Geraubte Küsse
Über ein Jahr lang wurde der schmächtige Battistino von einer Amme gestillt und von den Milchgeschwistern gehätschelt – eine köstliche Geschichte.
Es ist ein Sonntag Ende September 1897, kurz vor 22 Uhr. Im Ehebett des Hauses Montini in der Via Rodolfo in Concesio erblickt Giovanni Battista das Licht der Welt, der spätere Papst Paul VI. Da seine Mutter Giuditta Alghisi zu wenig Milch hat, wird auf Anraten des Schwagers Giuseppe, eines Arztes, in der Umgebung nach einer Amme gesucht, die den Neugeborenen angemessen stillen könne. Bei der Suche hilft der Pfarrer von Nave, Don Pedercini, der sein Pfarrkind Clorinda Zanotti vorschlägt, deren Tochter Emma sieben Tage nach der Geburt gestorben war, betrauert von Vater Ponziano Peretti, einem Landpächter, und ihren vielen Geschwistern: Giovanni, geboren 1885, Pietro 1887, Giuseppe 1889, Luigi 1891, Margherita 1893 und Maria Rosa, genannt Rosina, 1895.
Familie Peretti nimmt den nur wenige Wochen alten Battistino mit offenen Armen auf, die älteren Söhne haben einen Spielkameraden, Mamma Clorinda und auch Margherita schmusen mit ihm. Womöglich hat Rosina das Gefühl, der zukünftige Papst „raube ihr Küsse und Streicheleinheiten, die eigentlich ihr zustehen“ – später wird er sie in einem zärtlichen Brief dafür um Verzeihung bitten. 13 Monate lang erhält Battistino neben der guten Milch auch die liebevolle Wärme einer Familie.
Trotz seiner körperlichen Zartheit, die er durch hellwachen Geist und guten Charakter ausgleicht, erwirbt er sich die Zuneigung und Liebe seiner robusten und ungestümen Milchbrüder. Battistino ist 14 Monate alt, lernt gerade Sprechen, meist in Dialekt, da endet die Zeit bei der Amme und er kehrt nach Brescia zurück. Wie damals üblich, begleitet ihn Clorinda und erleichtert die Eingewöhnung. Die Geschwister Peretti sind untröstlich wegen der Trennung von ihrer Mutter und ihrem Spielkameraden.
SPIELEN MACHT GESUND
Als die Milchgeschwister dann noch erfahren, dass es Battista gesundheitlich schlecht geht – es gibt Gerüchte, er liege im Sterben –, machen sich die beiden Großen zu Fuß auf den Weg nach Brescia, wo sie zuvor noch nie gewesen waren. Sie betreten das Zimmer ihres „Brüderchens“, sehen sein blasses, abgezehrtes Gesicht und brechen in Tränen aus. Battista erkennt sie, öffnet die Augen und flüstert mit einem Lächeln auf den Lippen ihre kindlichen Kosenamen „Anì“ (für Giovanni) und „Pelo“ (für Pietro), umarmt sie, küsst sie lange und fängt an, mit ihnen zu spielen – der Beginn seiner Genesung.
Für die Perettis bleibt der künftige Papst weiterhin Familienmitglied, eingeschlossen die drei folgenden Kinder, alle mit Montini-Namen: Giorgio Battista, Giuditta und Guglielmo. Er kommt oft zu Besuch, auch noch als Kardinal von Mailand. Zuerst geht er immer zu Margherita in Nave, dann zu Clorinda, die später in Nuvolera wohnt, wo man 1962 auf dem Dachboden die Wiege findet, in der auch Battista lag.
Don Battista besucht seine Amme Clorinda an ihrem Sterbebett und schreibt der Familie später: „Die Nachricht vom Tod der guten Clorinda macht mich im Herzen betrübt und betroffen. Ich bedaure, dass ich ihr nicht mehr zurückgegeben habe für all das Gute, das sie mir getan und zugedacht hat.“
Aus: La Voce del Popolo, Brescia und Agenzia S.I.R.