Doctor Marianus
„Bleib stehn und schau!“ mahnte die Inschrift am Grabe von Johannes Duns Scotus, der vor 700 Jahren verstarb. Dem großen Schotten eilte stets der Ruf als doctor subtilis, scharfsinniger Denker, voraus. Maria, frei vom Makel der Erbschuld, wird ein Hauptgegenstand seiner Lehre.
In der Abenddämmerung des 8. November im Jahre 1308 bewegte sich ein langer Trauerzug der Minderbrüder in grauschwarzen Habiten vom Kloster aus zur Ordenskirche mitten im Herzen Kölns. Auf einer einfachen Bahre, eingehüllt in einen dunklen Wollstoff, die Kapuze über den Kopf gezogen, trugen sie den Leichnam des in der vergangenen Nacht plötzlich verstorbenen Magisters der Philosophie und Theologie Johannes Duns Scotus. Die Totenglocke der Kirche läutete unentwegt, und immer mehr Volk strömte zusammen. Die Nachricht, der große Schotte sei gestorben, hatte sich in Windeseile in der Stadt ausgebreitet.
Makellose Mutter. Da war keiner, der nicht wusste, wer dieser Bruder Johannes Duns war. Hatte er doch ein Jahr lang in feurigen Predigten Sonntag für Sonntag in der voll besetzten Kirche begeistert das Lob der Gottesmutter verkündet.
Bei seinen Vorlesungen in den Hörsälen der theologischen Fakultät im angrenzenden Minoritenkloster hatte er vor Studenten und Klerikern aller Art in wissenschaftlicher Sprache eine seiner Hauptlehren dargelegt: Im Hinblick auf die Würde Christi sei es unbedingt notwendig, dass seine Mutter von keinem Makel der Erbsünde berührt worden ist. Nicht alle stimmten dieser neuen Lehre bei, aber das einfache gläubige Volk hatte erkannt, dass es der Würde Christi keineswegs abträglich sei, in seiner Mutter die Makellose, die Immaculata, zu erkennen. Fünfeinhalb Jahrhunderte später gab die Kirche dem Schotten Recht, und Papst Pius IX. verkündete in seinem Apostolischen Schreiben „Ineffabilis Deus" am 8. Dezember 1854: „Die Lehre, dass die seligste Jungfrau Maria von jedem Schaden der Erbsünde unversehrt bewahrt wurde, ist von Gott geoffenbart und darum von allen Gläubigen fest und beständig zu glauben."
Tod eines Lehrers. So wurde also der tote Johannes Duns in die Kirche getragen und von den Mitbrüdern auf die übliche Art unter dem Fußboden der Kirche vor dem Eingang zur Sakristei vor dem Altar der Heiligen Drei Könige in einem einfachen Erdgrab bestattet. Das Begräbnis des gefeierten Lehrers war ein großes Ereignis für den Kölner Konvent und die Stadt. Eindrucksvoll betont die erste Inschrift an seinem Grab: Bleib stehn und schau. Vor deinen Augen verbirgt / ein gewaltiger Stein den Lehrer, / über dessen Tod selbst die / Heilige Weisheit weint.
Wahrscheinlich schon vor dem Jahre 1320 (nicht erst 1387 oder 1393) sorgten die Minderbrüder als Hüter der sterblichen Hülle des Meisters für eine würdigere Begräbnisstätte. Sie brachten seine Gebeine von dem armseligen Grab vor dem Dreikönigen-Altar an den bevorzugten Platz im Chor beim Hochaltar der Kirche „sub nola" (unter dem Glöckchen). Die Stelle lässt sich heute noch ziemlich genau durch das kleine Türmchen, den Dachreiter, angeben. Die Gebeine wurden in einen viereckigen Steinsarg gelegt, mit einer größeren Steinplatte bedeckt und in den Fußboden der Kirche gesenkt. Eine Steinplatte im Fußboden wies auf die Grabstätte hin.
Priesterliche Karriere. Wer war nun dieser Minderbruder, dessen Begräbnis so großes Aufsehen hervorrief? Geboren wurde er im Jahre 1265 in Duns in Schottland, vierzig Jahre nach dem Tod des heiligen Franziskus von Assisi. Johannes ist sein Taufname, Duns der Familienname nach seinem Herkunftsort, und Scotus, der Schotte, wird er nach seiner Heimat Schottland genannt. Noch zu Lebzeiten des heiligen Franziskus waren Mitbrüder, die schon 1221 nach Köln kamen, bis nach Schottland gelangt und hatten dort einige Klöster gegründet.
Wenige Jahre nach Gründung der ersten Niederlassung wurde Johannes Duns in die Elementarschule von Haddington aufgenommen. Nach Abschluss der Schule trat er in den Minoritenorden ein und wurde am 17. März 1291 in England zum Priester geweiht. Bis zum Jahre 1300 war er Professor für Philosophie und Theologie an den Universitäten Oxford und Cambridge, lehrte dann am Generalstudium des Ordens in Paris und wurde 1307 nach Köln berufen. Vor allem während seiner Lehrtätigkeit in Paris zeigte Johannes Duns seine Grundsatztreue und seine Frömmigkeit. Im Konflikt mit dem französischen König Philipp IV., dem Schönen, schlug er sich bedenkenlos auf die Seite des Papstes. So wurde er zum politischen Flüchtling. Dem Ordensgeneral wird es gerade recht gewesen sein, als die Kölner nach dem gefeierten Magister riefen. Schon damals hatte er den Beinamen „doctor subtilis", der scharfsinnige Denker.
Schnurstracks nach Köln. Auf einen Ruf des Erzbischofs kam Duns Scotus im Jahre 1307 nach Köln. „Um das Jahr 1303", so lesen wir in der Alten Kölner Chronik, „waren boshafte neue falsche Apostel auch in die weltberühmte Stadt Köln eingeschlichen. Daher hat der Kölner Erzbischof Heinrich II. versucht, die Wirkung ihrer Lehre durch die katholische Gegenlehre hochgelehrter Männer zu dämpfen. Er schrieb deshalb an Pater Gondisalvo, den General des Minoritenordens, und bat ihn, den vortrefflichen Dr. Scotus nach Köln zu entsenden." Beim Abschied von Paris zeigt sich dessen Frömmigkeit in einer kleinen, aber bedeutsamen Episode. Die Anordnung des Ordensgenerals, nach Köln zu gehen, erhält Johannes Duns auf einem Spaziergang mit Studenten. Er fragt nach der Himmelsrichtung, in der Köln liegt, und marschiert los. Die Studenten wollen ihn zum Kloster begleiten. Er aber sagt, der Pater General hat mich nach Köln geschickt, nicht ins Kloster, und marschiert unbeirrt weiter.
Hier in Köln erlebt er in seinem letzten Lebensjahr vor allem als „doctor marianus" (Mariengelehrter) ein Jahr größter Wertschätzung durch den Klerus der Stadt und durch das gläubige Volk. Knapp 43-jährig stirbt Duns Scotus in Köln am 8. November 1308.