Geborgenheit für entwurzelte Kinder
1949 gründete Hermann Gmeiner für verwaiste und verlassene Kinder das erste SOS-Kinderdorf im österreichischen Imst. Seine Idee war ebenso einfach wie bahnbrechend: Jedes Kind braucht eine Mutter und wächst am natürlichsten mit Geschwistern in einer Dorfgemeinschaft heran.
Der Weltkrieg hatte tiefe Spuren hinterlassen, Länder verwüstet und Häuser zerstört, Menschen heimatlos und Kinder zu Waisen gemacht. Im Durcheinander der Nachkriegsjahre war für den Österreicher Hermann Gmeiner die Not der Kinder besonders bedrängend. Er gründete 1949 mit Freunden das erste Kinderdorf in Imst in Tirol, um verwaisten Kindern eine neue Heimat geben zu können. Diesem folgten bis heute zahlreiche Dörfer weltweit. Im Jahr 2009 gibt es rund um den Globus 473 solcher Einrichtungen, 27 weitere sind im Bau.
Drängendes Mitgefühl
Die Geschichte der SOS-Kinderdörfer ist eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht. Wer kennt nicht die Weihnachtskarten und die Kalender des Vereins oder den „Kinderdorfboten", der vier Mal im Jahr erscheint? Doch zurück zu den Anfängen – und der Idee eines Einzelnen, des Gründers Hermann Gmeiner.
1925 verliert der fünfjährige Hermann seine Mutter. Seine ältere Schwester Elsa übernimmt deren Aufgaben in der armen Bergbauernfamilie in Alberschwende im Vorarlberg. Der frühe Verlust der Mutter, aber auch die Erfahrung mit dieser „mütterlichen" Schwester haben Gmeiner lebenslang geprägt. Zunächst bekommt der begabte Junge ein Stipendium, um aufs Gymnasium gehen zu können. Noch vor dem Abitur wird er als Soldat eingezogen und mehrfach verwundet. Nach dem Krieg kann er sein Abitur nachholen und beginnt in Innsbruck ein Studium der Medizin. Parallel dazu engagiert sich der gläubige Katholik in der gemeindlichen Jugendarbeit. In der schwierigen Nachkriegszeit bedeutet das vor allem auch, sich mit der Not der entwurzelten, heimat- und elternlosen Kinder auseinander zu setzen. In dieser Zeit wird die soziale Lage von Kindern und Jugendlichen Gmeiners Hauptthema und Herzensanliegen. Längst ist das Medizinstudium in den Hintergrund gerückt. Gmeiner besucht Heime und Anstalten für Kinder, vertieft sich in Fragen der Jugendfürsorge. Doch sein Weg ist kein akademischer, und sein Lösungsansatz für die Probleme der Kinder ist konkret und von seinen Lebenserfahrungen geprägt. Gmeiner sagt selbst dazu: „Ich habe eines Tages dieses Schicksal der Kinder nicht mehr ertragen und glaubte, … es muss einen Weg geben, diese Kinder wieder hereinzuholen in die Gesellschaft. Dieses Kind zu einem unsrigen zu machen. Dem Kind wieder eine Mutter zu geben, Geschwister zu geben, ein Daheim, dass dieses Kind wieder einen Alltag erleben darf wie jedes andere Kind in dieser Welt."
Kinderhilfswerk Weltweit
Gmeiner glaubt nicht an staatliche Heime, sondern an die Geborgenheit einer Familie, die den Kindern ins Leben helfen kann. Für diese Idee, ein Haus für Kinder, in dem sie mit einer Ersatzmutter leben können, ist er ab Anfang 1948 unterwegs. Doch zunächst kann sich niemand für seine Idee erwärmen. Gmeiner aber ist von ihr nicht mehr abzubringen. Anfang 1949 gründet er einen Verein mit dem Ziel, in Tirol ein Dorf für Waisenkinder zu errichten. Die Abkürzung SOS, unter der Gmeiner den Verein eintragen lässt, leitet sich ab vom lateinischen „Societas Socialis", später wird das „SOS" eher englisch verstanden und mit „save our souls" übersetzt, eine Fehlinterpretation, die trotzdem den Kern trifft.
Unermüdlich Spenden sammeln, Verbündete suchen, ein Grundstück finden, Verdächtigungen und polizeiliche Durchsuchungen überstehen – die erste Zeit ist für Hermann Gmeiner eine aufreibende. Jetzt hängt er sein Medizinstudium endgültig an den Nagel und widmet sich seinem Lebenswerk. Noch 1949 kann er den Bürgermeister der Gemeinde Imst in Tirol überzeugen und erhält für seinen Verein kostenlos ein Grundstück. Glück hat er auch mit einem Bauunternehmer, der die Idee fördert und mit dem Bau des Kinderdorfhauses sofort beginnt. Weihnachten 1950 wird das erste Haus von fünf verwaisten Kindern mit ihrer Kinderdorfmutter bezogen. Hermann Gmeiners Idee hat sich durchgesetzt. Doch am Ziel ist er noch lange nicht. Ob er wohl damals geahnt hat, dass sein Betreuungsmodell weltweit überzeugen wird? Gmeiners Vi-
sion zieht immer weitere Kreise, 1955 wird das erste Kinderdorf in Deutschland errichtet, 1963 das erste außereuropäische in Korea. Heute sind die SOS-Kinderdörfer auf jedem Kontinent vertreten, als letzter folgt Australien im Jahre 1996, zehn Jahre nach dem Tode Gmeiners.
Prinzip Familie
Das Prinzip der Kinderdörfer ist so einfach wie genial. Kinder sollen in einer möglichst familienähnlichen Umgebung aufwachsen, mit Kinderdorfmüttern, -geschwistern und (heute auch manchmal) -vätern. Bewerber für die Aufgabe Kinderdorfmutter sind in der Regel alleinstehende Frauen im Alter von 25 bis 40 Jahren. Sie absolvieren zunächst eine zweijährige pädagogische Grundausbildung oder sind bereits ausgebildete Erzieherinnen. Sie sollen psychisch stabil und beziehungsfähig sein, damit sie mit viel Gefühl auf die Kinder und deren Bedürfnisse eingehen können. Denn nur so können sie ihnen Geborgenheit schenken und die bestmögliche Grundlage für das junge Leben mitgeben, wie es die Zielsetzung Gmeiners war. Viele erfolgreiche Biographien von ehemaligen Kinderdorfkindern geben ihm darin bis heute Recht.