Eine Schwester für den Frieden

17. Mai 2021 | von

In Myanmar werden nicht nur Christen verfolgt. Seit einem Militärputsch durchzieht eine Welle der Gewalt das Land. Eine Ordensschwester stellt sich zwischen die Fronten und fleht um Frieden.

Wie eine Heldin fühlt sie sich nicht. Sie will weder auf der großen Bühne stehen, noch glaubt sie, dass sie Lob und Bewunderung verdient hat. Sie ist einfach eine gläubige Person, eine Friedensstifterin, eine Frau, für die das Gebet eine zentrale Rolle spielt: Schwester Ann Nu Thawng ist in den vergangenen Monaten zu einer Ikone der Präsenz der katholischen Gläubigen in Myanmar geworden, während eine Welle friedlicher Proteste das Land nach dem Militärputsch vom 1. Februar 2020 erschüttert. Die Militärjunta stürzte die im November 2020 gewählte Regierung und nahm Präsident Win Myint, die Vorsitzende Aung San Suu Kyi und andere Mitglieder der National League for Democracy fest. 
In einer Nation, die im letzten Jahrhundert bereits 70 Jahre Militärdiktatur erlebt hatte, hat die Bevölkerung, insbesondere die Jugend, ein Bewusstsein für ihre Bürgerrechte und eine Vision für die Zukunft des Landes gewonnen. Daraus entstand eine spontane Bewegung des friedlichen Widerstands und des zivilen Ungehorsams, die zu Straßendemonstrationen in allen größeren burmesischen Städten führte. Angesichts der Proteste der Bevölkerung setzte die Armee immer härtere Repressionsmaßnahmen ein, in einer Spirale von Gewalt gegen wehrlose junge Menschen, während Scharfschützen zur Entmutigung der Demonstranten begannen, auf die Menge zu schießen.

Mutig für den Frieden
Als sie sahen, wie unschuldige junge Menschen geschlagen, verwundet und getötet wurden – während die Nation die Verhängung einer strengen Ausgangssperre fürchtete – gingen zahlreiche Priester, Ordensmänner und -frauen und einige katholische Bischöfe auf die Straße. Sie hatten nur ein Ziel: Leben zu retten. Angetrieben von dem Wunsch nach Gewaltlosigkeit und gestärkt mit der Kraft des Gebets, stellten sie sich der anrückenden Polizei und den Demonstranten in den Weg. In Yangon, Mandalay, Myitkyina, Loikaw, Naypyidaw setzten katholische Priester und Ordensleute – Menschen, die in der Gesellschaft als spirituelle Führer mit höchstem Respekt betrachtet werden – ihre ganze moralische Autorität ein, um zu verhindern, dass die burmesischen Straßen in Blut getränkt werden.
Einen besonderen Beitrag leisteten Ordensfrauen: Bilder der 45-jährigen Schwester Ann Nu Thawng, einer Ordensfrau der Kongregation des Heiligen Franz Xaver, die in der Stadt Myitkyina, der Hauptstadt des Staates Kachin, niederkniete und das Militär anflehte, aufzuhören und nicht zu töten, sind um die Welt gegangen. Sie hat unserer Redaktion einige Fragen beantwortet.

Schwester Ann, können Sie uns in Erinnerung rufen, was an jenem 28. Februar in Myitkyina geschah?
Schon seit einem Monat strömten die jungen Leute auf die Straßen. Mit meinen Mitschwestern hatten wir beschlossen, die an unser Kloster angeschlossene katholische Klinik, die normalerweise für die ärmsten Patienten oder Flüchtlinge genutzt wird, für alle Notfälle offen zu halten. An diesem Sonntag versammelten sich mehr als tausend junge Menschen aus sämtlichen Gesellschaftsschichten, um eine friedliche Protestdemonstration gegen den Militärputsch zu beginnen. Sie forderten die Freilassung von Präsident Win Myint und von Aung San Suu Kyi. Ich war auf die Straße gegangen und sah die eingesetzte Polizei auf die Demonstranten zugehen. Plötzlich stiegen die Beamten aus ihren Fahrzeugen aus und begannen, auf die unbewaffneten Jugendlichen einzuschlagen. Einige lagen verletzt am Boden. Aus Angst vor einem Massaker ging ich auf die Polizisten zu und rief laut, sie nicht zu verletzen. Ich habe vor Spannung und Rührung geweint. Ich kniete vor ihnen nieder, streckte meine Arme zum Himmel und rief den Namen des Herrn an. Die jungen Männer rannten hinter mir her. 

