Die Stunde ist gekommen
Jesus betet in Todesangst: Vater, wenn du willst, nimm
diesen Kelch von mir! Petrus, Johannes und Jakobus, die drei Jünger, die
Jesus mitgenommen hatte, wachen nicht und beten nicht - sie schlafen. In der
Ferne naht Judas, im Gefolge die Soldaten und Gerichtsdiener. Die beiden
Maler Giovanni Bellini und Andrea Mantegna haben das selbe Thema
künstlerisch gestaltet. Beim Vergleich fällt auf, dass sie ihre Bilder ganz
ähnlich aufgebaut haben, denn sie griffen auf dieselbe Skizze ihres Vaters
und Schwiegervaters Jacopo Bellini zurück. Aber die Stimmung ist
grundverschieden.
Bei Mantegna drückt die Angst. Alles ist fest, felsig und schwer: das
schroff gefaltete dunkle Gewand Jesu, sogar die Wolken und die Engel, die
die Leidenswerkzeuge tragen - die Säule, an der Jesus gegeißelt, das Kreuz,
an das er geheftet, der aufgespießte Schwamm, mit dem er mit Essig getränkt,
die Lanze, mit der sein Herz durchbohrt werden wird. Hart und klar wirken
die Stadt Jerusalem, die Soldaten, die Tiere und Pflanzen.
Sanfter ist der Eindruck bei Bellini, sanft das Tal, die Windungen des
Flusses, die Hügel, sanft das Licht. Bei Mantegna gehört Jesus ganz der Erde
an - das Haupt ist noch von einer bewaldeten Bergkuppe hinterfangen. Auch
bei Bellini lastet der Körper Jesu schwer auf dem Felsen, während Jesus, von
uns abgewandt, im verlorenen Profil, angstvoll betet: Abba, Vater, alles
ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will,
sondern was du willst, soll geschehen.
Doch im Gebet scheint Jesus zu entrücken. Der Anstieg, auf dem er
kniet, ist wie eine Schanze, die emporträgt. Goldenes, göttliches Licht
umfängt das Haupt Jesu und macht den sonst üblichen Heiligenschein
überflüssig. Der leichte Himmel zieht ihn nach oben wie die schwerelos
gleitenden Wolken. Am Himmel erscheint ein Engel, gemäß dem Bericht von
Lukas, um Jesus neue Kraft zu geben. Sein Körper ist nur aus
durchscheinendem Licht gebildet. Er trägt den Kelch.
Auch die Zeichen des Todes sind unübersehbar. Jesus und die Jünger lagern
auf nacktem Boden, außerhalb des grünenden Gartens, dessen Tür so einladend
offen steht. Ist das eine Anspielung auf den Paradiesgarten, der durch das
Opfer Jesu wieder offen steht? Der Fels, auf den Jesus sich stützt, ist wie
zu einem Altar aufgeschichtet. Jenseits des Baches Kidron, der das Tal
teilt, ragt ein kahler Baum kerzengerade auf wie der Stamm des Kreuzes. Und
schon nahen die Soldaten mit Schilden und Lanzen. Der beginnende Morgen ist
ausdrücklich von der Abendseite beleuchtet: die Gewänder, Jesu Füße, von
denen deutliche Schatten ausgehen, die helle Siedlung auf dem Hügel. Der
neue Tag bringt Jesus den Lebensabend.
Was ist eigentlich Jerusalem? Die Stadt im gleißenden Licht, die
Siedlung im Tal oder die Maueranlage unter dem Engel mit dem Turm, die im
Schatten liegt? Bei Mantegna gibt es da keine Zweifel. Er hat ein stolzes
Jerusalem gemalt, das breit den Berg Zion umgürtet. Die rosa Stadtmauern
entsprechen der damaligen Maltradition. Unter die mittelalterlichen Paläste
und Turmhäuser mischen sich Renaissancebauten und Türme, die mit dem
Halbmond bekrönt sind - er steht für die Juden und Römer. Als römische
Relikte finden sich hinter Jesus ein Amphitheater und eine Triumphsäule,
darauf ein Reiterstandbild. Dem äußersten Stadttor entströmt ein nicht enden
wollender Zug von Menschen, die Judas folgen. Stellt sich ganz Jerusalem
Jesus entgegen?
Gleich wird Jesus zu seinen Jüngern gehen: Schlaft ihr immer noch und ruht
euch aus? Es ist genug. Die Stunde ist gekommen; jetzt wird der Menschensohn
den Sündern ausgeliefert. Steht auf, wir wollen gehen! Seht, der Verräter,
der mich ausliefert, ist da.