen, ist Gott, sondern – wie es die Liturgie des Gründonnerstags formuliert – „wo die Güte und die Liebe ist, da ist Gott“. Nicht da, wo absolut geherrscht, Druck und Macht ausgeübt werden ist Gott, sondern wo man sich gegenseitig die Füße wäscht. Auch die Botschaft von der Fußwaschung Jesu rührte Franziskus sehr an. Er las daraus: Jesus hat seine Liebe zu den Seinen als Verbundenheit mit ihnen, als Dasein und Hingabe an alle bezeugt. Er ist der Diener aller und dieser Dienst schafft Beziehung. Jesu Liebe zeigt sich in der Selbsterniedrigung, im Dasein und Handeln für die Brüder und Schwestern. Es sind nicht nur leere Worte, wenn er sagt: „Ihr alle seid Brüder“.


Echte Alternative. Wer sich an Jesus orientiert und die Liebe so verstehen will, wie er sie verstand, muss dem Andern zum selbständigen Stehen, zur Lebensfähigkeit verhelfen und ihm den nötigen menschlichen Lebensraum verschaffen. Genau das hat Jesus getan. Für ihn gab es keinen Fall, erst recht keinen hoffnungslosen Fall. Jeder Mensch war ihm Bruder, Schwester. Auch für die Ehebrecherin, die auf frischer Tat ertappt wurde, schaffte er Lebensraum. Er gab ihr ihre Würde und ihr Selbstwertgefühl zurück; er nannte dann auch Sünde, was Sünde war und ermöglicht der Frau so einen neuen Weg.
Bei Franziskus fiel das Wort Jesu, das er nach der Fußwaschung sprach, auf fruchtbaren Boden: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe“ (Joh 13,15). Franziskus hat ganz bewusst diese Seite der Frohen Botschaft für sich und seine Brüder aufgegriffen. Er sah nämlich, dass sie in seiner Zeit zu kurz kam, und dass dadurch das Gottesbild einseitig war und wesentliche Züge unseres Gottes verdunkelt blieben. Dies zu ändern, darin sah er seine Berufung. Er wollte mit seinen Brüdern und Schwestern anfangen, die Beziehungen ganz anders zu gestalten als dies in der Welt üblich war. Dabei begann er mit dem Namen. Er sah sich als Minderbruder (frater minor) und nannte seine Gemeinschaft Minderbrüder. Sie sollten brüderlich und geschwisterlich miteinander umgehen und immer neu sich mühen, noch mehr wie Diener, Kinder, Untere zu werden. Er sah seine persönliche Berufung und die seiner Gemeinschaft darin, die Logik von Macht und Herrschaft zu vertauschen mit der Logik radikaler Liebe. Seine Gemeinschaft sollte ganz im Sinne Jesu gestaltet werden und so eine echte Alternative zu den innerweltlichen Hackordnungen darstellen. „Ihr alle seid Brüder“. Diese Alternative können wir Geschwisterlichkeit nennen.

Eucharistie schafft Beziehung. Nach dem Lukasevangelium schenkte Jesus seinen Jüngern seine ganze Liebe unter den Zeichen von Brot und Wein. Er tat dies im Abendmahlsaal, wo unmittelbar danach unter den Jüngern ein Streit über die Frage ausbrach, wer unter ihnen wohl der Größte sei (vgl. Lk 22, 24). Damit wird deutlich, dass auch Jüngerinnen und Jünger in der Gefahr stehen, den Gesetzen von Macht und Herrschaft zu verfallen. Andererseits wird hier auch die Hilfe aufgezeigt, die Christen für ein Leben in Geschwisterlichkeit in Anspruch nehmen können: Es ist die Eucharistie. Sie ist Quelle und Nahrung für die Geschwisterlichkeit unter Christen. Gott erniedrigt sich, kommt herab, geht an den Rand und tritt mit uns Menschen in Beziehung und will sich auch in unseren vielfältigen Beziehungen vergegenwärtigen. Die Erfahrung der Demut Gottes in der Krippe, im Kreuz und auf dem Altar (Eucharistie) schafft neue Beziehungen unter den Menschen, die sich brüderlich und schwesterlich näher kommen und untereinander verbunden wissen. Gott hebt alle Distanzen unter den Menschen auf. Gottes geliebte Kinder sind wir, Schwestern und Brüder Jesus Christi, Gott-Verwandte.

