Geflügelter Visionär im Fallwind
Vor 200 Jahren versuchte der Ulmer Schneidermeister Al-brecht Ludwig Berblinger mit einem selbst gebauten Flugapparat über die Donau zu schweben. Das Experiment misslang, der Tüftler landete im Wasser und wurde zum Gespött der Leute. Er konnte gesellschaftlich nie mehr Fuß fassen und starb 1829 völlig verarmt. Heute feiert man Berblinger zu Recht als Deutschlands ersten Flugpionier.
Der Sturz in die Donau machte aus ihm die Spottfigur des „Schneiders von Ulm“. Doch die Tatsache, dass der Ulmer Schneidermeister Albrecht Ludwig Berblinger mit seinem spektakulären Flugversuch bis heute in über 190 Veröffentlichungen verschiedenster Art Eingang gefunden hat, zeigt seine Bedeutung für die volkstümliche Erinnerungskultur, aber auch seine bis Anfang des 20. Jahrhunderts verkannte flugtechnische Pionierleistung.
Wer war nun Albrecht Ludwig Berblinger? Er kam am 24. Juni 1770 als Sohn des gleichnamigen Zeugamtsknechts Berblinger und seiner Frau Anna Dorothea zur Welt. Im Ulmer Zeughaus, wo er aufwuchs, konnte er umfangreiche Waffen- und Modellsammlungen bewundern, die dem technisch interessierten Jungen reichhaltiges Anschauungsmaterial boten. Nach dem frühen Tod des Vaters kam er mit zwei seiner Brüder in das reichsstädtische Waisenhaus und wurde wenig später, wohl gegen seinen Willen, in eine Schneiderlehre gesteckt, die er aber so glänzend absolvierte, dass er früher als üblich, mit 21 Jahren, die Meisterprüfung ablegen konnte. Wenig später gründete er mit seiner Frau Anna Scheiffelin einen eigenen Hausstand. In seiner Profession war Berblinger äußerst erfolgreich, beschäftigte bald bis zu vier Gesellen und erwarb beträchtlichen Haus- und Grundbesitz, den er aber wegen seines doch etwas unsteten Lebenswandels nicht auf Dauer halten konnte.
Neben der Schneiderei fertigte der umtriebige Mann, der nach eigenen Worten „von früher Jugend an eine besondere Neigung zur Mechanik“ hatte, auch „gut konditionierte Kinderchaisen“ und andere Vehikel. Besonderen Ruhm erwarb er sich durch die Herstellung von Beinprothesen, die er mit Hilfe eines von ihm erfundenen, sinnreichen Federmechanismus in den Gelenken beweglich machte. Die Hoffnung, mit diesem Produkt, „welches dem Unglücklichen wie mit einem Fuß zu gehen gestattet“, eine weitere Existenzgrundlage zu schaffen, erfüllte sich jedoch nicht.
Seit die Brüder Montgolfiere 1783 erfolgreich mit ihrem Heißluftballon aufgestiegen waren, rückte der jahrhundertealte Traum vom Fliegen der Realität wieder ein Stück näher. Buchstäblich Flügel verlieh ihm der Schweizer Uhrmachermeister Johann Jakob Degen, der einen Flugapparat baute, welcher aus zwei spitz zulaufenden Schwingen bestand. Mit zusätzlicher Hilfe eines Ballons erhob sich Degen in die Luft und konnte so in Gegenwart des kaiserlichen Hofes eine mehrstündige Fahrt absolvieren.
Herausforderung Fliegen
Berblinger ließ sich von Degen inspirieren zu einem eigenen Flugapparat aus Seide, Fischbein und Schnüren mit insgesamt 12 Quadratmeter Tragfläche. Damit wollte er, im Unterschied zu seinem Vorgänger, von der Höhe herabgleiten. Er verfolgte mit seinem halbstarren Apparat also ein eigenes Prinzip.
Dazu testete er seinen Hängegleiter in den Gärten am Ulmer Michelsberg. Mit Erfolg und der Erkenntnis, dass er von einem Meter Höhe abspringen musste, um zwei Meter zu gleiten.
Am 27. Mai 1811 verkündete Berblinger, dass er am 4. Juni 1811 erstmals vor Publikum fliegen würde. Mittlerweile bereitete ein Festkomitee den ersten Besuch des württembergischen Königs Friedrich in seiner Neuerwerbung Ulm an. Um ihm ein besonderes Spektakel zu bieten, wurde mit Berblinger der 30. Mai 1811 als Flugtermin vereinbart. Da dem König angesichts seiner Leibesfülle ein Marsch über das steile Gelände am Michelsberg nicht zuzumuten war, ließ Berblinger an der Adlerbastei ein sieben Meter hohes Holzgerüst bauen. Er befand sich somit insgesamt 20 Meter über der 40 Meter breiten Donau, die er zu überfliegen hoffte.
