Die Rede vom Christlichen Abendland
Im Zusammenhang mit der Migrations- und Flüchtlingskrise und den diesbezüglichen Auseinandersetzungen mit Pegida, der AfD und anderen Gruppierungen wird auch der Begriff „Das christliche Abendland“ wieder häufiger benutzt. „Wir sind das christliche Abendland und das soll erhalten bleiben“, sagen diejenigen, die damit zum Ausdruck bringen wollen, dass „wir“ Menschen anderer Religionen und Kulturen in unserer Gesellschaft nicht zulassen dürfen, zumindest nicht so, dass unser christliches Abendland beeinträchtigt wird.
Wenn man aber mit jenen, die vom christlichen Abendland reden und es verteidigen wollen, eingehender spricht, muss man oft feststellen, dass sie gar nicht wissen, was das christliche Abendland bedeutet.
Kein Produkt, sondern ein Prozess
Es ist auch gar nicht so leicht, das christliche Abendland zu beschreiben. „Abendland“ ist ein sehr junger Terminus technicus und wird eigentlich erst seit dem 20. Jahrhundert verwendet. Er dient heute meist als territoriale Beschreibung Europas, manchmal wird Amerika eingeschlossen, im Unterschied zum Nahen und Fernen Osten, die als „Morgenland“ bezeichnet werden.
„Christlich“ meint eine mehrheitlich getaufte Bevölkerung und eine vom Christentum geprägte Kultur. Somit wäre das christliche Abendland ein Europa (mit Amerika), das vom Christentum geprägt ist. So verstanden kann das christliche Abendland aber kein Produkt sein, das irgendwann einmal „fertig hergestellt“ ist, sondern vielmehr ein immerwährender dynamischer Prozess: Das christliche Abendland oder das christliche Europa, das christliche Deutschland, das christliche Spanien etc. müssen immer wieder neu gebildet werden.
Das Evangelium als Grundlage
Das Grundelement und inspirierende Ferment ist dabei das Evangelium, das eigentlich in einer Person besteht, in Jesus Christus. Die Schriften des Neuen Testaments, die sich mit der Person Jesu, seinem Leben und seinem Wirken, seinem Sterben und Auferstehen und den Folgen davon befassen, sind die Basis für jede christliche Gemeinschaft und Gesellschaft.
Wir nennen sie inspiriert, weil die Verfasser beim Schreiben von Gottes Geist, beziehungsweise dem Geist Jesu Christi, geleitet wurden. Inspirierte Schriften heißt aber noch mehr: In ihnen ist der Geist Gottes oder Jesu Christi enthalten und jeder, der die Heilige Schrift gläubig liest, wird angeregt, in seinem Leben, in seinem Beruf und Lebensstand dem Geist Gottes zu folgen und ihn zu verwirklichen. So haben die inspirierten Schriften des Neuen Testaments seit 2000 Jahren gewirkt, ganz besonders hier in unserem europäischen Raum. Sie haben aktive Christen geformt und eine christliche Kultur gebildet. Davon zeugen die Kirchen, die Kunstwerke, Literatur und Musik, die Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Universitäten, die sozialen Institutionen wie Krankenhäuser, Altenheime und Hospize sowie ebenso die Verfassungen und Rechtsordnungen, die die Menschenwürde und die Menschenrechte enthalten und garantieren. Das Evangelium wurde im Laufe der Geschichte des Abendlandes aber nicht immer beachtet; es gab Zeiten und Orte in Europa und Amerika, wo das Christentum nicht inspirierte und man deshalb nicht vom christlichen Abendland sprechen kann. Die inspirierten und inspirierenden Texte der Heiligen Schrift wirken auch heute. Sie führen diese christliche Kultur weiter und bilden immer neu christliches Abendland.
Ein dynamischer Prozess
Christliches Abendland ist ein dynamischer Prozess, der seine Inspiration aus der Heiligen Schrift empfängt. Christliches Abendland oder christliches Europa wird aufgebaut durch Menschen, die als Christen wirken und die Gesellschaft prägen.
Christliches Abendland bedeutet in der derzeitigen Situation, alles zu tun, um die Kriege zu beenden, Vertreibung und Flucht zu ächten, Hunger, Menschenrechtsverletzungen etc. zu beseitigen sowie eine gerechte Weltordnung aufzubauen. Im christlichen Abendland muss man sich der Flüchtlinge annehmen und sie menschenfreundlich behandeln, wie es das Evangelium fordert.
Das christliche Abendland kann nicht als Abgrenzungs- oder gar Kampfbegriff missbraucht werden, mit dem man Grenzen schließt und Notleidende abwehrt. Not und Leid der Menschen sehen und sich für sie öffnen, gehört wesentlich zum christlichen Abendland dazu. Es wird entweder vom Hauptgebot Christi, der Gottes- und Nächstenliebe, gebildet oder es existiert nicht!