Einmalig, aber nicht einzigartig

30. Juni 2006

Vor 150 Jahren fand  der Homo Sapiens das Skelett des Neanderthaler-Menschen. Die Entdeckung seiner vor vielen Jahrtausenden ausgestorbenen Verwandten aus einer europäischen Nebenlinie hat dazu beigetragen, das Selbstverständnis des Menschen hinsichtlich seines Ursprungs zu verändern.

Vor 150 Jahren finden Steinbrucharbeiter beim Kalkabbau in der kleinen Feldhofer Grotte im Neandertal bei Mettmann 16 Knochen und werfen sie achtlos zum Abraum. Dort entdeckt sie zufällig der Steinbruchdirektor, und weil er sie für Knochen eines Höhlenbären hält, übergibt er sie dem Elberfelder Lehrer und Naturforscher Johann Carl Fuhlrott. Der erkennt sofort, dass dies nicht Überreste eines Tieres, sondern ungewöhnlich geformte Menschenknochen sind. Fuhlrott und der Bonner Anatom Hermann Schaafhausen glauben, „das älteste Denkmal der frühen Bewohner Europas“ in Händen zu halten.

Mensch oder Affe. Die Geschichte der Erforschung der Menschwerdung beginnt. 1864 erhält der Fund aus dem damals noch mit „th“ geschriebenen  Neandertal den wissenschaftlichen Namen Homo Neanderthalensis. Die kontroversen Diskussionen des 19. Jahrhunderts, schwankend zwischen Biblischer Schöpfungsgeschichte und Darwinscher Evolutionstheorie, lassen allmählich das Bild eines durchschnittlich 1,66 Meter großen, aufrecht gehenden Wesens mit schwerem Körperbau, flacher Stirn, dicken Augenwülsten, großer Nase, breitem Kiefer und kräftigen Händen entstehen.
Seither versucht die Paläanthropologie die Rätsel jener schon vor 250.000 Jahren durch Europa streifenden Homoniden zu lösen. Etwa neun Zehntel der Zeit, in der Neanderthaler die Erde bewohnten, mussten sie mit klimatischen Bedingungen fertig werden, wie sie heute in Teilen Sibiriens herrschen. Ohne Kälteschutz und Kenntnis des Feuers wäre ihr Überleben undenkbar gewesen. Waren es also Neanderthaler, die die Altsteinzeit revolutionierten? Die eine neue Epoche mit perfekteren Werkzeugen, praktischerer Kleidung einläuteten? Die  kreativ waren, Schmuck anfertigten, Zeichnungen in ihre Höhlen ritzten?

Speer statt Keule. Seit der spektakulären Entdeckung im Neandertal im Jahre 1856 sind Tausende von anderen Funden gemacht worden. Reste von annähernd 300 Neanderthalern haben Forscher an 80 Fundstellen in Europa, aber auch in Israel, Syrien und Usbekistan entdeckt. Aus dem tumben, keulenbewehrten Wesen mit schlurfendem Gang und affenähnlicher Mimik, das die frühen Forscher skizzierten, formt sich allmählich das Bild eines frühen Menschen mit vielfältigen Fähigkeiten und sozialen Eigenschaften.
Vermutlich haben die Neanderthaler als Gruppe gejagt - da ihr Körperbau sehr schwer war, kann man sie sich bei einer langwierigen Verfolgungsjagd des Wildes kaum vorstellen. Die Jagd in der Gruppe aber ist ohne ein Minimum an intelligenter strategischer Planung und Verständigung wenig Erfolg versprechend. Ein in Israel gefundenes Neanderthaler-Zungenbein (entscheidend für die Produktion von Lauten) soll jedenfalls von dem des modernen Menschen kaum zu unterscheiden sein. Wagemutig rückten die Jäger sogar Mammuts mit Speeren zu Leibe. Dafür haben sie Steinmesser mit dem Urzeit-Klebstoff Birkenpech, das mittels komplizierter Schweltechnik aus Birkenrinde hergestellt wurde, an hölzernen Schäften befestigt.