Aufgabe Hausgenosse. Es gibt einige Schlüsselworte bei Franziskus, die den Sinn und Inhalt des Wortes Geschwisterlichkeit näher beschreiben. Dazu gehört das Wort Hausgenossen. „Und wo immer die Brüder sind und sich treffen, sollen sie sich einander als Hausgenossen erzeigen. Und vertrauensvoll soll einer dem andern seine Not offenbaren; denn wenn schon eine Mutter ihren leiblichen Sohn nährt und liebt, um wie viel sorgfältiger muss einer seinen geistlichen Bruder lieben und nähren?“ (BReg6, 7-9).
Konkret heißt dies, dass die Brüder untereinander ein dichtes Beziehungsgeflecht pflegen, das trägt und wie ein Nest wirkt, in dem man sich beheimatet fühlen kann. Es heißt, miteinander Freude und Trauer, Schmerz und Konflikte durchstehen und sich auf Gedeih und Verderb aufeinander verwiesen fühlen. Man wählt sich nicht die konkreten Menschen aus, mit denen man zusammenlebt, sondern betrachtet die vorgegebenen als von Gott gegebene Gabe und Aufgabe.
Ein anderes Wort, das den Begriff „Geschwisterlichkeit“ deutet, ist die Mütterlichkeit. Franziskus schreibt: „Und jeder liebe und ernähre seinen Bruder, wie eine Mutter ihren Sohn liebt und ernährt; dabei wird ihm Gott Gnade schenken“ (NbReg9,11). Mütterlichkeit steht für die Urerfahrung des Menschen, in einem bergenden Schoß behütet zu sein und in einer engen Lebens- und Schicksalsgemeinschaft mit der Mutter leben zu dürfen. Mutter kann nach Franziskus auch ein Mann sein, der lebensfördernde, nährende, bergende, schützende Funktionen wahrnimmt.

Mütterlich sein heißt: sorgend in der Welt sein. Es gilt für den Mitbruder und jeden Mitmenschen, einen Lebensraum zu schaffen, der wie ein Mutterschoß wirkt oder wie ein Haus, in dem die Menschen miteinander leben können. So wie das Kind Bejahung, Annahme und Liebe braucht, um die in ihm liegenden Anlagen zur Entfaltung zu bringen, wie es Lob, Anforderung und Anfrage braucht, um zu der unverwechselbaren, einmaligen Person zu werden, die der Schöpfer gewollt hat, so soll der Mensch nach der Art des Franziskus durch Ehrfurcht vor dem Mitmenschen, durch Respekt vor seiner Einmaligkeit, durch die Achtung seiner Ehre und seines Schamgefühls diesem einen Freiraum schaffen, in dem er atmen, leben und sich entfalten kann. Das ist für Franziskus mütterliche Art.
Zu diesen Schlüsselworten gehört auch die Minoritas, die Haltung des Minderseins. Geschwisterlichkeit ereignet sich gerade in der Begegnung mit den Schwachen, den Gebrechlichen, den Leidenden, den Kleinen. Diese besondere Zuwendung beschränkt sich bei Franziskus jedoch nicht auf die Menschen. Sie gilt auch dem Lamm, das zum Metzger geführt wird, dem Wurm, der im Staub der Straße verdirbt; sie gilt dem Bruder, der das strenge Fasten nicht halten kann und geht bis hin zu Jesus, der am Kreuz hängt.

Dem Schwachen zugetan. Eine letzte Verdeutlichung: Die Compassio, das Mitleiden. Diese Haltung stellt die Beziehung her zur Zerbrechlichkeit und Schwäche der anderen und auf das Schicksal, das sie trifft. In dieser Haltung leidet man mit den Leidenden. Man nimmt mit dem Herzen teil am Schmerz der anderen; man versucht, die Art Jesu nachzuvollziehen, der in seiner Liebe Anteil am Geschick der Menschen nahm und sich leidenschaftlich für ihr Wohl einsetzte. Dieser Einsatz soll das Wohl des andern fördern.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016