Die Vision auf dem Kapitel in Arles
Sicher ist, dass Antonius am Mattenkapitel vor Porziunkula teilgenommen hat, am Pfingstfest des Jahres 1221. Doch offen bleibt, ob er dabei Franziskus begegnet ist, denn es war eine Versammlung von immerhin dreitausend Brüdern. Dann gibt es jenen persönlichen, kurzen Brief des Franziskus „an den Bruder Antonius, meinen Bischof", worin er ihn ermächtigt, die Brüder des Ordens in Theologie zu unterrichten. Eine ganz andere Art der Begegnung dieser beiden Heiligen hat sich in der Stadt Arles zugetragen, in der Provence, im südöstlichen Teil Frankreichs. Wir begleiten den heiligen Antonius bei seinem apostolischen Wirken in Südfrankreich, vom Herbst des Jahres 1224 bis zum Ende des Jahres 1227. In Montpellier predigte er mit Eifer und Kompetenz gegen die Irrlehren der Albigenser. Zwar berichten die Chronisten einige Begebenheiten um Antonius, die sich in den etwa drei Jahren seines Aufenthaltes in Frankreich ereignet haben; sie liefern aber keine ausreichenden Hinweise dafür, wann genau und in welcher Reihenfolge sie sich zugetragen haben. Gut dokumentiert hingegen ist die Begebenheit von Arles, ohne freilich eine letztlich sichere Datierung zu gestatten.
Ein Augenzeuge. Unmittelbar nach der Heiligsprechung des Franziskus am 16. Juli 1228 beauftragt Papst Gregor IX. den Thomas von Celano, das Leben des Ordensvaters niederzuschreiben, anhand des für die Kanonisation bereits gesammelten Materials. Diese „Erste Lebensbeschreibung des heiligen Franziskus" wird von Papst Gregor IX. am 15. Februar 1229 gutgeheißen, bestätigt und für offiziell erklärt – noch zu Lebzeiten des heiligen Antonius.
In Kapitel 48 dieser ersten, knappen Franziskus-Biographie beschreibt Thomas von Celano, wie Franz von Assisi seine Brüder auf sehr dezente Weise oft geistlich gestärkt und getröstet hat: „Wenn es einer wegen der Reinheit und Einfalt des Geistes verdiente, erleuchtet zu werden, erhielt er die einzigartige Tröstung seiner Erscheinung auf eine Weise, dass die anderen nichts davon merkten." Und als Beispiel für solch tröstende und ermunternde Nähe schildert Thomas von Celano die Begebenheit von Arles, ohne freilich die Stadt selbst zu nennen.
Während Antonius predigt. „Unter anderem will ich nur ein Beispiel erzählen, das ich von zuverlässigen Zeugen erfahren habe. Bruder Johannes von Florenz war vom heiligen Franziskus zum Minister der Brüder in der Provence aufgestellt worden und hatte in derselben Provinz das Kapitel gefeiert." Dann wird der Bruder vorgestellt, der die oben angedeutete Erscheinung hatte: „Unter den Brüdern befand sich einer, ein Priester, von hohem Ruf, aber noch rühmlicherem Leben, Monald mit Namen, dessen Tugend auf der Demut begründet, von häufigem Gebet unterstützt, mit dem Schilde der Geduld geschützt wurde." Und schließlich kommt Thomas von Celano auf den heiligen Antonius zu sprechen. Dabei spart er nicht mit Lob über seine theologische Weisheit und seine Predigtkunst: „An diesem Kapitel nahm auch Bruder Antonius teil, dessen Sinn der Herr auftat, dass er die Schrift verstand und vor dem ganzen Volke Worte, süßer als Honig und Honigseim, über Jesus redete."
Die Erscheinung des Franziskus vor seinen Brüdern beim Kapitel in Arles erfolgt während einer Predigt des heiligen Antonius: „Während er [Antonius] vor den Brüdern mit höchster Glut und ganz hingegeben über das Wort predigte: Jesus von Nazaret, König der Juden, schaute Bruder Monald zum Eingang des Hauses, in dem die Brüder versammelt waren. Dort sah er mit leiblichen Augen den seligen Franziskus in der Luft schweben und, die Hände ausgespannt wie am Kreuz, die Brüder segnen." Es war also der oben vorgestellte Bruder Monald, der diese Erscheinung wahrgenommen hat. Die Auswirkung der Gegenwart des heiligen Ordensgründers war allerdings bei allen Anwesenden zu spüren: „Und allen sah man an, dass sie von der Tröstung des Heiligen Geistes erfüllt waren und die dabei empfundene selige Freude machte ihnen hinreichend glaubwürdig, was sie über die Erscheinung und Anwesenheit des glorreichen Vaters gehört hatten."
