Die Sucht nach Haben
Das Haben-Wollen ist eine Grundtendenz im menschlichen Leben. Die Psychologen sprechen vom Besitzstreben. Dieser Trieb meldet sich und entfaltet sich, ohne dass wir nachdenken. Offensichtlich verspricht er uns ein Stück Glück. Für viele wird das „Haben“ zum Ziel des Lebens. Sie meinen: Je mehr ich besitze, umso mehr bin ich. Die Sehnsucht nach Leben und Glück schlägt um in Sucht nach „Haben“, wird zur Hab-Sucht. Dann ist man schließlich ganz gefangen vom eigenen Besitztum: dem Haus, dem Auto, den Immobilien, dem Geld, den Aktien, den Medien...
Wie viel braucht der Mensch? Viele bemerken nicht, was da geschieht. Der Mensch hat nicht mehr Geld, das Geld hat ihn. Er besitzt nicht mehr, sondern ist besessen. Die Dinge haben und treiben ihn. Unsere Gesellschaft hat Scharen solcher Besessener, Abhängiger hervorgebracht.
Von dem russischen Dichter Tolstoi gibt es eine bekannte Legende: „Wie viel Erde braucht der Mensch?“ Darin erzählt der Dichter von dem Bauer Pachom, dessen ganzes Unglück darin lag, dass er zu wenig Grund und Boden besaß. Eines Tages führt ihn sein Weg in das weite Land der Baschkiren. Diese schließen mit ihm einen Handel ab: Ihm solle soviel Land gehören, wie er an einem Tag umschreiten könne. Frühmorgens macht sich Pachom auf, um ein großes Stück Land zu umschreiten. Sein Ausgangspunkt liegt immer weiter zurück, aber er kehrt dennoch nicht um. Er gönnt sich keine Pause. Sein Motiv: Noch ein paar Stunden, dann habe ich genug für mein ganzes Leben; noch diese Talwiese, jenes saftige Weideland dort – es wäre doch schade, sie nicht auch noch in den Besitz einzubeziehen. Er beschleunigt seine Schritte und beginnt sogar, als der Tag sich langsam neigt, zu laufen. Seine Brust geht wie ein Blasebalg. In dem Augenblick, in dem die Sonne hinter dem Horizont verschwindet, erreicht er den Ausgangspunkt, taumelt und fällt platt auf die Erde nieder. „Ein tüchtiger Kerl“, rief der Älteste der Baschkiren. Doch als sie ihn aufheben wollten, merkten sie, dass er schon tot war. Da schaufelten sie ihm ein Grab in der Erde. Das war genau so lang, wie er vom Kopf bis zu den Fersen maß. So viel Erde braucht der Mensch.
Erwartung der Erwartung. In seinem Buch „Gier. Neuroökonomie: Wie wir ticken, wenn es ums Geld geht“ (Rezension auf Seite 51) schildert der amerikanische Hirnforscher Jason Zweig ähnliche Verhaltensweisen: Laurie Zink hat den Zwang, Lotterielose zu kaufen. Sie ist eine intelligente, fleißige Frau mit Universitätsdiplom. Auf der einen Seite weiß sie, dass die Gewinnchancen für sie lächerlich klein sind, auf der anderen Seite spürt sie übermächtig, „wie gut es sich anfühlen würde, zu gewinnen“. Sie ist durch einen früheren Supergewinn vom Zocker-Virus infiziert und kann das süße Gift nicht wieder loswerden. Immer, wenn beim Glücksspiel der Topf prall gefüllt ist und gigantische Gewinne in Aussicht stehen, muss sie zugreifen. Ihr Gefühl „was wäre, wenn...“ und der Gedanke, „man weiß ja nie...“ überrennen sie. Der Hirnforscher behauptet, das menschliche Gehirn behandle potentielle Gewinne aus Geldanlagen oder aus dem Glücksspiel so wie gute menschliche Urerfahrungen, zum Beispiel Nahrung, Unterkunft, Sicherheit, Liebe, Vertrauen.
