Friede ist machbar, Herr Nachbar!

25. Oktober 2010 | von

Nachbarschaft ist so selbstverständlich und allgegenwärtig, dass wir normalerweise nicht über sie nachdenken. Erst dann, wenn es im alltäglichen Nebeneinander zu Konflikten kommt wegen Bagatellen – allein überhängende Baumäste aus Nachbars Garten entfachten schon regelrechte Kriege am Zaun –, wird ein Mangel spürbar. Dass Nachbarschaft ein kostbares Geschenk ist, betonen bereits die Autoren des Alten Testaments: „Besser ein Nachbar in der Nähe als ein Bruder in der Ferne“ (Spr 27,10). Und Jesus vertraut sie uns im Gebot der Nächstenliebe als lebenslange Aufgabe an.



Wenn Frösche quaken, Hunde bellen, es aus Blumentöpfen vom Balkon tropft, dann ist häufig der Streit mit den Nachbarn nicht mehr weit. Nachbarschaftsstreitigkeiten gehören zu den Problemen, die am häufigsten zu gerichtlichen Auseinandersetzungen führen – in Deutschland sind es jährlich 500.000 Verfahren. Vieles muss gar nicht mit einer Gerichtsverhandlung enden, um für die Beteiligten zur psychischen Belastung zu werden. Es stellen sich dann Gedanken ein wie: „Der erwidert meinen Gruß nicht, für wen hält der sich – dann sage ich auch nichts mehr zu ihm.” –„Was, der parkt sein Auto auf meinem Stammparkplatz! Das zahle ich ihm heim.“



Segen und Schrecken

Andererseits geben in einer Umfrage von Innofact 83 Prozent der Befragten an, einen guten Kontakt mit ihren Nachbarn zu pflegen. Sie helfen sich gegenseitig und nehmen beispielsweise Post für den anderen an oder gießen im Urlaub die Blumen. In Deutschland übt fast jeder Dritte, der älter ist als 14 Jahre, ein Ehrenamt aus, so ein Ergebnis der zweiten Freiwilligensurvey, einer Umfrage im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Mit ihren Aktivitäten übernehmen diese Menschen Verantwortung füreinander und verwirklichen nachbarschaftliche Fürsorge. Dazu sind sogar immer mehr bereit: Waren es 1999 noch 26 Prozent der Bevölkerung, so stieg die Zahl 2004 sogar auf 32 Prozent. Auch die Zahl der Engagierten, die sich einen ausgedehnteren ehrenamtlichen Einsatz vorstellen können, ist im Vergleich zu 1999 gestiegen. Von einem solchen Engagement profitieren vor allem soziale Projekte, Kindergärten und Schulen und die  Jugend- und Erwachsenenbildung.

Nachbarschaft ist offensichtlich ein Thema mit zwei Gesichtern. Nachbarn können zum kostbaren Geschenk oder zur starken psychischen Belastung werden. Das Phänomen ist nicht neu. Schon in der Bibel finden sich Belege für die Doppeldeutigkeit. Da wird zum einen die positive Bedeutung der Nachbarschaft herausgestellt: „Besser ein Nachbar in der Nähe als ein Bruder in der Ferne“ (Spr 27,10). Zum anderen kennt der Psalmist aber auch die negativen Seiten dieser Beziehung: „Zum Spott geworden bin ich all meinen Feinden, ein Hohn den Nachbarn, ein Schrecken den Freunden; wer mich auf der Straße sieht, der flieht vor mir“ (Ps 31,12).  

Ein bekanntes deutsches Sprichwort lautet: „Es kann kein Mensch im Frieden leben, wenn es seinem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Die Realität scheint dem recht zu geben. Neben der hohen Zahl an Gerichtsprozessen werden viele Streitfälle von Güterichtern, Juristen mit Zusatzausbildung, die als richterliche Mediatoren fungieren, ohne Prozess geschlichtet. Ihre Erfahrungen geben einen aufschlussreichen Einblick in die Hintergründe des Phänomens. Demnach ist ein zentrales Problem das nicht mit Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme gepflegte nachbarschaftliche Verhältnis. Dies geschieht oft in der Annahme, den Nachbarn nicht mehr zu brauchen.



