Eine kontroverse Reliquie

27. März 2015 | von

Das schöne Turin im nördlichen Piemont bewahrt seit Jahrhunderten eine bedeutende katholische Reliquie: das Grabtuch Jesu. Legenden und kontrovers diskutierte Forschungsergebnisse begleiten seine Geschichte. Millionen Katholiken werden dieses Jahr nach Turin pilgern, um das Tuch zu sehen. Auch Papst Franziskus wird am 21. Juni dieses Jahres die Stadt besuchen.



Das Turiner Grabtuch, Gegenstand vieler wissenschaftlicher Forschungen und heißer Diskussionen, ist 4,36 Meter lang und 1,10 Meter breit und aus gewebtem Leinen. Es zeigt das diffuse Bildnis eines bärtigen Mannes mit Wunden, die den Kreuzigungswunden Jesu entsprechen, wie sie die Bibel beschreibt. Für viele Gläubige aus den unterschiedlichsten christlichen Traditionen ist dieses antike Tuch das Leichentuch Jesu, in das sein lebloser Leib eingewickelt war und auf dem sich am Tag der Auferstehung die Zeichen seiner Passion eingebrannt haben. Für Skeptiker handelt es sich um eine sehr gut gemachte Fälschung aus dem Mittelalter. Bis heute hat jedoch niemand herausgefunden, mit welcher Technik dieses außergewöhnliche Bild erzeugt werden konnte, das auf Schwarz-Weiß-Negativen besser zu erkennen ist als mit bloßem Auge auf dem sepiafarbenen Original.



Ikone des Leidens

Die früheste historische Erwähnung dieses Grabtuches geht auf das späte 14. Jahrhundert zurück. Andererseits sind aus noch früherer Zeit viele Legenden überliefert, und es existieren weitere Reliquien, die angeblich Teil des Leichentuchs Jesu sein sollen. Sicher ist, dass es im Jahr 1453 in das Königshaus Savoyen gelangte, wo es in der Schlosskapelle von Chambéry aufbewahrt und 1532 durch einen Brand erheblich beschädigt wurde. Das durch die Hitze geschmolzene Silber des Schreins hatte symmetrische Brandmale auf dem gefalteten Tuch hinterlassen, die daraufhin von Ordensschwestern ausgebessert wurden.

Im Jahr 1578 kam das Grabtuch nach Turin, wo man es weiteren Restaurierungen unterzog. Heute befindet es sich in einem kugelsicheren, klimakontrollierten Behälter in der Kathedrale von Turin. Dort wird es vom 19. April bis 24. Juni 2015 öffentlich ausgestellt. Zu den mehreren Millionen Besuchern, die erwartet werden, soll auch Papst Franziskus zählen. Schon im November 2014 kündigte er an, die Stadt am 21. Juni anlässlich des 200. Geburtstages des heiligen Johannes Don Bosco, dem Gründer der Salesianer und Held der armen Straßenkinder, zu besuchen.

Das wird allerdings nicht die erste „Begegnung“ des argentinischen Papstes mit dem mystischen Bildnis sein, das von seinem Vorgänger, Papst Benedikt XVI., als „Ikone des Karsamstags“ und vom heiligen Papst Paul II. als „Spiegel des Evangeliums“ beschrieben wurde. Nur zehn Tage nach seiner Wahl im Mai 2013 sendete Papst Franziskus anlässlich der ersten TV-Ausstrahlung zum Grabtuch nach 45 Jahrzehnten eine Video-Nachricht. Über die geschlossenen Augen des Antlitzes, das auf dem Tuch abgebildet ist, sagte der Papst, dass es aussähe, als ob der Mann uns ansehen und in der Stille zu uns sprechen würde. Der Mann auf dem Grabtuch, so der Papst, „lädt uns dazu ein, über Jesus von Nazareth nachzudenken und unsere Herzen dazu, den Hügel Golgota zu besteigen, auf das Holz des Kreuzes zu schauen und in die sprechende Stille der Liebe einzutauchen.“

Aber außer dieser Erinnerung an Jesu Leiden und Tod für unsere Erlösung hat der Papst auch die Gedanken seines polnischen Vorgängers aufgegriffen, der das Grabtuch als eine Ikone des Leidens in unserer heutigen Welt beschreibt. Auch wenn wir wohl nie die wahre Identität des Mannes auf dem Tuch feststellen werden, so Papst Franziskus, das entstellte Gesicht auf dem Tuch vereine „auch alle die Gesichter der Männer und Frauen in sich […], die von einem Leben gezeichnet sind, in dem ihnen kein Respekt entgegengebracht wird, ein Leben mit Krieg und Gewalt, unter der die Schwächsten zu leiden haben“.



Gesichtszüge im Negativ

Diese Doppelnatur, menschlich und göttlich zugleich, die der Mann auf dem Grabtuch verkörpert, erklärt, warum dieses antike Grabtuch ein so großes Interesse hervorruft, sowohl bei Wissenschaftlern als auch bei Gläubigen auf der ganzen Welt. Die genauen anatomischen Formen des Bildes kamen erst mit der Entwicklung der Fotografie Ende des 19. Jahrhunderts zum Vorschein. Ein italienischer Anwalt und Hobbyfotograf, Secondo Pia, war der Erste, dem es gestattet wurde, das Grabtuch während der Festlichkeiten zum 400. Geburtstag der Kathedrale im Mai 1898 zu fotografieren. Die Aufnahmen der schwachen Einfärbungen auf dem Tuch entwickelte er dann in einer Dunkelkammer. Als er sah, wie das Negativ langsam Form annahm, fielen ihm die Kupferplatten aus der Hand: Auf einmal zeichneten sich die Gesichtszüge, der Torso und die Gliedmaßen eines Mannes ab, wie sie auf dem Original kaum zu erkennen waren. Diese Entdeckung blieb zunächst verkannt, man beschuldigte den Fotografen, die Bilder gefälscht oder vertauscht zu haben.  Erst 1931 durfte ein professioneller Fotograf, Giuseppe Enrie, wieder einige Fotos machen, die die Arbeit von Secondo Pia drei Jahrzehnte zuvor bestätigten. Dadurch wuchs das Interesse am Grabtuch, und im Jahr 1958 genehmigte Papst Pius XII. die Verehrung und erklärte den Dienstag vor Aschermittwoch, also den  Faschingsdienstag, zum Fest des Heiligsten Antlitzes Jesu.