Obwohl Tausende von Zuschauern samt dem König gespannt warteten, fand der Versuch nicht statt, da ein Flügel brach. Der König reiste ab, nicht ohne dem Flugkünstler 20 Louisdor zu schenken, auch wenn die Erfindung nicht den allgemeinen Erwartungen entsprochen hatte. Das Publikum war jedoch so auf den Flug fixiert, dass sich Berblinger entschloss, den Versuch am nächsten Tag zu wiederholen. Am 31. Mai säumten wieder Tausende von Zuschauern die Ufer der Donau. Auf dem Gerüst stand ein nervös tänzelnder Berblinger, der wohl Aufwinde zu spüren hoffte. Er konnte nicht wissen, dass sich die thermischen Verhältnisse am Ufer der Donau umgekehrt zu denen am Gleithang Michelsberg verhielten. Schließlich sprang er doch und landete zum Gaudium der Zuschauer geradewegs in der Donau.
Gesellschaftlicher Absturz
Berblinger verließ fluchtartig die Stadt. Erst 1812 hören wir wieder von ihm, als er sich um die Stelle eines Regimentsschneiders bewarb. Trotz weiterer Versuche, wieder Fuß zu fassen, setzte sein wirtschaftlicher und persönlicher Niedergang ein. In einem Ratsprotokoll von 1819 wird er als „sozusagen civiliter mortuus“ bezeichnet. Bürgerlich tot, fiel er, wie in seiner Jugend, erneut der städtischen Fürsorge anheim. Am 28. Januar 1829 starb Albrecht Ludwig Berblinger völlig verarmt an „Abzehrung“ und wurde sang- und klanglos in einem Armengrab beerdigt.
Schon zu Lebzeiten wurde Berblinger voller Schadenfreude als „Schneider von Ulm“ zum Gegenstand von Spottgedichten gemacht und als Kuriosität auf Postkarten vermarktet. Eine Trendwende in seiner Einschätzung leitete 1906 dann der bürgerliche Entwicklungsroman „Der Schneider von Ulm“ ein. Der Dichteringenieur Max Eyth schilderte den technisch begabten Berblinger als „einen 200 Jahre zu früh Geborenen“. 1938 wurde dann von dem Ulmer Kulturreferenten Carl Kraus gemeinsam mit Eugen Kurz und Otto Schwarz eine Arbeitsgemeinschaft begründet, mit der aus historischer und flugtechnischer Sicht die quellenkritische, seriöse Berblingerforschung begann. Nun fand der kühne Mechaniker als Pionier des Gleitflugs weithin die gebührende Beachtung.
Späte Anerkennung
Ein besonderer Höhepunkt war der zum 175-jährigen Jubiläum ausgeschriebene Flugwettbewerb. Der 19-jährige Schüler Holger Rochelt überquerte damals mit einem Apparat, der dem Berblingers ähnelte, die Donau und landete etwas unsanft mit einer ausgekugelten Schulter auf dem bayerischen Ufer. Der Schmerz wurde ihm sicherlich durch die Siegprämie von 50.000 Mark versüßt.
Seit 1986 ist also ein Paradigmenwechsel zu verzeichnen. Nun dient Berblinger, neben seinem Platz in der städtischen Erinnerungskultur, als Symbol für technische Innovation schlechthin. Seit 1988 wird alle zwei Jahre ein Berblingerwettbewerb ausgeschrieben, bei dem Fluggeräte mit besonders energiesparenden Antrieben in Verbindung mit ihrer Wirtschaftlichkeit prämiert werden. So gingen auch in diesem Jahr, am 13. April, auf dem Flugplatz in Friedrichshafen eine Reihe interessanter Konstruktionen an den Start. Dem Sieger winkten immerhin 100.000 Euro Gewinn. Damit ist dies der höchst dotierte Wettbewerb für innovative Fluggeräte in Deutschland.
Dem rückblickenden Betrachter erscheint Albrecht Ludwig Berblinger als technisch begabter und kunstfertiger Handwerker, der die Grenzen seiner Zeit zu überschreiten vermochte, mit den Rückschlägen aber nicht zurechtkam. Ein Visionär, der einfach aus der Zeit fiel.