Engagement in Sachen Evangelium
Im Jahr der Studentenrevolte 1968 gründete der 18-jährige Schüler Andrea Riccardi in Rom eine Gebetsgruppe, aus der bald eine engagierte Arbeitsgemeinschaft wurde: Sant’Egidio. Die Jugendlichen spürten, dass Christen das Evangelium nicht leben können, ohne die Not des Nächs-ten zu wenden. Bis heute engagiert sich die katholische Laienbewegung für die Vergessenen und Schwachen in unmittelbarer Umgebung und in fernen Regionen, die durch Konflikte und Kriege zu Brennpunkten der Armut wurden. Inzwischen ist Sant’Egidio mit über 60.000 Mitgliedern in 70 Ländern zu einer der wichtigsten katholischen Basisgemeinden überhaupt herangewachsen.
1986 war ein Jahr des Aufruhrs und des Aufbruchs. In vielen Großstädten Europas herrschten Unruhen, und neue Bewegungen im Bereich der Schulen und Universitäten entstanden. Die Welt der Jugendlichen war von neuen Fragen und dem Bedürfnis nach Authentizität und einem neuen Zugang zu den großen Fragen des Menschen und der Welt gekennzeichnet. Auch die katholische Kirche befand sich in dieser Aufbruchsituation. Die Suche nach Authentizität war im kirchlichen Bereich mit einer Begeisterung in den Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbunden. Als die Studentenproteste auch Rom erfassten, versammelte dort der 18-jährige Gymnasiast Andrea Riccardi ein paar Freunde unweit ihrer Schule in einer Kirche, um zu beten und das Evangelium zu lesen: die Gründungsstunde der katholischen Laienorganisation Sant’Egidio. Die Urgemeinde aus der Apostelgeschichte und Franziskus von Assisi waren dabei die Vorbilder. Im Gegensatz zur heutigen individualisierten Gesellschaft waren Gemeinschaftsleben und Zusammensein in Gruppen sehr attraktiv.
Initiative Jugendlicher
Riccardi war davon überzeugt, dass das Evangelium auf die grundlegenden Fragen des Menschen und des Zusammenlebens in der modernen Stadt Antworten geben kann, keine strukturelle oder politische, sondern eine existenzielle Antwort. Aus der Gebetsgruppe wurde bald eine engagierte Gemeinschaft, die arme Menschen in den Barackensiedlungen am Rande der Großstadt mit Essen und Kleidung versorgte. Heute wirkt der 60-Jährige erfolgreich als Professor für Zeitgeschichte an einer Universität in Rom – und weltweit im Dienste seiner Bewegung: Der Träger des internationalen Karlspreises vermittelte 1992 mit anderen Mitgliedern seiner Gemeinschaft den Frieden in Mosambik und hat an vielen anderen Konfliktherden der Welt diplomatische Aufgaben übernommen. Längst ist Sant’ Egidio als Nichtregierungsorganisation von der UN anerkannt und wird in ihrem Engagement vom Vatikan unterstützt. Die Basisarbeit im Dienst an den Vergessenen und Schwachen in unmittelbarer Nähe bleibt dabei bestimmend für die Arbeit der Gemeinschaft.
Riccardis Überzeugung ist, dass nicht neue Strukturen oder neue Politik eine neue und bessere Welt schaffen, sondern neue Menschen, in denen der Geist des Evangeliums lebendig ist. Deshalb ist die Gemeinschaft Sant’Egidio davon überzeugt, dass die Begegnung mit dem Evangelium, persönlich und gemeinschaftlich, entscheidend ist für das Leben als Christ. Im Mittelpunkt des täglichen Abendgebets der Gemeinschaft steht daher die Schriftlesung, die jeweils mit einer Betrachtung ausgelegt wird. Das Wort des heiligen Franziskus vom Evangelium „sine glossa", ohne verfälschende Deutung, beschreibt passend dieses Verständnis der Heiligen Schrift und die zentrale Bedeutung der Botschaft Jesu.
Im Durcheinander der modernen Großstadt und in Zeiten zunehmender Individualisierung und der damit verbunden Vereinsamung braucht der Mensch Orte der Begegnung und der Ruhe, um seine eigene Mitte wiederzufinden und den Herausforderungen des Lebens gewachsen zu sein. Jeden Tag trifft sich die Gemeinschaft zum Abendgebet und feiert am Tag des Herrn gemeinsam die eucharistische Liturgie, um zu betonen, dass alles Tun und Leben seinen Ursprung in der Begegnung mit Jesus Christus hat. Die grundlegende kirchliche Dimension der Liturgie hat sich im Charisma von Sant’Egidio in dieser Form herausgebildet. Diese spirituelle Seite wird begleitet durch ein persönliches geistliches Leben, in dem die tägliche Schriftlesung einen zentralen Platz einnimmt. Deshalb gibt die Gemeinschaft seit vielen Jahren das Buch „Das Wort Gottes jeden Tag" heraus, das als Begleitung für diese Schriftlesung dient. Der Christ hat es nämlich zeitlebens nötig, umzukehren, zu lernen, sein Herz zu erneuern und tiefer in das Wort Gottes einzudringen.
