Die Wahrheit der Märchen
Märchen sind nicht nur etwas für Kinder. Mit ihrer Botschaft sprechen sie auch Erwachsene an.
„Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb…“ Viele Erwachsene werden sich daran erinnern, wie ihnen die Großmutter das Märchen vom Rotkäppchen erzählte und dabei gleichzeitig eine ernste Ermahnung mit auf den Lebensweg gab – dass nämlich die Dinge bei Weitem nicht immer ein so gutes Ende nähmen wie im Märchen, wenn sie die Weisungen der Eltern nicht beachten würden.
Das Rotkäppchen – eine pädagogische Fabel für Kinder? Vielleicht, aber doch nicht nur!
Die Moral des Märchens lautet ja nicht bloß: Hör nächstes Mal auf deine Mutter und geh nicht vom Weg ab!, sondern: Du wirst in deinem Leben immer wieder auf Wölfe treffen, und wenn es ihnen nicht gelingt, dich zu verschlingen, werden sie dich verfolgen. Dann musst du dich ihnen stellen (was am Schluss des Märchens, als der zweite Wolf auftaucht, deutlich zum Ausdruck kommt). Und das gilt auch oder vor allem für das Wölfische, das in dir selber steckt!
Wahrheit und Weisheit
In den Märchen verdichten sich uralte Einsichten der Völker. Auf narrative Weise bringen sie existenzielle Wahrheiten und Lebensweisheiten zur Sprache. Sie berichten von Ereignissen, die nie geschehen sind und sich doch täglich neu ereignen.
Märchen sind keine Lügengeschichten; sie sind komprimierte Wahrheit, verdichtete Lebenserfahrungen vieler Generationen. Da ist die Rede von Liebe, Hass, Treue und von Verrat, von Angst und Gottvertrauen, von bösen und guten Mächten. Wie im alltäglichen Leben setzen sich die darin geschilderten Gestalten mit diesen widerstreitenden Haltungen und den damit verbundenen Verstrickungen auseinander – bald mit gutem, bald mit schlimmem Ausgang. Märchen wird man erst dann voll gerecht, wenn man sie als erzählerischen Ausdruck des kollektiven Unbewussten betrachtet und interpretiert. In ihnen spiegeln sich innerseelische Vorgänge und psychologische Abläufe wider, die den Rahmen des rein Individuellen sprengen. Bekanntlich sind die von den Märchen verwendeten Bilder und Symbole Ausdruck unserer überaus komplexen Denkmechanismen und Handlungsmuster und damit ein wichtiger Code zu einem besseren Verständnis eigener Widerfahrnisse. Die auftretenden Menschen oder Tiere stehen häufig für gegensätzliche Tendenzen und Neigungen und die dadurch bedingte innere Zerrissenheit. Schön kommt das zum Ausdruck in dem Märchen von Jorinde und Joringel, die letztlich nur zwei Seiten einer einzigen Person versinnbildlichen.
Therapie durch Identifikation
Natürlich erzählen Märchen nicht nur von seelischen Befindlichkeiten und Konflikten, sondern veranschaulichen in verschlüsselter Form auch Entwicklungen – der Frosch verwandelt sich in einen Prinzen, Dornröschen wird aus dem Schlaf geweckt, in Aschenputtel keimt und wächst ein Selbstwertgefühl… Menschen, die mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind wie die Hauptgestalten eines Märchens, haben in der Regel keine Schwierigkeiten, sich mit diesen zu identifizieren und sich so selbst besser kennenzulernen.
Damit ist gleichzeitig gesagt, dass den Märchen oft auch eine therapeutische Funktion eignet. Beinhalten sie auch eine religiöse Dimension? Die Frage ist differenziert zu beantworten.
