Du – lichtvoll über allem

30. Januar 2023 | von

Nachdem zwei Jahrgänge des Sendboten an dieser Stelle die früheste Bildbiografie des Poverello betrachtet haben, widmet sich die Rubrik im neuen Jahr persönlichen Gebeten des Heiligen. Ein erster Blick gilt der Zeit, die den jungen Kaufmann religiös erwachen ließ.

Ich habe gelebt, als ob es Christus nicht gäbe“, so übersetzte der Mittelalterforscher Raoul Manselli die ersten Worte im persönlichem Lebensrückblick des Franziskus (FQ 59). Das Urteil betrifft die Zeit vor der tiefen Lebenskrise, die ein Städtekrieg, Kerkerhaft in Perugia und eine schwere Krankheit provoziert hatten.

Gottesdienst ohne Gotteserfahrung

Die Feststellung des 44-jährigen kurz vor seinem Tod meint nicht, dass seine erste Lebenshälfte kirchenfern verlief. Chorherr Giovanni di Sasso lehrte die Söhne Reicher in der Schule von San Giorgio mit dem Psalmenbuch Latein. An Sonn- und Festtagen gingen Pietro di Bernardone und Giovanna „Pica“ mit den Kindern fraglos zur Messe in einem der fünf Mönchsklöster Assisis, der Pfarrkirche Santo Stefano, der Marktkirche San Niccolò, der Bischofskirche Santa Maria Maggiore oder des Domes San Rufino. Doch bedeutet Gottesdienst noch nicht Gotteserfahrung und Kult noch nicht Gottesbeziehung. Franziskus stellt in der Rückschau fest, dass Religion kaum Einfluss auf sein junges Leben hatte. Arbeit, Freizeit, Beziehungen und Lebensträume kamen ohne inneren Blick zum Himmel aus, ohne Weg in die Tiefe der eigenen Seele und ohne Inspiration aus dem Evangelium. Heute würde Jürgen Habermas den jungen Franziskus als „religiös unmusikalisch“ bezeichnen.

Ein Lichtkind im Dunkel

Franziskus wuchs auf der Sonnenseite des Lebens auf: Er war Sohn einer führenden Bürgerfamilie und trat 14-jährig in die einflussreichste Zunft der Stadt ein. Er erlebte kurz darauf den Befreiungsschlag gegen die staufische Fremdherrschaft. Der junge Kaufmann dürfte den Sturm auf die deutsche Burg und die Vertreibung des Grafen Konrad von Urslingen mitgefeiert haben. In der folgenden kommunalen Revolution erkämpften die Bürger ihre politische Gleichberechtigung mit dem lokalen Adel. Aufbruch lag in der Luft. Die Stadt nahm ihr Schicksal selbst in die Hand, bestimmte ihr Geschick demokratisch und war entschlossen, die städtische Freiheit gegen Feinde, fremde Herren und den päpstlichen Legaten zu verteidigen. Franziskus dürfte in der boomenden Kleinstadt als Modeexperte umschwärmt gewesen sein. Als Anführer einer Tänzergemeinschaft wurde er wiederholt zum Festkönig gewählt. Von maßlosem Ehrgeiz getrieben, träumte er davon, als Herr eines adeligen Palazzo über mehrere Ritter zu gebieten. Um in die soziale Elite der Stadt aufzusteigen, musste er sich im Kampf auszeichnen. Dazu bot der Konflikt mit der großen Rivalin Perugia dem Zwanzigjährigen Gelegenheit. Das Gemetzel bei Collestrada am Tiber wurde im Herbst 1202 zum Debakel. Franziskus überlebte den Kampf, wurde in Kriegsgefangenschaft verschleppt und verbrachte ein Horrorjahr in den Kerkern der Feinde. Als Assisi nach dem Friedensvertrag vom November 1203 den vertriebenen Adel wieder aufnahm und ihm die alten Vorrechte zurückgab, kehrten die Gefangenen zurück: Franziskus tat es schwerkrank und seelisch erschüttert.

Verlorener Lebenssinn

Als der Kaufmannssohn sich nach langen Monaten aufrappelte und an einem Stock auf die Piazza zurückkehrte, erschrak er. Sein Biograf Thomas von Celano berichtet, dass sich das lebensfrohe Assisi dem Rückkehrer farblos zeigte (FQ 201–202). War es eine tiefe Apathie oder Depression, die den physisch kaum Genesenen quälte? Ob posttraumatische Belastung oder totaler Sinnverlust: Das Erschrecken des jungen Mannes deutet auf eine schwere Krise hin, die den Erschütterungen durch Krieg, Kerker und Krankheit folgte. Es dauerte Monate, bis sich der Traumatisierte seinen Erfahrungen stellen konnte. Kaum wieder zu Kräften gelangt, stürzte er sich zunächst in ein neues Abenteuer. Er ließ die Stadt, in der sein Kaufmannsleben freudlos geworden war, hinter sich und versuchte erneut, sein Ritterideal zu verwirklichen. Im Heer des Feldherrn Gualtier de Brienne-le-Château, der in Italiens Süden mit dem Segen des Papstes kämpfte, hoffte er, zu Ruhm zu kommen. Bereits nach einer Tagesetappe erkannte der Berittene, dass er vor sich selber floh – und dass ihn nur einer groß machen würde: der wahre Herr, dem selbst Papst, Kaiser und Feldherren nichts weiter als Knechte waren (FQ 580).