Nothelfer Nachbar

Dabei wird häufig vergessen: In Notzeiten ist ein guter Nachbar ein wertvolles Geschenk. Es gibt viele Berichte über selbstloses Handeln von Nachbarn in solchen Zeiten, auch die Kriegsgeneration in Deutschland weiß viel davon zu berichten. Dabei helfen sich in Notsituationen auch Nachbarn, die sich vorher eigentlich nicht nahe standen. Ein Beispiel findet sich in der Berichterstattung der New York Times über das verheerende Erdbeben von 1999 in der Türkei. Griechische Rettungsmannschaften waren vom Leid und Schmerz der ansonsten ungeliebten türkischen Nachbarn derart betroffen, dass sie es ablehnten, die Suche nach Überlebenden abzubrechen, als die Rettungsaktionen offiziell eingestellt wurden.

Es sind nicht nur Kriege oder Naturkatastrophen, die Nachbarn näher zusammenrücken lassen. Auch soziale Belastungssituationen, Krankheit oder gesundheitliche Beeinträchtigungen können dies bewirken. Mehrgenerationenhäuser, die zum guten Teil durch das Engagement Freiwilliger getragen werden, sind ein gutes Beispiel hierfür. Bundesweit gibt es 500 derartige vom Staat geförderte Häuser. Sie sind Orte der Begegnung für Menschen aller Generationen und Herkunftsländer. Dort ist Raum für gemeinsame Aktivitäten: Es entstehen Angebote zur Kinderbetreuung, zur Betreuung älterer Menschen, oder es werden haushaltsnahe Dienstleistungen vermittelt. Die Aktivitäten zielen insgesamt auf eine Stärkung des nachbarschaftlichen Miteinanders.

Dem bürgerschaftlichen Engagement für die gesellschaftliche Integration von Migranten kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Bedeutung zu. Projekte wie das nach dreijähriger Laufzeit im Mai 2010 zu Ende gegangene bayerische Modellprojekt „Gemeinsam engagiert – Bürgerschaftliches Engagement im Bereich Integration“, belegen dies anschaulich. Zielpunkt des Projekts war die Unterstützung des vielfältigen Engagements, das unmittelbar von und gemeinsam mit Migranten in den Kommunen, in Einrichtungen und Vereinen vor Ort ausgeübt wurde. Die Interessenten konnten sich zu verschiedenen Themenbereichen informieren, weiterqualifizieren und schulen lassen. Darüber hinaus gab es beratende, begleitende und unterstützende Angebote zur Entwicklung neuer Projekte und Aktivitäten mit Beteiligung von Migranten oder auch Tipps zur Vernetzung von Einrichtungen des ehrenamtlichen Engagements.



Aberwitzige Eskalation

Treten Konflikte zwischen Nachbarn auf, sind sie sehr facettenreich, wie ein Blick in die Medien bestätigt. Sicher hat das erwähnte Sprichwort vom bösen Nachbarn einen wahren Kern. Nur ist dabei zu bedenken, dass es nicht immer allein der Nachbar ist, der etwas Böses oder Gemeines tut. Ein Witz bringt es auf den Punkt: „Treffen sich zwei alte Pfarrer. Sagt der eine zum anderen: ‚Mit der Zeit erkenne ich immer deutlicher, dass die Menschen sehr wohl zwischen Gut und Böse unterscheiden können.’ Darauf der andere: ‚Ja schon, aber nur bei anderen.’“ In Konflikten tendieren Menschen dazu, mit zweierlei Maß zu messen und nur sich selbst im Recht zu wähnen. Solche Auseinandersetzungen laufen zumeist nach einem bestimmten Muster ab, wie das nachfolgende, aus der Realität entnommene Beispiel verdeutlicht.

In einem dreistöckigen Mietshaus sitzen am Sonntagnachmittag die Parteien auf ihren Balkonen und trinken Kaffee. Im obersten Stockwerk wohnt ein älteres Ehepaar. Die Frau gießt ihre Blumenkästen. Etwas vom Gießwasser spritzt auf den Kaffeetisch der unteren Nachbarn und bespritzt zusätzlich die Kleidung des unteren Mieters, der sich daraufhin lautstark nach oben hin beschwert. Es kommt zu einem Wortwechsel, bei dem sich schließlich beide Parteien immer unflätiger beschimpfen. Der bespritzte Mieter ruft seinen unter ihm wohnenden Freund zu Hilfe. Dieser meint, die Sache ließe sich gleich erledigen, er habe eine Waffe. So ausgestattet machen sich beide auf den Weg nach oben, um den Schädigern zu drohen. Als sie klingeln, öffnet der ältere Mann. Es kommt zu einem lautstarken Streit und einem Handgemenge. Inzwischen haben die anderen Nachbarn die Polizei gerufen, weil sie eine Schießerei befürchten. Die Situation endet für die Beteiligten im Polizeigewahrsam.