Beten mitten im Leben
Daneben ist das Abendgebet ein Ort der Begegnung mit den Menschen der Stadt, es steht allen offen und wird, immer gut erreichbar, in einer zentralen Kirche gehalten. Die Gastfreundschaft im Gebet, die sich in der Begrüßung von Gästen und in der Möglichkeit zur Begegnung und zum Gespräch im Anschluss an das Gebet ausdrückt, spielt eine wesentliche Rolle. Somit erhält das Abendgebet eine missionarische Dimension, denn es bietet allen Suchenden und auch dem zufälligen Gast die Möglichkeit, einem in einer lebendigen Gemeinschaft gelebten Evangelium zu begegnen.
Von Anfang an war für das Leben der Gemeinschaft Sant’Egidio eine konkrete Verbindung von Gebet und Freundschaft mit den Armen kennzeichnend, wie es bei Lukas im 10. Kapitel zum Ausdruck kommt. Jesus fordert im Gleichnis vom barmherzigen Samariter dazu auf, den Bedürftigen auf den Wegen unserer Städte als unseren Nächsten anzusehen und ihm zu helfen. In der Begebenheit in Betanien erinnert er daran, dass jedes Tun vom Hören auf sein Wort getragen sein muss. Ohne diesen besseren Teil, ohne das Hören auf das Evangelium, kann das Tun sehr schnell zu einem Aktionismus werden, bei dem man nur von sich selbst eingenommen ist und an der Not des Nächsten vorbeigeht.
Aufmerksam für Arme
Die Gemeinschaft macht die Erfahrung des heiligen Franziskus, der nicht mehr am Armen und Aussätzigen vorbeigehen konnte, nachdem er das Evangelium kennengelernt hatte. Die Begegnung mit Jesus hatte ihm die Augen und das Herz geöffnet, sodass er vom hohen Roß seiner Selbstsicherheit herabstieg, den Aussätzigen küsste und das Abenteuer einer neuen Freundschaft mit den Armen machte, die zum Reichtum seines Lebens wurde, sodass süß und köstlich wurde, was ihm zuvor abstoßend und bitter erschien. Genauso erlebt die Gemeinschaft Sant’Egidio die tägliche Begegnung mit den Armen, sei es in der eigenen Stadt oder weltweit in den großen Regionen des Elends, vor allen Dingen in Afrika. Bei seinem Besuch in der Mensa der Armen der Gemeinschaft Sant’Egidio in Rom im Dezember 2009 sagte Papst Benedikt XVI., indem er den heiligen Laurentius zitierte, dass die Armen „der Schatz der Kirche sind". Sie sind der Reichtum der Gemeinschaft, sie helfen ihr, nicht selbstbezogen und egoistisch zu leben, sondern barmherzig und menschlich die Herzen zu öffnen und zu bekehren. „Die Armen sind die Engel gewesen, die Sant’Egidio beschützt haben", betonte Andrea Riccardi bei jener Begegnung. Deshalb ist die Diakonie kein Zusatz und keine Option im Leben des Christen, vielmehr gibt es kein christliches Leben ohne Beziehung und Hinwendung zum Leidenden und Schwachen. Das kann ein Almosen auf der Straße sein oder eine Hilfe für einen Nachbarn, der einsam ist. Jeder kennt einen Menschen, einen Ärmeren, dem er seine Liebe schenken kann. Denn wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erklärt, ist die Diakonie nicht zuerst eine institutionelle Frage, sondern eine Begegnung im Alltag des Lebens.
Brüder und Schwestern
In dieser Hinsicht leben viele ärmere Freunde mit der Gemeinschaft: Kinder, Obdachlose, einsame alte Menschen, Flüchtlinge und Asylbewerber, Gefangene, AIDS-Kranke, Waisenkinder oder Behinderte, wobei die Hilfe für die Armen immer ehrenamtlich geschieht. Alle Beziehungen zu den Armen sind von einer persönlichen Freundschaft geprägt, bei der die Geschichte und der Name des Armen grundlegend sind. In unseren anonymen Gesellschaften ist das Leben der Armen oft von Verlassenheit geprägt, sodass eine persönliche Freundschaft und Anteilnahme am eigenen Leid die erste und wichtigste Hilfe ist. Im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums sagt Jesus: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40). Die Armen sind Schwestern und Brüder, sie haben dieselbe Aufmerksamkeit verdient wie die eigenen Familienangehörigen, denn in ihnen begegnet man dem Herrn. Die Gemeinschaft Sant’Egidio möchte eine Familie für alle sein, die keine Familie haben, eine Herberge, ein Ort der Geborgenheit. Das gilt für ein Straßenkind in Mosambik, das seine Eltern durch die AIDS-Krankheit verloren hat, wie für einen alten Menschen in einem deutschen Pflegeheim, der nach einem schwierigen Leben allein gelassen wird und jemanden sucht, der ihm beim Sterben die Hand hält. Dabei möchte die Gemeinschaft, soweit es möglich ist, die ärmeren Freunde in ihr Leben einbeziehen. Denn die Armen sind nicht nur Schwestern und Brüder, die Hilfe brauchen, sie können auch viel für andere tun, auch ihr Leben ist sinnvoll. Die Gemeinschaft ist davon überzeugt, dass niemand zu arm, zu schwach oder zu jung ist, um nicht einem anderen helfen zu können. Das bezeugen in beeindruckender Weise die Gemeinschaften von Sant’Egidio in den armen Ländern des Südens, die ausschließlich aus Einheimischen bestehen. Aber auch zum Beispiel viele alte Menschen in den reichen Ländern, die durch die Gemeinschaft wieder anfangen, sich einzusetzen oder durch ihr Gebet einen Sinn im Leben finden.