Suchbewegung vor der Stadt

Zurück in Assisi suchte oder fand er in keinem der zwölf kirchlichen Zentren Rat. Die Gefährten und der erste Biograf berichten von Schlüsselerfahrungen außerhalb der Stadt, die den Kaufmann schrittweise aus der Sinnkrise führen. Es zieht den Suchenden in die Ebene unterhalb Assisis. Auch heute kann es guttun, von Zeit zu Zeit aus guter Distanz auf den Alltag zu schauen: Was geschieht im täglichen Leben? Wie geht es mir dabei? Was erfüllt und was belastet mich? Wofür bin ich dankbar und was macht mich unruhig? Franziskus stößt am Fuße der Stadt auf eine halbdunkle Krypta, die ihn fortan magisch anzieht. Die Dreigefährten sprechen von einer „verlassenen Krypta in der Nähe der Stadt“ (FQ 618-619, fälschlich mit „Grotte“ übersetzt!): Das trifft einzig auf das damals verlassene Priorat San Masseo zu. Der Raum bildete gleichsam äußerlich ab, was Franziskus innerlich erlebte. Ins Dunkel fiel ein Lichtstrahl, den das schmale Apsisfenster einließ. Dunkle Erfahrungen aus Krieg, Kerker und Krankheit sehnten sich in Franziskus nach Licht. Der stille Ort mit seinem Lichtspiel in der Schattenwelt ließ den Suchenden zu sich selber finden, die eigene Sehnsucht wahrnehmen und sie in Worte fassen: Altissimo, glorioso Dio, illumina le tenebre de lo core mio – „Höchster, Lichtvoller, erleuchte du die Finsternis meines Herzens!“ (FQ 13). Wo kein Mensch weiterhalf, wandte er sich an den „Höchsten“, den Herrn der Herren und das Licht der Welt!

Drei Schlüsselerfahrungen

Wiederholtes Verweilen in San Masseo ließ Franziskus seine Sehnsucht in Worte fassen und an einen noch fernen Gott richten. Der heute wieder von Mönchen bewohnte Ort steht im Zeichen der Selbstsorge. In der Verlängerung der Via Petrosa, an der San Masseo liegt, fand sich weiter draußen in der Ebene das Aussätzigenhospiz San Lazzaro in Arce. Hier erfolgte der zweite Durchbruch: Begegnungen mit Leprosen weckten im Kaufmann eine Liebe, die er bisher nicht kannte. Feierte er in Assisi noch immer mit ausgewählten Freunden Feste, waren es nun Menschen im Elend (miseri), die sein Herz (cor) weckten. San Lazzaro wurde zum Ort der Nächstenliebe. Lichtstunden in der sozialen Schattenwelt öffneten den Suchenden für eine mystische Erfahrung in einer kirchlichen Schattenwelt draußen vor der Stadt. Im Kirchlein San Damiano überraschte Franziskus ein Ikonenkreuz. Die Kapelle war desolat, halb so groß wie heute, und das Kreuz stand in der Apsis über dem Altar. Der Eintretende trat hier vor ein überraschendes Christusbild: Ganz menschlich und halb nackt zeigte der Gottessohn sich auf Augenhöhe, gekreuzigt und auferstanden, ohne Dornenkrone, mit offenen Augen, einem offenen Ohr, weit offenen Armen und offenem Herzen.

Das Gebet der Suche findet erste Erfüllung

Der Kaufmann entdeckte die menschliche Nähe Gottes. Das „Gebet vor dem Kreuz von San Damiano“ entstand nicht da, sondern fand hier nach langen Monaten der Sinnsuche seine erste Erfüllung: Erleuchtung, Glaube, der weiterführt, Hoffnung, die durch alles trägt, Liebe, die sich jedem Menschen zuwendet. Im Gebet spiegeln sich biblische Quellen, die den Suchenden wohl in Assisis Gottesdiensten berührten. Ein Vers des Benedictus dürfte ihm aus tiefster Seele gesprochen haben: Lass „Licht aufstrahlen aus der Höhe und allen leuchten, die im Finstern sitzen“ (Lk 1). In Krieg, Kerker und Krankheit mit der Vergänglichkeit menschlichen Lebens konfrontiert, bewegte ihn auch das paulinische Hohelied: „Alles ist vergänglich! Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei“(1 Kor 13).

O alto e glorioso Dio,                                       Du, lichtvoll über allem!

illumina le tenebre de lo core mio                 Erleuchte alles Dunkle in meinem Herzen

et damme fede diritta                                     und schenke mir einen Glauben, der weiterführt,

speranza certa                                                  eine Hoffnung, die durch alles trägt,

e caritade perfetta,                                         und eine Liebe, die auf jeden Menschen zugeht!

senno et cognoscimento, Signore,                Lass mich spüren und erkennen, Herr,

che io faccia lo tuo santo                                welches dein Auftrag an mich ist

e verace commandamento!                           und wie ich ihn wahrhaft ausführe!

Amen!                                                                 Amen!

Zuletzt aktualisiert: 30. Januar 2023
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