Wie haben die Polizisten reagiert?
Sie waren von meiner Geste überrascht. Es schien, als ob das Militär auf meine Bitten hören würde: Sie haben angehalten. Ich habe weiter mit ihnen gesprochen. Ich habe versucht, mich mit ihren Herzen zu verbinden. Auch sie sind jung. Ich habe sie angefleht, keine unbewaffneten Menschen zu verletzen. „Wir sind ein Volk. Und ihr seid alle gute Soldaten, die friedliche Menschen nicht verletzen, sondern sie beschützen sollten“, sagte ich ihnen. Ein Offizier warnte mich, dass mein Leben in Gefahr sei und bat mich, ins Kloster zurückzukehren. Ich entgegnete, dass sie, anstatt die Jugendlichen zu erschießen, mich verhaften oder töten könnten. Ich sei bereit, mein Leben für mein Volk zu opfern. Sie bestanden aber darauf, dass ich gehe. Ich antwortete, dass ich nicht von dort weggehen würde, bis die harte Konfrontation aufgehört hätte. Innerlich betete ich und rief den Heiligen Geist und die Hilfe der Jungfrau Maria an. Ich sah, dass sie miteinander sprachen. Nach ein paar angespannten Momenten begannen sie, sich zurückzuziehen. 

Was haben Sie zu diesem Zeitpunkt getan? 
Ich fühlte mich erleichtert und ging zurück in unsere Klinik, in der über hundert junge Menschen behandelt werden mussten. Inzwischen begannen auch die anderen jungen Demonstranten, auseinander zu gehen. Zusammen mit den anwesenden katholischen Ärzten und Krankenschwestern versorgten wir die Verwundeten und behandelten sie. Und wir haben Gott gedankt, denn es gab keine Todesopfer und keine schweren Verletzungen. 

Papst Franziskus bezog sich bei seiner Audienz am 17. März auf diese Geste und sagte: „Auch ich knie auf den Straßen von Myanmar.” Was haben christliche Autoritäten in Ihrem Land gesagt? 
Die katholische Bischofskonferenz von Myanmar empfahl allen kirchlichen Mitarbeitern, sich nicht den Demonstranten auf der Straße anzuschließen. Aber mein vermittelndes und schlichtendes Eingreifen wurde von allen anerkannt und geschätzt. In den Tagen nach dem Ereignis, das auf den Fotos verewigt ist, sagte unser emeritierter Bischof Francis Daw Tang, der kam, um in unserer Kapelle die Messe zu feiern, dass das Land Menschen wie mich braucht. Aber ich glaube nicht, dass ich ein Lob verdiene. Ich glaube, dass wir Ordensleute in dieser für die Nation kritischen Phase unseren Beitrag dazu leisten können, die Herzen zu erreichen, die Wehrlosen zu verteidigen, den Dialog und den Frieden zu fördern, zu beten und zu handeln, damit das Land nicht in einem umfassenden Konflikt versinkt. Unser Auftrag ist immer, das Evangelium der Liebe zu verkünden und zu leben. Unsere Aufgabe ist es heute, Leben zu retten. Jedes Leben ist kostbar und muss im Angesicht von Ungerechtigkeit und Gewalt geschützt werden.

Was denken Sie über die Krise, die Myanmar gerade durchmacht, und vor allem, wie sehen Sie die Zukunft des Landes?
Unser Volk, das wegen des Corona-Virus bereits vom wirtschaftlichen Zusammenbruch betroffen ist, leidet wegen des Militärputsches noch mehr. Die Jugend fordert Freiheit und Demokratie und will eine Zukunft des Wohlstands und des Guten aufbauen. Wir hoffen und beten, dass es kein Blutvergießen geben wird. Die Anwesenheit von Menschen des Glaubens, von uns Katholiken, aber auch von buddhistischen Mönchen, kann helfen, von der Gewalt Abstand zu nehmen. Buddhistische Bischöfe und Mönchsorden haben ihre Stimme erhoben und fordern ein Ende der Feindseligkeiten und die Aufnahme von Friedensverhandlungen. Einige fordern ein diplomatisches Eingreifen des Heiligen Stuhls. Wir hoffen auf den guten Willen aller und wir hoffen, dass die internationale Gemeinschaft sich das Schicksal des Volkes von Myanmar zu Herzen nimmt und der Nation zu einem Friedensprozess hilft, der auf Gerechtigkeit und Wahrheit beruht.
 

Zuletzt aktualisiert: 17. Mai 2021
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