Kapitel der Brüder. In seinem um das Jahr 1252 entstandenen „Traktat über die Wunder des heiligen Franziskus" präzisiert der gleiche Autor Thomas von Celano, dass Bruder Monald den heiligen Franziskus „gekreuzigt" gesehen hat, also gezeichnet mit den Wundmalen Jesu: „Aufgezeichnet und durch glaubhaften Bericht bestätigt ist ferner, wie jener Bruder Monald, der durch seinen Lebenswandel, seinen Charakter und seine Strengheiten berühmt war, bei einer Predigt des seligen Antonius über die Aufschrift des Kreuzes mit seinen leiblichen Augen den seligen Franziskus gekreuzigt sah" (II 3). Die Stigmatisation des Franziskus ist in zeitlicher Nähe zum Fest Kreuzerhöhung am 14. September des Jahres 1224 erfolgt.
Der Name der Stadt Arles in der Provence taucht erst in der so genannten Legenda Maior (Großes Franziskusleben) des heiligen Bonaventura auf, verfasst zwischen 1260 und 1263, also drei Jahrzehnte nach dem Tod des heiligen Antonius. In Kapitel IV Absatz 10 der Legenda Maior schildert Bonaventura zunächst die allgemeine Fürsorge des Franziskus bezüglich der Kapitelsversammlungen der Brüder, bei denen „er zuweilen dank der Wunderkraft Gottes auch sichtbar den Brüdern erschien". Dazu bringt er ein konkretes Beispiel und nennt den Namen der Stadt Arles: „So predigte nämlich einmal der ausgezeichnete Prediger Antonius, den wir jetzt als berühmten Bekenner Christi verehren, auf dem Kapitel zu Arles für die Brüder über die Aufschrift des Kreuzes: Jesus von Nazaret, König der Juden."
Dem Evangelium getreu. „Als dabei auf Gottes Geheiß ein in der Tugend erprobter Bruder namens Monald zur Tür des Kapitelssaales schaute, sah er mit seinen leiblichen Augen, wie Franziskus in der Luft schwebend mit in Kreuzesform ausgebreiteten Händen die Brüder segnete. Da fühlten sich alle Brüder mit so großer und außergewöhnlicher Tröstung des Geistes erfüllt, dass der Geist ihnen Zeugnis über die wirkliche Gegenwart des heiligen Franziskus gab. Überdies haben das später nicht nur einsichtige Zeichen, sondern auch die Worte des heiligen Vaters selbst auch rein äußerlich bestätigt." Franziskus war sich also seiner Bilokation [gleichzeitige Anwesenheit an zwei verschiedenen Orten] bewusst und hatte Vertrauten gegenüber davon berichtet.
Welche Deutung sollen wir dieser außerordentlichen Erscheinung des heiligen Franziskus beim Kapitel seiner Brüder in Arles geben? Mehrere Quellen betonen, welche Herzensfreude seine Gegenwart bei ihnen ausgelöst hat. Und die Erscheinung erfolgt in einem Moment, da der heilige Antonius eine entflammende Predigt hält über die Kreuzesinschrift: Jesus von Nazaret, König der Juden.
Wir können sagen: Franziskus trug die Stigmata, die Wundmale des Gekreuzigten. Sie waren ein Ausweis seiner Christusförmigkeit und seiner Treue zum Christus des Evangeliums. Und nun besiegelt er durch seine Anwesenheit die ganz dem Evangelium gemäße Haltung des Antonius, der in seinem Wort und durch sein Leben das Mysterium der gekreuzigten Liebe in den Mittelpunkt gerückt hat. Darin war er, wie alle dort in Arles anwesenden Brüder, ganz innig mit dem Ordensvater Franziskus verbunden.