1978 führte ein Team amerikanischer Wissenschaftler eine detaillierte Untersuchung des Materials durch. Aber auch ihnen war es nicht möglich, sicher nachzuweisen, wie dieses Bild entstanden sein könnte. Zehn Jahre später, im Jahr 1988, wurde jeweils ein kleines Stück des Stoffes an die Oxford University in England, die University of Arizona in den Vereinigten Staaten und die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich) ausgehändigt. Jede der drei Forschungseinrichtungen nutzte die neuesten Radio-Karbon-Technologien und alle drei kamen zu dem Ergebnis, dass der Stoff aus dem Mittelalter stammt; die Zeitspanne wurde auf zwischen 1260 und 1390 eingegrenzt. Jedoch zweifeln einige Experten dies nach wie vor an. Sie glauben, dass der Stoff durch Bakterien kontaminiert worden sein könnte.



Spiegel des Evangeliums

Nach Angaben des Wissenschaftlichen Direktors des Museums des Grabtuches ginge es den Besuchern ohnehin nicht darum, ob sich das Grabtuch wissenschaftlich einwandfrei datieren lässt. Professor Gian Maria Zaccone kritisiert, dass die Suche nach Beweisen zu seiner Authentizität die spirituelle Anziehungskraft des Grabtuches etwas überschattet. Er hebt die Worte Papst Pauls VI. zu der vom Fernsehen übertragenen Ausstellung des Tuches im Jahr 1973 hervor, der über dessen Wert für die Kirche gesprochen hat, welcher über jeden wissenschaftlichen Beweis erhaben ist. 

Während seines Besuchs in Turin im Jahr 1998 betonte Papst Johannes Paul II. die Verbindung zwischen Wissenschaft und Glauben: „Die Kirche hat kein ausreichendes Fachwissen“, um sich in wissenschaftlichen Fragen zu äußern, „schenkt aber den Wissenschaftlern ihr vollstes Vertrauen, die weiterhin das Geheimnis des Heiligen Leinentuchs erforschen.“ Für die Gläubigen, so der polnische Papst, „ist das, worauf es ankommt, die Tatsache, dass das Leinentuch ein Spiegel des Evangeliums ist“ und ein „Bild menschlichen Leidens“. 

Professor Zaccone bestätigt, dass genau diese zwei Gesichtspunkte der Schlüssel sind, um zu verstehen, warum das Grabtuch „eine Brücke zwischen den Menschen und Christus ist, da es uns hilft, über die zentralen Begebenheiten seines Lebens nachzudenken“.



Museale Aufbereitung

Das Museum, das hauptsächlich von Freiwilligen organisiert wird, zeigt sowohl wissenschaftliche als auch historische Objekte und Handarbeiten aus den fünf Jahrhunderten, in denen das Grabtuch schon in Turin aufbewahrt wird. Zu den wichtigsten Ausstellungsstücken zählen der Original-Schrein, in dem das Tuch 1578 nach Turin kam, sowie das silberne Reliquiar aus dem 16. Jahrhundert, das bis 1998 im Einsatz war. Die Besucher können auch die Originalkamera bestaunen, mit der Secondo Pia die ersten Fotos gemacht hatte, außerdem gibt es eine mehrsprachige Multimedia-Präsentation, die die „Fotografische Geschichte des Grabtuches“ zeigt. Der Wissenschaftliche Leiter des Museums, Professor Zaccone, sieht seinen Auftrag darin, zu erforschen, was das Grabtuch für die Menschen seit seiner ersten bekannten Auffindung bedeutet hat, und darin, anderen zu helfen, die Bedeutung dieser traditionellen Verehrung zu verstehen. Es sei spannend zu sehen, das auch wir „Erben dieser Tradition“ und Mitglieder einer „großen globalen Gemeinschaft“ sind, die durch das „außergewöhnliche Bildnis“ des Mannes auf dem Grabtuch eine einzigartige spirituelle Erfahrung gemacht haben oder Zeuge davon geworden sind. 

Der Besuch von Papst Franziskus in Turin, so schließt Professor Zaccone, wird ein Moment geteilter Kontemplation sein und eine neue Chance, unser Verständnis dieser mysteriösen Ikone zu vertiefen. Diese Meinung wird auch vom Turiner Erzbischof Cesare Nosiglia geteilt, der der offizielle Hüter des Grabtuches ist. Bei einer Pressekonferenz sagte er, durch seinen Besuch „als Pilger des Glaubens und der Liebe“ wie seine Vorgänger „bestätigt Papst Franziskus die Verehrung des Grabtuches, das Millionen von Pilgern als Zeichen des Mysteriums der Passion und des Sterbens unseres Herrn ansehen.“

Interessierte finden praktische Hinweise in mehreren Sprachen auf der Internetseite www.sindone.it

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016