Einsatz für den Frieden
Im Verlauf der Jahre hat die Sensibilität für die Armen der eigenen Stadt zu einer weiteren Solidarität mit den Armen der ganzen Welt geführt. Dabei steht besonders der Einsatz für Afrika im Mittelpunkt. Durch die Hilfe für die Armen kam besonders die Frage des Friedens in den Blick, für den sich Sant’Egidio besonders nach der erfolgreichen Vermittlung für Mosambik 1992 in vielen Ländern auch auf dieser politischen Ebene einsetzt. Zentral ist daneben die Hilfe für AIDS-Kranke in Afrika, da Sant’Egidio die Ungerechtigkeit nicht akzeptieren möchte, dass eine im reichen Norden zu behandelnde Krankheit im armen Süden ein Todesurteil darstellt. In zehn Ländern bietet sie durch das DREAM-Programm kostenlose Therapie und Prävention besonders in der Mutter-Kind-Übertragung des Virus erfolgreich an und wird dadurch zu einer großen Hoffnung auf Auferstehung für diesen geplagten Kontinent.
Senfkorn Evangelium
Besonders in der westlichen Welt befinden sich die christlichen Kirchen in einer Krise, die sich im Rückgang der Berufungen und der praktizierenden Gläubigen zeigt. Von Anfang an schenkt Sant’Egidio deshalb den Jugendlichen und Kindern besondere Aufmerksamkeit und bietet ihnen in einfacher Form das Evangelium an. Durch verschiedene Initiativen und sogenannte „Schulen des Evangeliums" werden sie eingeladen, sich dem Evangelium durch einfache Katechesen zu nähern, Freunde der Armen zu werden und in Freundschaft zusammenzuleben. Dabei sollen besonders fernstehende Jugendliche angesprochen werden, um ihnen in einer persönlichen Freundschaft den Weg eines christlichen Lebens anzubieten.
Geistliche Gemeinschaft
Die Gemeinschaft Sant’Egidio möchte als Laiengemeinschaft ein einfaches christliches Leben führen, wie es die Frauen und Männer mit Beruf und Familie heute führen können. Diese Laienspiritualität in gemeinschaftlicher Form möchte und kann keine Pfarreistruktur ersetzen, aber vielleicht Anregungen zu einem Austausch anbieten. Denn aus der Erfahrung dieser geistlichen Gemeinschaft muss jeder Christ ein intensives spirituelles Gebetsleben führen. Gerade in einer immer säkularer werdenden Gesellschaft werden überzeugte authentische Christen gebraucht, die tief im Evangelium verwurzelt sind, egal, in welcher Weise sie sich in der Kirche engagieren, ob im Pfarrgemeinderat oder in einem Arbeitskreis zur Ökumene. Hier könnte im Prozess der Bildung von Pfarreiengemeinschaften in vielen Diözesen hilfreich sein zu zeigen, wie der Aspekt der Liturgie und der Spiritualität lebendig gestaltet werden kann.
Zentral ist auch die Freundschaft mit den Armen, die zudem missionarische Wirkung zeigt. Jeder Christ muss als ein Freund der Armen erkennbar sein, diesen Auftrag kann man nicht delegieren. Das gilt für einen Priester oder Pfarrer genauso wie für einen Mitarbeiter im Arbeitskreis Diakonie. Aus der Erfahrung von Sant’Egidio ist die persönliche Beziehung wichtig, die nicht nur als Dienst gesehen wird, sondern auch als Bereicherung für das eigene Leben.
Schließlich ist die Koinonia (= Gemeinschaft durch Teilhabe) ein Wesenszug der Kirche und bleibt eine Anfrage an jede christliche Gemeinschaft, ob sie als Orden, Pfarrei oder geistliche Gemeinschaft lebt. Die Urgemeinde wurde an der geschwisterlichen Liebe erkannt. Kirche darf nicht in erster Linie als Struktur erfahren werden, die Menschen müssen sie daran erkennen, wie sich die Schwestern und Brüder lieben. Diesen grundlegenden Wesenszug überzeugend zu leben, ist immer eine tägliche Herausforderung an unseren Umgang untereinander. Dabei bleiben das gemeinschaftliche Gebet und die Liturgie unersetzlich, denn dort nehmen alle Gemeinschaft und aller Dienst ihren Ausgang.