Die Erwartung eines finanziellen Gewinns versetzt einen Teil unseres Gehirns in Alarmbereitschaft. Wenn man dann tatsächlich das Geld einnimmt, ist der Nervenkitzel schon recht verblasst. „Geld zu machen, fühlt sich gut an, sicherlich; aber es ist einfach nicht so spannend wie die Erwartung, Geld zu machen.“ Das menschliche Gehirn ist mit einem biologischen Mechanismus ausgestattet, der sehr viel erregter ist, wenn man einen Gewinn erwartet, als dann, wenn man einen Gewinn tatsächlich erzielt hat. Wenn wir gewahr werden, dass Belohnungen in Aussicht stehen, wird unsere Aufmerksamkeit nicht nur durch einen Gewinn oder durch ein Signal, das einen möglichen Gewinn anzeigt, gefesselt – nein, unser Gehirn ist schon fasziniert von dem Hinweis darauf, dass ein solches Signal bevorstehen kann. Der Japaner Hiroyuki Nakahara
nennt diese Frühwarnung „die Erwartung der Erwartung einer Belohnung“. Es ist so, als ob uns das Wasser im Mund zusammenläuft, nicht erst beim Geruch und beim Anblick eines leckeren Essens, sondern bereits dann, wenn ein solches Essen angekündigt wird. Unser Gehirn ist sehr sensibel im Hinblick auf die Höhe einer erwarteten Belohnung. Oder anders gesagt: Je höher der mögliche künftige Gewinn ist, umso gieriger werden wir. Die Frage, wie unsere Gewinnchancen tatsächlich stehen, tritt dagegen sehr stark zurück. Kurz: Wenn eine Chance im Raum steht, fliegt der Verstand aus dem Fenster. Die Geldgier kennt keine Vernunft.
Hormonüberschuss. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ beleuchtete kürzlich (19.04.2008) unser Thema unter dem speziellen Gesichtspunkt der Sexualhormone. Wissenschaftler der Universität Cambridge machten bei Finanzmarkthändlern folgenden Test: Die Händler mussten morgens und mittags Speichelproben abgeben und durften erst dann in den Handelssaal gehen. Man stellte fest, je höher der Hormonspiegel des männlichen Sexualhormons Testosteron am Morgen war, desto größer war der Gewinn, den ein Händler über Tag am Markt abkassierte. Was steckt dahinter?
Der Versuch zeigte: Je mehr Testosteron, desto höher die Risikobereitschaft und desto besser die Gewinne. Bei diesem Test ging es nicht in erster Linie darum, welcher Händler am meisten Testosteron-Hormone hat, sondern darum, bei welchem Händler der Hormonspiegel am Morgen im Vergleich zu seinem eigenen Durchschnittswert am stärksten nach oben hin ausschlug.
„Ich habe mich immer gefragt, warum unsere Händler mitunter so merkwürdige und irrationale Entscheidungen auf dem Handelsparkett getroffen haben“, äußert John Coates, Wissenschaftler an der Universität Cambridge. Er leitete vorher den Handelssaal der Deutschen Bank in New York. Coates, ein Neurowissenschaftler (Hirnforscher), erforscht, wie Sexualhormone das männliche Entscheidungsverhalten steuern, auch auf dem Handelsparkett. Seine Testpersonen sind Finanzmarkthändler mit extremer Eigenverantwortung. Sie müssen oft in Sekunden entscheidende Geldtransaktionen vornehmen. Sie werden ausschließlich nach ihrem persönlichen Erfolg bezahlt. Zu seinem Forschungsergebnis gehört auch die Erkenntnis: Erfolg lässt den Hormonspiegel des Testosterons weiter ansteigen. Dies führt zu höherer Risikofreude, beherzten Entscheidungen und damit zu weiteren Gewinnen. Vermutlich ist dies die Erklärung für das, was man „Gewinnsträhnen“ nennt.
Doch das ist nur die eine Seite. Es besteht die Gefahr, dass explodierende Gewinne und eine entsprechende Euphorie den Hormonspiegel so ansteigen lassen, dass Übermut folgt und keine durchdachten Entscheidungen mehr getroffen werden. Dies führt dazu, dass es an der Börse zu Übertreibungen und zum plötzlichen Absturz kommt. Wenn man nach einem ausgleichenden Element Ausschau hält, könnte man an Frauen denken. Das Verhalten der Finanzmärkte wird von Männern geprägt. In dem Handelssaal, bei dem Coates seine Experimente machte, gab es unter 260 Händlern nur vier Frauen. Frauen haben nur ein extrem niedriges Niveau des Sexualhormons Testosteron. Sie reagieren anders, aber sie fehlen in den Handelssälen und Finanzmärkten.
Globale Sicht. Gier und Wucher sind dabei, die Welt zu ruinieren. Wir spüren immer mehr, dass eine von Geldgier beherrschte Welt ökologisch und sozial zur Wüste wird. Die alte ethische Erkenntnis, dass Gier – eine Untugend – durch Erziehung, Übung und Vernunft in Zaum zu halten ist, „dass übertriebene Selbstliebe niemals die Triebfeder einer tugendhaften Haltung sein kann“, wurde über Bord geworfen. Man könnte das hässliche Schlagwort „Geiz ist geil“ auch umformulieren in „Geld ist geil, Gier ist geil“. Wenn die Geldgier zu einem globalen Konzert wird, führt das zu Armut, Ausbeutung, Kriegen, wachsenden sozialen Gegensätzen und zu einer zerstörten Erde. Der Würzburger Professor Dr. Karl-Heinz Brodbeck spricht von „inszenierten Sachzwängen“.
