Ein ungewöhnlicher Junge
In der heiligen Familie herrschte auch nicht immer eitel Sonnenschein. Einmal bereitete Jesus seinen Eltern große Sorgen. Ein Junge beobachtete die Szene.
Nur selten kommt es vor, dass ein Kind alleine im Tempel ist. Schon deshalb fiel der Junge mir gleich auf. Er war etwas älter als ich, vielleicht zwölf Jahre alt. Ich selber bin fast täglich hier. Mein Vater arbeitet in diesem Bezirk. Er ist ein Geldwechsler. Wenn die Leute die Tempelsteuer bezahlen wollen, kommen sie zu ihm und tauschen ihr Geld gegen die Münzen, welche für die Tempelsteuer gültig sind. Er ist aber nicht der einzige Geldwechsler. Deshalb komme ich häufig mit und mache etwas Werbung für meinen Vater. Ich spreche die Wallfahrer an, ob sie wechseln wollen. „Ich zeige Ihnen, wo Sie tauschen können!“, sage ich und führe sie dann zu Vater. Das ist meine Aufgabe.
Erst dachte ich, ich frage den Jungen mal, ob er mit mir spielen will, aber dann traute ich mich nicht. Ich sah ihn nämlich nie spielen. Stattdessen saß er immer bei den Lehrern. Das wäre mir ja zu langweilig! Er aber machte einen sehr interessierten Eindruck. Ich hörte auch, dass er ihnen Fragen stellte. Zwar habe ich keine Ahnung, ob dies dumme oder kluge Fragen waren, aber die Lehrer antworteten immer sehr ernsthaft. Das war schon etwas Besonderes, denn die meisten Erwachsenen nehmen uns Kinder nicht für voll.
Der Junge sprach mit den Lehrern über Gott. Leider kann ich nicht mehr sagen, über was genau sie redeten. Ich kam ja bei meiner Suche nach Kunden für meinen Vater immer nur kurz an der Gruppe vorbei und hörte nur Bruchstücke. Außerdem war das alles viel zu hoch für mich. Aber es schien mir, als rede der Junge gar nicht furchtsam über Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, sondern geradezu mit einer zärtlichen Stimme. So sprechen die Erwachsenen, die ich kenne, eigentlich nie über Gott.
Übrigens war ich nicht der einzige, der sich über den Jungen wunderte. Auch viele Erwachsene blieben stehen und lauschten den Gesprächen. „Hört euch bloß an, wie er redet!“, sagten sie. Manche meinten das lästerlich, andere staunend. Selbst mein Vater sagte, so etwas habe er noch nie erlebt. Und der arbeitet schon lange im Tempel.
So ging es etwa drei Tage lang. Dann hörte ich auf einmal ein lautes „Jesus, hier steckst du also!“ und lief gleich hinüber, um alles mitzubekommen. Dort standen ein Mann und eine Frau bei dem Jungen. Das waren wohl seine Eltern. Ob sie nun schimpfen würden? Aber die beiden sahen erst mal sehr erleichtert aus. Wahrscheinlich hatten sie ihn längere Zeit gesucht und sich furchtbar viele Sorgen gemacht. Da sagte die Mutter: „Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht.“ Ich wollte lieber nicht in seiner Haut stecken. Mein Vater würde garantiert einen ganz schönen Ärger machen.
Doch ich wunderte mich erneut über den Jungen. Er schaute den Eltern nämlich ganz furchtlos und offen ins Gesicht und sagte: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ Was meinte er denn damit? Der Tempel ist doch das Haus Gottes, er gehört Gott selber! Auch seine Eltern guckten eher ratlos drein. Eine weitere Diskussion gab es jedoch nicht, sondern der Junge ging ohne Weiteres mit ihnen weg. Ich nehme an, nach Hause.
Das ist jetzt drei Wochen her. Der Junge geht mir nicht aus dem Sinn. Er fragte so viel und redete so interessant. Er schien etwas über Gott zu wissen, was mir noch niemand gesagt hatte. Und er war ganz ohne Furcht. Wie wird es mit seinem Leben weitergehen? Ob wir von ihm noch etwas hören werden, wenn er älter ist?
Nach Lukas 2, 41-51