Die vergessenen Bäume der Ewigen Stadt
Rom hat drei Wahrzeichen – das Kolosseum, die Engelsburg und die Peterskirche. Außer diesen und unzähligen anderen bedeutenden Monumenten gibt es welche, die in keinem Stadt- oder Reiseführer erwähnt werden.
Außer der Besichtigung der Peterskirche steht am selben Tag auch ein Spaziergang durch das verwinkeltste aller römischen Quartiere auf dem Programm. Also begibt sich die Reisegruppe vom Vatikan auf der Via della Lungara in Richtung Trastevere. Und natürlich hat die Reiseleiterin den Teilnehmenden schon beim Aufbruch versprochen, ihnen das am Ende der Straße gelegene Haus jener berühmten Fornarina, der kleinen Bäckerstochter, zu zeigen, welche Raffael als Modell gleich für mehrere Madonnendarstellungen diente. Leider macht sie keinen Halt an der nur wenige Schritte vorher nach rechts abzweigenden Via Corsini. Und so trottet die kleine Gesellschaft weiter, ohne den gigantischen Magnolienbaum, den größten in ganz Italien, auch nur eines Blickes zu würdigen.
DOMINIKUS UND GARIBALDI
Ebenso wenig Beachtung finden zahlreiche andere legendäre römische Bäume, für deren Besichtigung einen Tag ans Reiseprogramm anzuhängen sich durchaus lohnen würde. So verweisen die Mönche von Santa Sabina auf dem Aventin voller Stolz auf einen Orangenbaum im Kreuzgang ihres Klosters, den ihr Ordensgründer, der heilige Dominikus, im Jahr 1220 höchstpersönlich gepflanzt haben soll. In dessen längst verdorrtem Holz wurzelt seit einigen Jahrhunderten ein neuer Orangenbaum, der nach wie vor Früchte trägt. Wenige Jahre später weilte auch Franz von Assisi erstmals in der Ewigen Stadt, wo er in dem später nach ihm benannten Kloster San Francesco a Ripa in Trastevere zu Gast weilte. Dort soll auch er einen Orangenbaum gepflanzt haben, der inzwischen ebenfalls abgestorben ist, aber dank einem 1873 geretteten Schössling weiterlebt.
Von besonderem Interesse ist der inzwischen ebenfalls völlig dürre Mandelbaum in der Villa Glori an der Via Bernardo Celentano, der seine Berühmtheit dem Kampf zwischen den Befürwortern des Kirchenstaates und den von Garibaldi angeführten Aufständischen verdankt. Am 23. Oktober 1867 lieferte sich hier eine Gruppe von siebzig Revolutionären ein Feuergefecht mit päpstlichen Zuaven. Bei diesem Scharmützel kamen die Brüder Giovanni und Enrico Cairoli ums Leben. Daran erinnert heute eine Gedenktafel in unmittelbarer Nähe des besagten Mandelbaumes. Der wiederum verdankt seine Bekanntheit dem Umstand, dass die beiden aufständischen Brüder von den Revolutionären als Märtyrer gefeiert wurden und der Ort lange Zeit eine Wallfahrtsstätte für italienische Patrioten darstellte.
ZYPRESSEN UND PINIEN
Aber auch an anderen historischen Bäumen, die zu Rom gehören wie das Wasser zum Jordanfluss, gehen die von den Reiseagenturen eingeschleusten Weltenbummler und Globetrotterinnen achtlos vorüber. Nicht nur, dass sie den weltberühmten Meridian in der in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs Termini gelegenen Basilika Santa Maria degli Angeli einfach ignorieren! Auch die im Hof des anliegenden Museums von Michelangelo gepflanzten Zypressen sind ihnen allemal weniger wichtig als die Auslagen in den Läden der nahe gelegenen Via Nazionale.
Von all den Zehntausenden, welche Jahr für Jahr als Pilgerinnen oder Touristen nach Rom fahren, hat kaum jemand nach dem Verlassen der Peterskirche einen Blick übrig für die auf dem gegenüberliegenden Janikulushügel majestätisch sich erhebenden Pinien. Und von den ganz wenigen, die diese hochragenden Nadelbäume bewundern, erinnert sich fast niemand daran, dass der Komponist Ottorino Respighi diesen Pini di Roma 1924 eine wundervolle Komposition gewidmet hat, die noch heute weltweit die Gemüter bewegt.
DIE TASSO-EICHE
Wer immer im 18. und im 19. Jahrhundert nach Rom kam, pilgerte spätestens am zweiten Aufenthaltstag zu dem auf dem Gianicolo (Janikulushügel) gelegenen Kloster Sant’Onofrio, wo der Dichter Torquato Tasso (1544-1595) seine letzten, von Schwermut umdüsterten Lebensjahre verbrachte. Von dort aus suchte er häufig eine nahe Eiche auf, in deren Schatten er viele Stunden lesend und nachdenkend verbrachte. 1842 wurde der Baum von einem Blitzschlag getroffen; heute ist nur noch der dürre, unpoetische, von einem Metallgerüst gestützte Baumstrunk zu sehen. Angeblich soll Tasso unter dieser Eiche verstorben sein; begraben ist er in der nahe gelegenen Kirche Sant’Onofrio.
Die inzwischen längst vergessene österreichische Schriftstellerin Marie Freifrau Ebner von Eschenbach (1830-1916) begab sich schon wenige Tage nach ihrer Ankunft in Rom an diesen geheimnisumwitterten Ort: „Bei der Tassoeiche kann ich stehen und ihrem Gestöhn im Winde lauschen. Quercia del Tasso! Der Blitz hat sie getroffen und ihren Stamm zerspellt, der Sturm hat wild in ihrem Geäst gehaust, aber noch begrünt sich alljährlich ihr gelichteter Wipfel. Sie strotzte in Kraft, war jung und reich bekleidet, als der Poet sich todesmatt zu ihr herüberschleppte von Sant’Onofrio. Seine sterbenden Augen haben auf dem Bild der Stadt geruht, das vor uns liegt, und allein dieser Gedanke verleiht der traumhaften Schönheit des Anblicks eine wehmütige Verklärung.“