Prof. Brodbeck sagt, Sachzwänge seien Masken der Geldgier, denn sie werden von den Verantwortlichen inszeniert. Die Rede vom Sachzwang verdeckt schlicht die Geldgier jener, die ihn herstellen. Der Professor weist auf den hohen Preis hin, den jemand zu zahlen hat, wenn er den Finger in diese peinliche Wunde legt. Er erfährt den geballten Widerstand jener, die sich offenbar ertappt sehen. Wer Kritik am Markt, am Kapitalismus übt, wird als geisteskrank abgestempelt. Es ist eine verkehrte Welt: „Die offenbare Dummheit der Geldgier ... die brutale Rücksichtslosigkeit gegenüber den weltweiten Opfern – all dies heißt: ‚wirtschaftlicher Sachverstand’“(Brodbeck). Hinter dem angeblichen Sachzwang, der Kostenverringerung, Entlassungen, eine Zerschlagung von Unternehmen oder die Außerkraftsetzung von staatlichen Sozialsystemen erforderlich mache, verbirgt sich die zur globalen Unsitte aufgetürmte Leidenschaft einer schrankenlosen Gier. Es ist kein Gesetz der Wirtschaft, kein Schicksal, keine Naturmacht, nur ein Mangel an sittlicher Vernunft und Mitgefühl.
Die Gier im Griff. Jason Zweig gibt zunächst ganz praktische Ratschläge. „Bedenken Sie, dass Ihr Suchsystem gezielt auf die Aussicht eines großen Gewinns eingestellt ist – und dass diese Erregbarkeit Ihre Fähigkeit beeinträchtigen wird, eine realistische Wahrscheinlichkeit zu kalkulieren.“ Er rät zur Vorsicht vor billigen Sprüchen. Beim Telefon müsse man oft auflegen und E-Mails, die zum Einsatz auffordern, gelte es zu löschen. „Der Blitz schlägt nicht zweimal in denselben Baum.“ Wer einmal Glück hatte, wird nicht so schnell wieder Glück haben. Man muss sich Grenzen setzen und Selbstbeherrschung üben.
Das Neue Testament bezeichnet die Hab-Sucht als Götzendienst
(Eph 5,5; Kol 3,5). Sie ist kein moralisches Versagen in einem Randbereich, sondern eine widergöttliche Grundhaltung des Lebens, ein dämonischer Bann: „Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon“ (Mt 6,24). Ein Mensch, der rastlos hinter seinem Leben herläuft und immer mehr haben will, verbraucht damit sein ganzes Leben. Das Haben allein macht uns nicht glücklich und rettet uns nicht. Auf diesem Weg ist das Leben nicht zu gewinnen. Jesus sagt, es geht verloren. „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren“ (Mt 16,25). Die Illusion, sich das Leben selbst verschaffen zu können, verkennt die eigene Realität, ist Raubbau am Leben und endet im Tod. Die „Macher“ haben den inneren Zwang, alles dranzusetzen, den Zweifel an sich selbst durch Besitz und Position auszugleichen. Dabei geraten sie unter Konkurrenzdruck in die fürchterlichen Zugzwänge des Immer-mehr-kriegen-Wollens.
Spirituelle Hilfe. Die Tiefenpsychologie sagt, das Grundproblem des Menschen sei: Wie werde ich mit der Angst fertig? Die beste Lebensgarantie, so scheint es vielen, bietet der Besitz. Er soll die Angst bannen. Vorübergehend tut er das vielleicht. Aber im Letzten ist der Wettlauf gegen Motten und Rost nicht zu gewinnen. Die Bibel nennt als Wurzel des Immer-mehr-haben-Wollens die Angst. Sie spricht von der Heidenangst. Diese Haltung kann durch Appelle nicht überwunden werden. Diese erreichen nur den Kopf. Angst wird überwunden durch Vertrauen. Der Heidenangst kann man letztlich nur mit Gott-Vertrauen beikommen. Wer sich in der Hand Gottes geborgen und von ihr getragen weiß, wer Gott im Rücken hat, dem sitzt die Angst nicht mehr im Nacken. Wer sich von Gottes Treue getragen weiß, kann auch Menschen trauen. Aus Vertrauen auf Gott bin ich davon befreit, mein Leben selbst absichern zu müssen. Ich lebe aus Beziehungen zu Menschen und zu Gott und kann vieles loslassen. Dies verdeutlicht uns die Begegnung Jesu mit dem Zöllner Zachäus.
Der Glaube bewahrt uns davor, von den Dingen abhängig zu sein. Sie behalten ihr Gewicht, aber sie verlieren ihr Übergewicht. Sie sind nicht mehr alles.