Expressionen einer introvertierten Seele
Edvard Munch – er wäre am 12. Dezember 150 Jahre alt geworden – gilt als Meister expressiver Darstellung, die ihre Betrachter anrührt und zu seinen Lebzeiten so manchen Skandal erzeugte.
„Dunkelheit und Licht für die Menschen”, diesem Motto hat sich der norwegische Maler Edvard Munch in seinem umfangreichen Gesamtwerk aus Gemälden, Grafiken, Skulpturen, Zeichnungen und Drucken verschrieben. Gemeinsam mit Van Gogh bereitet er eine Epoche vor, die das innerste Empfinden auf die Leinwand wirft und nicht ein fotografisches Abbild der Natur. Im Gegensatz zur Zeit der Romantik, in der das Subjekt eins werden soll mit der religiös verklärten Natur, sind Munchs Landschaften bedrohlich. Das Individuum steht verloren und einsam in der Welt. Zwar ist die Sehnsucht nach Glück gegenwärtig, bleibt ihm jedoch verwehrt. Aus diesem Schmerz schöpft der Maler seine Werke.
MELANCHOLIE VERZWEIFLUNG AUFSCHREI
Die Titel sind Programm, vom Motiv Melancholie (1891/92) führt der Weg über Verzweiflung (1892) hin zum weltberühmten Der Schrei (1893). In vier Fassungen experimentiert Munch hier mit der „Landschaft des Todes“, die in jeder Linie und Farbe eine „verstörte Gemütsverfassung“ wiedergeben soll, so eindrücklich und unmittelbar, dass sich kaum ein Betrachter dem Gefüge entziehen kann. Die zur Fratze verzerrte Gestalt gibt den Schrei von sich, wobei ihr ganzer Körper die Bewegung der Landschaft bereits in sich aufnimmt und im Geheul mitschwingt. Es ist kein äußeres Abbild, sondern ein inneres Selbstporträt.
Die zerbrochene Weltsicht wurzelt in der Kindheit Edvard Munchs. Die jüngere Schwester Laura muss wegen Melancholie (Depression) in ärztliche Behandlung, er selbst gilt physisch als eher schwächlich und leidet psychisch an einer manisch-depressiven Störung. Als er fünf Jahre alt ist, stirbt die Mutter Laura Catherine Munch an Tuberkulose. Seine ein Jahr ältere Schwester Sophie wird 15-jährig ebenfalls Opfer der Schwindsucht. „In meinem Elternhaus hausten Krankheit und Tod. Ich habe wohl nie das Unglück von dort überwunden. Es ist auch für meine Kunst bestimmend gewesen“, schreibt er. Sophies Tod verarbeitet er erstmals im Werk Das kranke Kind (1885/86). Weil Munch das Leiden zur konstituierenden Kraft seiner Kunstwerke erhebt, muss er mit den traditionellen Mitteln der Malerei brechen, wenn sie dieser Kraft nicht gerecht werden. Dieser Bruch mit den künstlerischen Konventionen überfordert Betrachter und Kritiker. Als hingeschmierte Farbklecksereien verschmähen sie seine Werke.
REBELL FROMMER HERKUNFT
Den Nährboten für diesen Drang nach freiem Gestaltungswillen liefert die Kristiania-Bohème, ein Kreis von Osloer (damals noch Kristiania) Literaten und Künstlern. Der 21-jährige Munch ist besonders von den provozierenden Parolen Hans Jaegers fasziniert, der unbedingte Freiheit von der bürgerlichen Moral fordert. Munch selbst wuchs in kulturell anregenden, finanziell aber bescheidenen Verhältnissen in Oslo auf, wo er am 12. Dezember 1863 geboren wurde. Die väterlichen Vorfahren waren Offiziere, Geistliche, Dichter und Beamte. Der Vater Peter Christian Munch, ein tief religiöser Mann, verdient als Stabsarzt sein Geld. Eher schweigsam, jedoch voller Aufmerksamkeit wohnt Munch den Treffen der Bohème bei und gerät in inneren Konflikt mit seiner puritanischen Herkunft. Die künstlerische Laufbahn hatte er auf traditionelle Weise begonnen, mit dem Studium der Alten Meister und einer akademischen Lehre an der königlichen Zeichenschule in Oslo. Nun wird der bald gesellschaftlich geächtete Jaeger zum Vorbild des jungen Malers.
KUNST REFLEKTIERT WELT
Ein Künstlerstipendium führt ihn 1889 nach Paris. Dort wird er in seiner Arbeitsweise bestärkt, die Welt als Symbol zu verwenden und die naturalistischen Ideen hinter sich zu lassen. Auf Einladung des Vereins Berliner Künstler reist er 1892 nach Deutschland, im Gepäck 55 Gemälde, die einen bis dato ungekannten Eklat provozieren. Nicht Munch selbst ist Stein des Anstoßes, sondern die moderne Kunst an sich, die auch er vertritt. Munch sieht den Aufschrei der Kritiker als Bestätigung seiner Malerei und bleibt in Berlin. In den 90er Jahren entwickelt er den Plan vom Lebensfries. Ab 1909 zieht der inzwischen geschätzte Maler sich in seine Heimat Norwegen zurück. Der sensible Mann, der schon zuvor mit Alkohol- und Nervenproblemen zu kämpfen hatte, lebt isoliert und spartanisch. Noch immer steht die ungebrochene Schaffenskraft im Zeichen seiner großen Lebensthemen. Unverheiratet, umgeben von seinen Gemälden, „seinen Kindern“, verstirbt er im Januar 1944.