Biblische Bezüge
In zahlreichen Märchen finden sich Anklänge an die Bibel: Die Letzten sind schlussendlich die Ersten, der Ärmste wird zum Reichsten, der Dümmste erweist sich als der Klügste… Dieses Grundmuster erinnert an das Jesuswort von den Kleinen und Unmündigen, denen offenbart wird, was den „Weisen und Klugen verborgen bleibt“ (Mt 11,25), oder an das Magnificat, wo Gott dafür gepriesen wird, dass er die Mächtigen vom Thron stößt und die Niedrigen erhöht (Lk 1,48-53).
Das bedeutet nicht, dass die Märchen bewusst biblische Themen aufgreifen; eher schon scheint es angebracht, von allgemeinmenschlichen Hoffnungserwartungen zu sprechen. Wo Märchen Gott, Engel und Apostel, aber auch Teufel und Dämonen bemühen, handelt es sich zumeist um „christliche“ Übermalungen, insofern diese himmlischen Gestalten und höllischen Geister problemlos durch beliebige andere Wesen ersetzt werden können, die ebenfalls über besondere Kräfte verfügen (Feen, Elfen, Weise, Alte, Kobolde, Erdmännchen …). Daneben gibt es Märchen, die tatsächlich auf einer biblischen Vor- oder Grundlage beruhen wie etwa Des Herrn und des Teufels Getier, wo der Teufel als Unheilstifter auftritt, um Unkraut unter den Weizen zu säen (vgl. Mt 13,24-30).
Ohne Wahrheitsanspruch
Dass bei einer (im weiten Sinn) theologischen Deutung von Märchen Zurückhaltung geboten ist, liegt daran, dass religiöse Überzeugungen oft mit einem gewissen Absolutheitsanspruch verbunden sind. Dieser seinerseits hängt mit dem Wahrheitsmonopol zusammen, das die meisten Religionen mehr oder weniger ausdrücklich für sich reklamieren. Wer in den Märchen nach religiösen Spurelementen sucht, sollte auf keinen Fall vergessen, dass Märchen nichts beweisen wollen (beispielsweise, dass die Welt schlecht sei oder dass der Stärkere letztendlich als der Unterlegene dastehe…). Wohl aber können sie Wege weisen zu einem besseren Verständnis der eigenen Person, zur Bewusstmachung innerseelischer Vorgänge oder zur Aufarbeitung unserer verdrängten Schattenseiten.
Nicht selten ermöglichen sie unverhoffte und ungewohnte Perspektiven bezüglich unserer Lebenswirklichkeit. Erinnert sei etwa an die Geschichte von Hans im Glück, der nach sieben Jahren Dienst von seinem Meister mit einem Goldklumpen ausbezahlt wird. Der wird ihm zu schwer, also tauscht er ihn der Reihe nach für einen Gaul, für eine Kuh, für ein Schwein, für eine Gans und diese für einen Schleifstein, der versehentlich in einen Brunnen fällt, sodass Hans am Ende gar nichts mehr besitzt. In seiner 1968 erschienenen, nach wie vor bedeutenden Einführung ins Christentum vergleicht Joseph Ratzinger dieses Tauschgeschäft mit dem fortschreitenden Glaubensverlust.
Vordergründig erscheint Hans tatsächlich als Minus-Tauscher. Dagegen aber spricht nicht nur der Titel – Hans im Glück –, sondern auch der Schluss der Geschichte: „Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.“ Da übt sich einer in der Kunst des Loslassens. Das erinnert an Buddha, der dem väterlichen Palast den Rücken kehrt, um ein Leben in Bedürfnislosigkeit zu verbringen, oder an den kleinen Kaufmannssohn aus Assisi, der auf jeglichen Besitz verzichtet. Beide wollen nichts haben und deswegen gehört ihnen die ganze Welt!
Was Erwachsene aus Märchen lernen können, zeigt der Verfasser dieses Beitrags in seinem Buch Vom fröhlichen Hans und dem heiligen Franz. Die Weisheit der Märchen und die Bibel, Theologischer Verlag Zürich 2021.