Verhängnisvolle Spirale

Nicht immer eskalieren Streitigkeiten, die sich auch um die Hausordnung, das nicht ordentlich geputzte Treppenhaus oder den Kinderwagen im Hauseingang drehen können, auf derartige Weise. Aber die Verläufe ähneln sich. Ein anfänglich kleiner Konflikt verhärtet sich – man kann sich nicht einigen, findet keinen Kompromiss oder dämpft nicht die aufkommenden Emotionen. Es folgt eine Phase der gegenseitigen Beschimpfungen, der Bedrohungen und Unterstellungen. Die Strategien werden immer ausgefeilter, bis der Konflikt nicht mehr ohne Gesichtsverlust für beide Seiten beendet werden kann. Es gilt die Strategie: Sieg oder Niederlage, was konkret Kampf oder Flucht bedeutet. An diesem Punkt angelangt, kommt es häufig zur Eskalation des Konflikts mit verschiedenen Formen der Gewaltanwendung. Dabei sind alternative Verhaltensweisen, die zu einer Deeskalation beitragen können, auch in dieser Phase der Auseinandersetzung möglich. Beispielsweise kann ein Mediator eingeschaltet, eine Beratungsstelle hinzugezogen oder der Rat eines Rechtsanwalts eingeholt werden.

Zu den klassischen Nachbarschaftskonflikten kommt heute noch eine Form des Rufmordes, der Beleidigung oder üblen Nachrede hinzu, der die modernen Kommunikationsmittel nutzt: Cybermobbing. Nachbarn stellen gegenseitig Clips ins Netz, veröffentlichen Verunglimpfendes, senden beleidigende SMS oder intrigieren im Chat. Sehr beliebt als Waffen im Konflikt sind auch sogenannte Prangerseiten im Internet, die nach mittelalterlichem Vorbild einer Schandgeige oder eines Schandpfahls zur öffentlichen Demonstration einer (vermeintlichen) Schande dienen. Der Betreiber ist Ankläger und Vollstrecker in einer Person. Nachbarn können sich in einem Blog oder einem Forum irgendwelcher Gesetzesverstöße oder unsittlicher Verhaltensweisen bezichtigen und damit zur Rufschädigung des anderen beitragen. Dem Betroffenen hilft hier zunächst, sich an den im Impressum der fraglichen Seite genannten verantwortlichen Administrator zu wenden.

Die Beispiele lassen unschwer erkennen, dass es im Falle einer derartigen Eskalation eines Nachbarschaftskonflikts keine Gewinner mehr geben kann – es herrscht nur noch das Prinzip: gemeinsam in den Abgrund. Beim Evangelisten Lukas findet sich im Gleichnis vom barmherzigen Samariter demgegenüber ein völlig konträres Verhaltensmodell. Es verdeutlicht eindrucksvoll, was es heißt, ein guter Nachbar zu sein. Jesus wird von einem Schriftgelehrten gefragt: „Wer ist denn mein Nächster?“ (Lk 10,29). Jesus antwortet mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter:

„Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am anderen Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme“ (Lk 10,30-35 ).

Jesu Antwort macht zunächst eines deutlich: Es kommt ihm nicht darauf an festzulegen, wer der Nächste ist, welche Nationalität oder welche Hautfarbe er hat oder wie er aussieht. Wichtig ist ihm darzulegen, was einen wirklichen Nächsten auszeichnet, welche Qualitäten er besitzt. Der gelehrte Fragesteller versteht jedenfalls sofort und gibt auf Jesu Frage „Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?“ zur Antwort: „Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat“ (Lk 10,36f).



Ein guter Nächster

Und Jesus fordert ihn auf: „Dann geh und handle genauso!“ (Lk 10,37). Damit stellt er klar: Barmherzig zu handeln – das zeichnet einen guten Nächsten aus. Dazu gehört, sich zunächst bewusst zu werden, welche Faktoren die eigene Hilfsbereitschaft einschränken, welche Einstellungen im Wege stehen, ein guter Nächster zu sein. Oftmals sind es vermeintlich kleine Stolpersteine: Vielen Menschen ist es unangenehm, auf Nachbarn zuzugehen, ein Gespräch zu beginnen oder um Gefälligkeiten zu bitten. Dabei sind es gerade die kleinen Gesten, die eine gute Beziehung aufbauen und pflegen. Anderen mit Respekt und Freundlichkeit zu begegnen und ihre Würde zu achten, regt sie an, sich genauso zu verhalten. Einfach die Goldene Regel anwenden: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ (Mt 7,12).



Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016