Altenpflege. Sie errichteten Behausungen aus Mammutstoßzähnen, Holz und Tierfellen. Sie verarbeiteten Tierhäute zu Kleidung, schmückten sich mit Ketten aus Tierzähnen, Muscheln und Elfenbeinstücken. Gefundene Farbpigmente - Manganoxyd, Eisenoxyd und roter Ocker - deuten darauf hin, dass sie ihre Kleidung oder ihren Körper bemalten. Auch wenn Gerätschaften aus pflanzlichen Materialen die Zeit nicht überdauerten, kann man davon ausgehen, dass sie Körbe, Netze und Schnüre fertigen konnten.
Funde wie eine Neanderthaler-Gruppe, zu der ein älterer Mann mit nur einem Auge und einem verkrüppelten Arm gehört, lassen den Schluss zu, dass verletzte Menschen betreut und versorgt wurden. Andernfalls hätten diese kaum ein höheres Alter erreichen können. In einigen Gräbern wurden Blumenpollen gefunden - haben die Neanderthaler während Wärmeperioden die Verstorbenen in Blüten gebettet? Offenbar waren sie die ersten Menschen, die ihre Toten regelrecht bestatteten und sich mit dem Tod auseinander setzten. Der Neanderthaler, das unbekannte Wesen, ein Mensch mit Herz und Hirn, ein Mensch mit einer Vorstellung vom Jenseits?

Hautnah erleben. In der Nähe der heute parkartig gestalteten Fundstelle im Neandertal steht eines der modernsten Museen Europas. Besucher können eine Zeitreise durch die Menschheitsgeschichte unternehmen – von den Anfängen in den afrikanischen Savannen bis in die Gegenwart. Im Mittelpunkt des Museums stehen Nachbildungen von Neanderthalern beim Feuermachen, bei der Jagd oder beim Zerlegen der Beute, bei der Herstellung von Werkzeug oder Schmuck. Noch bis zum 24. September 2006 zeigt das Museum die Jubiläumsausstellung „Hautnah. Neanderthaler“. In der Nähe, in einem eiszeitlichen Wildgehege, sind Wildpferde, Wisente und Auerochsen zu beobachten, die zur Jagdbeute der Neanderthaler zählten.
Manche Wissenschaftler erklären die sprunghafte kulturelle Entwicklung in der Steinzeit mit der Konkurrenzsituation zwischen den europäischen Neanderthalern und den aus Afrika stammenden Homoniden, wo sich die Wiege der Menschheit nach heutigen Erkenntnissen bis in die Zeit vor mehr als sechs Millionen Jahren zurückverfolgen lässt. Seit etwa 40.000 Jahren streift der von dort eingewanderte Homo Sapiens, Urahn des modernen Menschen, durch Europa. Etliche Tausend Jahre teilten sich Homo Neanderthalensis und Homo Sapiens den Lebensraum. Lebten sie friedlich miteinander, lernten sie voneinander, waren sich fremd oder gar feindlich gesinnt? Der Homo Sapiens dominierte. Bislang gibt es keine Neanderthaler-Funde, die jünger sind als  27.000 Jahre. Offensichtlich sind die Neanderthaler trotz ihrer entwickelten Kultur ausgestorben. Vielleicht, weil Homo Sapiens mobiler war, besser organisiert und mehr Nachwuchs bekam? 

Menschenfunde. Die Mutmaßungen über den verlorenen Menschenbruder gehen weiter. Das Rheinische LandesMuseum in Bonn, dessen Vorläufer nach dem Tod Fuhlrotts im Jahr 1877 die Fossilien erwarb, um den Verkauf ins Ausland zu verhindern, stellte Knochenmaterial für eine vom Max-Planck-Institut in Leipzig durchgeführte DNA-Analyse zur Verfügung. Aktuelle Untersuchungen der Erbsubstanz von Homo Neanderthalensis und Homo Sapiens belegen, dass der Neanderthaler wenig zum Genpool des modernen Menschen beigetragen hat.
Im Rheinischen LandesMuseum werden im Jubiläumsjahr die spektakulären Forschungsergebnisse zum Leben der Neanderthaler in einer weltweit einmaligen Sonderausstellung präsentiert. „Roots //Wurzeln der Menschheit“ (8. Juli bis 19. November) zeigt unter der Schirmherrschaft der Unesco alle bedeutenden fossilen Menschenfunde, anerkannte Zeitzeugen aus mehr als sechs Millionen Jahren Menschheitsgeschichte. Vom Weg zum aufrechten Gang berichtet sie ebenso wie von Nebenlinien des Menschen und den Gründen für ihr Aussterben. Das besondere Interesse gilt dem im Rheinischen LandesMuseum verwahrten Neanderthaler und seinen engsten Verwandten.

Für weitere Informationen:
www.neanderthal.de
www.roots2006.de

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016